L e s e p r o b e

[Preußisch Eylau) – Königsberg) – Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern – Koserow, Usedom – Falkensee bei Berlin;
Dezember 1946–Weihnachten 1947]

„Dai kusotschka chleba!“
Helga Naujoks

Unsere Mutter war kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee am 9. Februar 1945 in Preußisch Eylau von einer sowjetischen Militärstreife verhaftet und – wie wir erst später erfuhren – nach Sibirien deportiert worden. Im August 1945 war unser Vater aus Gram darüber gestorben. Kurz darauf starben auch unsere Großeltern. Nach ihrem Tod lebten wir drei Geschwister allein. Als die ersten russischen Familien nach Preußisch Eylau kamen, nahmen sie von allem Besitz. Aus den Wohnungen, in denen wir Unterschlupf gefunden hatten, wurden wir vertrieben. Für uns, die letzten Deutschen hier, blieben nur noch die Ruinen.

Es herrschte Hungersnot, selbst die Russen hatten kaum etwas zu essen. Im Magazin erhielten sie ihre Rationen, sorgfältig auf einer deutschen Waage ausgewogen. Eine Schnitte wurde in vier Stückchen geteilt und oben auf die Ration gelegt. Deutsche hatten dort keinen Zutritt. Wenn die Russen herauskamen, streckten sich ihnen viele dünne Kinderarme entgegen: „Poschaluista, dai kusotschka chleba!“ (Bitte, gib mir ein Stück Brot!) Die einfachen Soldaten teilten fast immer.

Der Dezember 1946 war auch für ostpreußische Verhältnisse ungewöhnlich kalt. Unsere größte Sorge war, neben Eßbarem unbedingt etwas Brennbares auftreiben zu können. In die Umgebung von Preußisch Eylau, in die Wälder mit dichtem Unterholz, wagte sich niemand mehr. Es wäre zu gefährlich gewesen, denn überall streiften sowjetische Soldaten umher, immer auf der Suche nach „Wertvollem“ oder nach Frauen, wobei das Alter keine Rolle spielte, ein achtjähriges kleines Mädchen war genauso gefährdet wie eine achtzigjährige Großmutter.

Längst waren alle Holzzäune abgerissen und verfeuert worden. Die wenigen deutschen Einwohner, die nicht geflüchtet oder noch nicht vor Hunger gestorben waren, begannen allmählich, die Treppengeländer und Möbel zu verheizen.

Wenn wir auf unseren Streifzügen durch die Trümmer nach einem Stück Holz oder nach Fischköpfen suchten, die die sowjetischen Soldaten weggeworfen hatten, trafen wir nur noch wenige Deutsche, meist in Lumpen gehüllte, fürchterlich abgemagerte Gestalten. Bernhard, unser kleiner Bruder, sah schon genauso aus – in Vatis ehemaliger eleganter, mit braunen Husarenschnüren verzierter, dunkelgrüner Hausjoppe, die er als langen Mantel trug, erregte er Mitleid. Sein kleines Gesicht war blaß und unendlich müde. Bernhard war zehn Jahre alt, wirkte aber durch seine Magerkeit viel jünger und kleiner. Wenn er an ihren Haustüren bettelte, gaben ihm die Russen, die, bis auf wenige Ausnahmen, alles was deutsch war, haßten, fast immer ein paar Kartoffelschalen, ein winziges Stückchen Brot oder etwas Suppe in sein Töpfchen, das er immer bei sich trug.

