Leseproben
Ragnar Tessloff,
Als Hitler meine Geige verspielte
[Frühjahr 1932]
Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Kindern, ihr aufgeregtes
Gekreische gellte in meinen Ohren, das heillose Durcheinander und Gewühle
flackerte vor meinem Gesicht, und als der Sonderzug endlich einfuhr, wurde mir
schwarz vor Augen. Ich fühlte plötzlich meine Beine nicht mehr, wollte mich
irgendwo festhalten ... Erst im Samariterzelt des Lagers wurde ich langsam
wieder wach. Als ich die Augen öffnete, sah ich eine mollige Krankenschwester
auf der Kante meiner schmalen Liege sitzen.
»Na endlich!« sagte sie leise. »Ich
dache schon, du würdest überhaupt nicht mehr aufwachen.«
Ich blinzelte fragend um mich.
»Du bist im Samariterzelt vom
Zeltlager«, erklärte sie. »Erst im Zug bist du aus deiner Ohnmacht rausgekommen,
hast aber gleich weiter geschlafen. Das war gestern. Bis jetzt hast du
geschlafen, bis heute Nachmittag!«
Ich war immer noch müde und döste
gleich wieder ein. Nach ein paar Tagen sagte sie:
»Jetzt kannst du zu deiner Mutter,
ich bringe dich hin.«
Meine Mutter kampierte mit ihrer
Gruppe in einem großen Rundzelt. Im Samariterzelt fand ich es gemütlich, viel
lieber wäre ich bei der warmherzigen Krankenschwester geblieben.
Zweimal im Jahr fuhren wir in ein
Zeltlager, mal an den Bodensee, mal an den Rhein oder an die Ostsee, im
Frühjahr zwei Wochen, im Sommer vier. Meine Mutter war Helferin bei den
Kinderfreunden, einer Jugendorganisation der SPD.
»Hoffentlich machst du diesmal nicht
wieder so’n Theater«, sagte sie, als wir in den nächsten Ferien wieder auf dem
Bahnsteig standen und auf den Zug warteten.
»Ich mach’ doch kein Theater«,
erwiderte ich trotzig. Und wieder das Gekreische, wieder das Gewimmel, wieder
passierte es, wieder erwachte ich erst am nächsten Tag, und wieder sagte eine
Krankenschwester:
»Na endlich, ich hatte schon
befürchtet, du würdest ewig schlafen.«
Und wieder blieb ich einige Tage im
gemütlichen Samariterzelt.
Überhaupt hatte ich Angst. Einfach
Angst. Auch zu Hause. Bei Vollmond hatte ich Angst, mondsüchtig zu werden. Vorm
Schlafengehen stellte ich mir eine Waschschüssel mit Wasser vors Bett. Da würde
ich reintreten und vor lauter Schreck wieder aufwachen, falls ich versuchen
würde, im Schlaf aufs Dach zu klettern. Auch hatte ich Angst, allein aufs Klo
zu gehen. Meine jüngere Schwester musste immer mit. Vorher stellte ich einen
Korbsessel rein, dann hatte sie es gemütlicher.
»Aber das Klofenster muss geöffnet
sein«, sagte Hertha.
Trotzdem hielt sie sich ein
Taschentuch vor Mund und Nase und blieb dabei immer ernst, sie wagte nicht zu lachen,
obwohl ihr eigentlich danach zumute war. Sie lachte nämlich gern. Was haben wir
gelacht! war immer der erste Satz, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählte.
Aber ich wollte nicht, dass sie über meine Ängste lachte, schon gar nicht über
meine Angst vorm Alleinsein auf dem Klo. Das wusste sie.
...
Manchmal bekamen wir Besuch von
Hans, meinem Halbcousin aus Bremerhaven, dem Sohn einer Halbschwester meiner
Mutter. Die Halbschwester war geheimnisumwittert, im Ersten Weltkrieg sei sie
deutsche Spionin gewesen und später gewaltsam zu Tode gekommen. Sie hinterließ
zwei Söhne von zwei Vätern, die es aber eigenartigerweise nicht gab. Das war
der Grund, warum Hans und Günter bei ihren Großeltern lebten. Opa Krebs war der
Vater der legendären Spionin und dritter Ehemann von Oma Krebs.
Zweimal im Jahr waren wir zu Besuch
in Bremerhaven. Opa Krebs war recht dick und saß immer im Lehnstuhl am Kopfende
vom Küchentisch. Stets hatte er seinen Spazierstock in der Hand, mit dem er herumfuchtelte,
wenn er die Familie kommandierte. Und er kommandierte fortwährend. Über einer
Armlehne hing ein Lederriemen. Damit schlug er nach seinem schwarzen Kater,
wenn der ihm zu nahe kam. Hans und Günter waren auch manchmal dran, wenn sie
vermeintlich nicht pariert hatten. Dann mussten sie sich vor ihm bücken. Opa
Krebs blieb beim Schlagen sitzen. Hans und Günter lachten nur über die
Züchtigung, als geschehe die nur zum Spaß.
»Opa fantasiert ja nur«, sagten sie
jedes Mal zu mir, »tut überhaupt nicht weh.«
Opa Krebs stand nur auf, wenn er zum
Klo musste oder zu Bett ging. Nie war er freundlich, nie hat er gelacht. Oft
fluchte er auf Hans, weil der mit seiner Oma schlief, wie er sich einbildete.