Ich wartete mitunter den ganzen Tag, daß Bernhard zurückkäme und mir von seinen Bettelgängen etwas zu essen mitbringen würde. Ich hatte keine Chance, etwas zu bekommen, ich war ungewöhnlich groß und mit meinen 14 Jahren schon zu alt, ich erregte kein Mitleid. Ich konnte überall anklopfen, wenn die Leute mich sahen, schlugen sie wortlos die Türe wieder zu. Ich war auch viel zu sauber. Seit dem Tag, an dem mich ein sowjetischer Offizier mit vorgehaltener Pistole auf den viele Male durchwühlten, von unzähligen zerrissenen, schmutzigen Kleidungsstücken übersäten Boden geworfen und vergewaltigt hatte, wurde ich das Gefühl nicht mehr los, mich ständig waschen zu müssen.
Im Sommer reinigten wir uns mit Regenwasser, im Winter mit Schnee, davon hatten wir hier ja genug. Bernhard, Marga und ich waren die saubersten deutschen Kinder in der Stadt, und das ganz ohne Waschpulver und Seife. Unser kleines Zimmerchen und die winzige Küche unter dem schrägen Dach waren stets aufgeräumt. Wir überlebten wahrscheinlich auch deshalb, weil wir uns nie aufgaben und nicht, wie viele Ältere, nur der Vergangenheit nachtrauerten. Unsere allergrößte Hoffnung war: Eines Tages würden wir unsere Mama wiederfinden!

Immer, wenn wir uns gerade ein neues Zuhause zusammengetragen hatten und uns ein wenig heimisch fühlten, erschienen russische Soldaten mit roten Armbinden und befahlen laut: „Alles rrrauskommen! Alle Sachen stehenlassen!“
Alle Deutschen wurden dann unter Bewachung in einen anderen Stadtteil geführt. Die uns zugewiesenen Wohnungen waren jedesmal in einem schrecklichen Zustand, nur nach mehrmaligem, gründlichem Saubermachen konnten sie benutzt werden. Da wir alles zurücklassen mußten, war das, was wir am Körper trugen, unser einziger Besitz.

Die längste Zeit lebten die Deutschen in den kleinen Häuschen der Erich-Koch-Siedlung, benannt nach dem Gauleiter von Ostpreußen. Es waren hübsche, weiße Häuser mit eingezäunten kleinen Gärten. Die Zäune waren aus Draht oder Eisengitter, sie ließen sie sich leider nicht verheizen, dadurch sah es in diesem Viertel noch recht ordentlich aus.

Wenn Bernhard, winzigklein, in seiner viel zu großen Joppe und mit einer Mütze mit viel zu großem Schirm auf dem kleinen Kopf am Anfang der langen Straße auftauchte, durchströmte mich ein Glücksgefühl. Seine Beine, so dünn wie Stöckchen, steckten in unförmigen Gebilden, die ich als Ersatz für Schuhe angefertigt hatte. – Bei unseren etwas längeren Streifzügen in die Umgebung hatte ich in einer Scheune übergroße Knäuel dickes, festes Band gefunden. Die ostpreußischen Bauern hatten es zum Binden der Garben benutzt. Wir hatten davon Unmengen in unsere Behausung geschleppt, in diesen Zeiten ließ man nichts liegen. Im Sommer liefen wir zwar barfuß, aber als es kalt wurde, häkelte ich aus dem Band Schuhe, immer rundherum, in der Mitte ließ ich ein Loch zum Hineinschlüpfen. –

Voller Hoffnung starrte ich auf den vielleicht mit Brotresten oder Kartoffelschalen gefüllten Stoffbeutel, den er immer quer umgehängt hatte, oder auf das Töpfchen, das er vorsichtig vor sich hertrug, weil ein bißchen Suppe oder Kascha darin war. Als Dank las ich ihm dann bis zum Dunkelwerden die schönsten Märchen vor.

Bücher, wunderschöne Bücher, hatten wir uns von überall her aus den leerstehenden Häusern zusammengetragen. Das einzige, was die Russen liegenließen, waren Bücher. Nur, wenn irgendwo ein Hakenkreuz oder ein Hitlerbild zu sehen war, hatte bestimmt ein Soldat einen „Haufen“ draufgemacht.

Wir standen auf, wenn es draußen hell wurde und gingen schlafen, wenn die Dunkelheit anbrach. Es war zwei Tage vor Heiligabend 1946. Der strenge Frost hatte die schönsten Eisblumen an die wie ein Wunder heilgebliebenen Fensterscheiben gemalt. Die aufgehende Sonne ließ die Eispracht derart glitzern, daß unsere zwei winzigen Räume ein märchenhaftes Aussehen bekamen. Mit größter Willenskraft wühlte ich mich aus den dicken Federbetten, unserem wertvollsten Besitz, um die tägliche „Kartoffelsuppe“ zu kochen. Sie bestand aus etwa zwei Litern Wasser, zwei roh geriebenen Kartoffeln und einigen Krümelchen Salz. Das Salz war eine große Kostbarkeit, die Russen verkauften es auf dem Basar für zwei Rubel je Tasse. Es war sehr grob und schmutziggrau, aber es würzte. An diesem Morgen hatte der klirrende Frost das Wasser in dem auf dem kalten Herd stehenden Topf gefrieren lassen. Darin eingefroren war eine winzige Maus, nur der Schwanz wirkte unnatürlich lang und sah aus wie ein dünner, schwarzer Strich auf dem Eis. Ich weckte Marga und Bernhard. Wir standen da und starrten auf die tote kleine Maus. Sie tat uns furchtbar leid. Ich brachte den Topf hinaus in den Garten, stellte ihn unter eine Hecke und schippte Schnee darüber. Nie mehr hätte ich ihn benutzen können. Aber wir hatten uns ja genügend Gefäße aus leerstehenden Wohnungen besorgt. Der Schnee um „unser“ Haus herum war so zartweiß, ein Topf davon ergab unsere Wassersuppe.

Nach dem Frühstück begann das „Organisieren“. Marga schaffte das am besten. Sie war mutig genug, dazu mit ihren zwölf Jahren noch klein und dünn, um in die winzigen Kellerlöcher mit tonnenschwerem Schutt darüber zu klettern. Was für Herrlichkeiten beförderte sie manchmal an das Tageslicht: Fleisch, Wurst, Sülze, Erdbeeren, Kirschen, alles eingeweckt, und jede Menge Marmelade.

Unser Nachbar von gegenüber ging fast jeden Morgen irgendwohin, um Glut zu holen, denn Streichhölzer gab es nicht. Diesen Zeitpunkt paßten wir genau ab. Das vereiste Fenster leicht geöffnet, beobachtete ich, wenn Herr Zahlmann das Haus verließ. Marga wartete indessen schon unten an der Haustür auf mein Zeichen: „Jetzt!“

Daraufhin sprintete sie über die Straße und rein in Zahlmanns Wohnung. Die Tür ließ er merkwürdigerweise immer offen, obwohl er manchmal ziemlich lange wegblieb, wenn in den näherliegenden Häusern die Glut auch ausgegangen war. Aber meist hatte irgendein Nachbar das Feuer doch über Nacht gerettet.

In Zahlmanns Wohnung lagerten unglaubliche Schätze, denn er war ganz groß im „Organisieren“. In Regalen standen fein säuberlich Einweckgläser aus den Kellern der durch Bombenangriffe eingestürzten Häuser. Da gab es eingewecktes Pferdefleisch, Pferdeklopse, da standen Schüsseln mit Korn und Mehl und andere Herrlichkeiten.

Irgendwie ernährten wir uns. Ein Faß Flugzeugmotorenöl, sorgsam beiseite geschafft und versteckt, war unsere Rettung. Schuhcreme, Hundekuchen – alles ließ sich essen. Manchmal konnte man auf den völlig verunkrauteten Feldern noch Brennesseln oder Melde finden. Längst waren auch die Keller der zerbombten Häuser leergeräumt.

Mit Wehmut dachten wir an früher. Wenn wir, in alte Steppdecken eingehüllt, rumlagen und in Kochbüchern blätterten, spielten wir das Spiel: „Das ist meins!“

Dabei zeigten wir mit dem Finger auf eine Stelle im Buch, wo eine köstliche Torte oder ein Teller mit Wurst und Käse abgebildet waren. Wir unterhielten uns nur noch über Essen.

Im Frühjahr 1947 wurden alle elternlosen Kinder aufgegriffen und in das russische Waisenhaus „Kalthof“ nach Königsberg gebracht. Dort lebten wir zusammen mit russischen Waisenkindern. Sie waren älter als wir, schlugen uns und nannten uns „Faschisten“. Die Erzieher waren Russen in Militäruniform. Weil wir es dort nicht aushalten konnten, rissen wir aus. Irgendwie schlugen wir uns bis Preußisch Eylau durch. Hier kannten wir uns aus. Und wieder hausten wir in Ruinen. Wir ernährten uns durch Betteln, nachts stahlen wir bei den Russen das Obst von den Bäumen.

Im September entdeckte uns die Miliz, und wir wurden in das Waisenhaus zurückgebracht. Dort bekam ich bald hohes Fieber, bis ich schließlich so schwach war, daß ich nicht mehr allein gehen konnte. Ein Sanka, ein russischer Krankenwagen, kam und ich wurde auf eine Trage gelegt. Ehe die Tür hinter mir zuschlug, sah ich noch Marga mit roter Mütze und rotem Mantel, daneben den kleinen, dünnen Bernhard. Auch die anderen Kinder standen erschrocken und stumm da. Sie dachten wohl alle, ich müsse bald sterben. Man brachte mich in das einzige deutsche Diakonissen-Krankenhaus in Königsberg. Ich hatte Typhus und Ruhr. Wochenlang pflegten mich sehr alte, deutsche Ärzte und Diakonissenschwestern gesund. Die Russen belieferten das Krankenhaus mit Brot und wenigen anderen Lebensmitteln. Dadurch gelang es dem Personal, viele Deutsche zu retten.

Eine Diakonissenschwester brachte mich zurück ins Waisenhaus. Hier mußte ich erschrocken feststellen, daß keine deutschen Kinder mehr da waren. Daraufhin lief ich zu Fuß nach Preußisch Eylau, suchte dort überall nach Marga und Bernhard, fand sie aber nicht. Ich kroch in alle Keller, in alle Ruinen, aber in der ganzen Stadt war kein einziger Deutscher mehr zu finden. Völlig verzweifelt kehrte ich nach Königsberg zurück, konnte dort zum Glück das Krankenhaus, in dem ich gelegen hatte, wiederfinden. Ich flehte die Schwestern an, mich wieder aufzunehmen. Sie schickten mich nicht weg, sie teilten das Wenige, das sie hatten, mit mir.

Ende November 1947 wird das Krankenhaus „Barmherzigkeit“ geräumt. In einer langen Kolonne führen uns die Russen zum Bahnhof. Dort müssen wir uns im Freien völlig nackt ausziehen und zusehen, wie vor unseren Augen die Kleidung und unsere letzte Habe wie Dokumente, Fotos und Briefe in ein großes Feuer geworfen wird. Jahrelang hatte ich über alle Schwierigkeiten hinweg unser Familienstammbuch und einige Fotos immer in einem großen, grauen Beutel um den Hals getragen, mich nie davon getrennt. Jetzt verbrannte alles!

Wir werden für die Fahrt ins „Reich“ neu eingekleidet. Neben anderen Kleidungsstücken bekomme ich einen wattierten Mantel und ganz neue, hohe Schnürschuhe. Anschließend werden wir Kinder in großen Gruppen mit einer deutschen Frau als Begleitung zu einem zerbombten kleinen Bahnhof geführt. In dem Waggon ist ziemlich schmutziges Stroh aufgeschüttet. An einer Seite ist, wir glauben zu träumen, ein Berg Kommißbrot gestapelt, dazu „Deutsche Tafelmargarine“.

Den ganzen Tag über steht der Zug, wir können nicht hinaus, die Tür läßt sich von innen nicht öffnen. Auf dem Stroh können wir nicht liegen, es ist zu eng. Ich sitze mit angezogenen Beinen und habe Durst. Wasser gibt es nicht. In einer Ecke steht ein Eimer für die Notdurft. Viele Kinder haben Durchfall. Die Kleinkinder wimmern vor sich hin, manche können noch nicht reden. Keiner weiß, wer sie sind und wie sie heißen. Sie wurden in Ruinen oder in leeren Wohnungen gefunden, erklärt die Frau.

Wir reißen vom Brot große Stücke ab und schmieren die Margarine mit Fingern darauf, es gibt kein Messer. Der Durst wird immer schlimmer. Irgendwann bin ich eingeschlafen und wieder aufgewacht, weil meine Beine ganz steif waren. Durch den Sehschlitz kann ich erkennen, daß es Nacht ist und der Zug fährt. Dann steht er wieder oder fährt ganz langsam. Einmal regnet es und wir strecken unsere Hände aus der kleinen Öffnung und lecken sie ab.

Irgendwo, es ist ein polnischer Name, wird die Waggontür zum ersten Mal aufgemacht. Wir taumeln auf den Bahnsteig und haben nur einen Wunsch: Wasser!

Der Bahnsteig ist im Nu von Hunderten Menschen überfüllt. An der Lokomotive wird Wasser verteilt. Ein deutscher Eisenbahner reicht mir einen rostigen Kochtopf voll Wasser: „Trink, Kleine!“

Tote Kinder werden aus dem Güterwagen herausgeholt. Wir fahren weiter bis Pasewalk in Pommern, wir sind da! Rotkreuz-Schwestern und deutsche Männer in Uniform – für uns unfaßbar, weil mit Pistolentaschen an der Seite – heben uns aus den Waggons. An ihren Ärmeln lese ich „Deutsche Volkspolizei“. Viele Kinder haben den Transport nicht überlebt, ich aber lebe!

In einem Quarantänelager in Koserow an der Ostsee werden wir aufgepäppelt. Wir haben sogar ein Kino. Dort werden sowjetische Filme gezeigt, sie gefallen mir. Es sind alles lustige Filme. Wir sollen wieder lachen lernen.

Wieder ein neues Lager, Falkensee bei Berlin, Umsiedlerlager Agneshof. Hier erlebe ich den Heiligen Abend 1947. Ein großer Saal mit einer glitzernden Tanne. An langen, festlich geschmückten Tafeln warten bunte Teller auf uns. Wir aber bleiben stumm am Eingang stehen. Es ist zu schön, wir sind wie verzaubert. Wir, das sind entsetzlich magere Kinder mit Glatzen wegen der Läuse. Die Mädchen tragen alle die gleichen karierten Kleider. Viele von ihnen wurden vergewaltigt.

Hübsche Mädchen mit runden Gesichtern und schönen langen Haaren kommen uns holen, sie fassen uns an den Händen und führen uns zu unseren Plätzen. Die Mädchen und Jungen sind alle so freundlich, sie umarmen und streicheln uns immer wieder. Mir kommen sie vor wie Engel. Alle tragen blaue Hemden mit einer aufgehenden Sonne am Ärmel. Sie überreichen uns schön verpackte Geschenke. Ich bekomme ein Buch, für mich das beste Geschenk, sein Titel „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar. Darin steht eine Widmung: „Für Dich! von der FDJ-Gruppe Falkensee.“
Aber ich bin allein hier, wo sind meine Geschwister?

Aus dem Buch:
Hungern und hoffen
Jugend in Deutschland 1945-1950
48 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen,
361 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden,
Reihe Zeitgut Band 10, ISBN: 978-3-933336-06-4, Euro 12,90
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[Berlin, 1946–1949]

Elisabeth Dörffel hilft im Januar 1946 bei der DEFA-Produktion "Augenzeuge" mit. Der "Augenzeuge" war eine aktuelle Wochenschau in der Sowjetischen Besatzungszone, die sich unter anderem der Menschen annahm, die ihre Angehörigen suchten. Die Aufgabe der jungen Frau bestand in der Durchführung der Suchaktion, in der Kinder ihre Eltern suchten oder Eltern ihre Kinder.

Kinder suchen ihre Eltern (Auszug)
Elisabeth Dörffel

Einmal besuchten wir den Zoologischen Garten in Berlin. Eine lange Schlange von Kindern strömte, begleitet von Pflegeeltern oder Kinderheimpflegerinnen, durch das Haupttor. Wir hatten sie eingeladen, um hier die Außenaufnahmen für unsere Bilderreihe „Kinder suchen ihre Eltern“ zu machen. Für viele Kinder war es der erste Besuch in einem Zoo, und oft erschallte lautes Lachen zwischen den Aufnahmen. Die Kinder waren entspannter, gelöster als im Atelier. Den 13-Jährigen Werner Kolmer, der auf der Flucht aus Danzig seine Mutter und vier Geschwister verloren hatte, nahmen wir als ersten auf. Faul lümmelten im Hintergrund die Löwen im Gras herum, während Werner mit einem Schildchen mit seinem Namen vor der Brust gefilmt wurde. Hoffentlich sieht ihn seine Mutter bald irgendwo im Kino, dies war mein größter Wunsch bei jedem gefilmten Kind.

Bubi Vollandt vor der Kamera im Berliner Zoo. Links im Bild stehe ich.

(...)

Wieder einmal wurde gefilmt und Kinder im „Augenzeugen“ gezeigt. Diesmal waren auch die Brüder Reinhard und Adam Kreb dabei. Sie erzählten ihre Erlebnisse. Im Winter 1944/45 waren sie auf dem Treck und verloren erst ihren Vater und eine ältere Schwester aus den Augen, wenig später auch die Mutter und die drei Schwestern. Nach einer abenteuerlichen Flucht mit einem deutschen Soldaten kamen die beiden Jungen im Frühjahr 1945 nach Teltow. Von dort wurden sie von einem Amerikaner mit nach Berlin genommen und in einem Kinderheim abgegeben.

Ein Bekannter von Herrn Kreb sah die Kinder in der Wochenschau und meldete die freudige Nachricht den Eltern, die inzwischen in Bayern eine neue Heimat gefunden hatten. Der Vater fuhr sofort nach Berlin und kam zu mir ins Büro. Schnell wurden die Unterlagen und die Karteikarte mit Bildchen herausgesucht, und wir fuhren gemeinsam ins Kinderheim. Es war das Johannisstift in West-Berlin, wo der Vater überglücklich seine Kinder in die Arme schließen konnte. Gerade war ein Reporter von der „Picture Post“ aus London in Berlin, der dieses Wiedersehen fotografierte, und so erschienen am 7. Juni 1947 Bilder und Artikel in dieser Zeitschrift. Auch der „Observer“ aus Amerika machte am 8. November 1946 Fotos und Reportagen für seine Zeitung.


Erstes Wiedersehen. Vater Johannes Kreb mit seinen beiden Söhnen Reinhard und Adam im Berliner Johannesstift.

Vater Kreb schrieb mir damals in seinem Dankesbrief:
Es tut mir furchtbar leid, daß ich keine Zeit mehr hatte, Sie zu besuchen und Abschied zu nehmen. Ich hatte es sehr eilig, werde aber an Sie denken, solange ich lebe. Für Ihre Mühe bin ich Ihnen unendlich viel Dank schuldig, denn nun bin ich wieder ein glücklicher Mensch, seit ich alle meine Kinder bei mir habe. Meine Frau ist auch ganz anders geworden. Als wir durch das Haustor traten, stimmten wir, die Jungen und ich, das Lied an: ,In der Heimat, in der Heimat ...’ Mit Freudentränen kamen alle herausgestürmt, dann wurde das Wiedersehen gefeiert.

Dieses Wiederfinden war eines der ergreifendsten und schönsten Erlebnisse für mich.

Aus dem Buch:
Also packten wir es an
Deutschland 1945-1947
Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
384 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 21, ISBN: 978-3-86614-121-6, Euro 12,90
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