In der Wohnung stank es immer nach
Kater, als hätte er in jede Ecke gepinkelt. Opa Krebs starb lange vor meiner
Großmutter.
Wenn Hans zu Besuch kam, musste ich
mit ihm in einem Bett schlafen, neben dem Bett meines Vaters. Meine Mutter
verzog sich ins Kinderzimmer. Hans war älter als ich, schon um die vierzehn.
Ich fand es angenehm, mit ihm zusammen zu schlafen. Einmal ließ er gegen Morgen
seine Hand auf meinen Bauch rutschen, tastete langsam tiefer und ließ sie dort
liegen. Ich stieß sie nicht weg, ich wollte, dass sie dort liegen blieb. Auch
meine Hand tastete sich vor, bis ich etwas Weiches fühlte, etwas Warmes, unsere
Hände bewegten sich, tasteten sich hierhin und dahin, streichelten, sie sollten
nie aufhören, sollten immer streicheln, ich wollte nur noch streicheln, wollte
immer, immer ...
Alle Augenblicke kam meine Mutter
ins Zimmer. Dann verharrten wir bewegungslos unter der Decke, zugedeckt bis zum
Hals.
»Das Essen steht gleich auf dem
Tisch«, schimpfte sie, »los, raus aus den Federn!«
Nach dem Aufstehen mochten wir uns
erst gar nicht ansehen, ich fühlte mich wie zurückgekehrt aus einer anderen
Welt. Im Laufe des Tages taten wir dann so, als sei nichts geschehen. Wenn wir
zu Bett gingen, sehnte ich mich schon nach dem nächsten Morgen, sagte aber
nichts und auch Hans sagte nichts. Wenn es doch bloß erst Morgen wäre! Beim
Aufwachen geschah es dann wieder, wie von allein, ohne ein Wort, wie im Schlaf.
Hans kam öfter zu Besuch.
[Sommer 1935]
Ich hatte einen schweren Stand in
der Klasse. Nicht nur, weil ich als Neuer dazu gekommen war, sondern auch, weil
ich als Einziger noch nicht in der HJ war. Meine Klassenkameraden wollten
wissen, warum nicht. Ich durfte aber den wirklichen Grund nicht sagen, durfte
nicht sagen, was ich dachte. Ich könnte denunziert werden, und es würde auf
meine Eltern zurückfallen. Also schwieg ich. Was sollte ich als triftigen Grund
anführen? Ich war kein Jude, das war im Rassenkundeunterricht durch genaue
Vermessung meines Schädels einwandfrei erwiesen. Ich durfte mich zum »arischen
Typ mit dinarischem Einschlag« zählen. Also, was war der Grund? Man versuchte, mich zu provozieren, ich sei
ein Feigling, ein Schwächling, ein schwaches Glied unserer Gesellschaft. Was
wollte ich überhaupt in der Schule. Ich sollte doch in meinem Dorf versauern!
Am schlimmsten hänselte mich ein
Junge, der öfter in HJ-Uniform mit der sogenannten Führerkordel kam. Er war
mächtig stolz, schon ein HJ-Führer zu sein, wurde bewundert und war der Held
der Klasse. Er genoss seine Rolle. Eines Tages wurde er nach der Pause kurz vor
Beginn der Deutschstunde ohne Anlass handgreiflich. Er zog und zupfte mich am
Hemd, zog mich an den Haaren und blökte singend:
»Krauses Haar, krauser Sinn!«
Immer wieder: »Krauses Haar, krauser
Sinn!«
Alles feixte. Plötzlich fühlte ich
eine Leere im Kopf, ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, nur noch ihn. Er
erschrak vor meinem Blick und lief weg. Ich
sah, wie er über die Schulbänke sprang, sprang hinterher, wollte nur
noch schlagen, zuschlagen, kriegte ihn zu fassen, schlug auf ihn ein, immer
wieder, ganz gleich wohin, nur schlagen, schlagen. Er stolperte, fiel auf den
Boden, ich warf mich auf ihn, er versuchte zu entkommen, ich packte ihn,
kriegte ihn auf den Rücken und fasste seine Handgelenke. Ich fühlte plötzlich
ungeahnte Kräfte, beugte seine Arme nach hinten, kniete mich auf die Muskeln
seiner Oberarme und rutschte darauf hin und her. Das musste wehtun, das sollte
wehtun.
Da erschien unser Deutschlehrer in
der Tür, sah den Tumult und blieb einen Augenblick regungslos stehen. Jeder
stürmte schnell auf seinen Platz. Der Lehrer vergaß seinen »Deutschen Gruß« und
sagte nur:
»Los, ihr beiden, auf eure Plätze!!«
Wir ließen voneinander ab. Die
Klasse blieb mucksmäuschenstill.
Ich wusste nicht mehr, was
eigentlich geschehen war, ich nahm kaum meine Umgebung wahr und musste immer
nur an die nächste Pause denken. Sicherlich würde der HJ-Führer eine Gruppe
zusammenrotten und über mich herfallen. Ich hatte Angst.
Die Pause kam. Ich nahm allen Mut
zusammen und tat, als ginge ich unbekümmert auf den Schulhof. Nichts geschah.
Alle waren plötzlich freundlich. Wo war der HJ-Führer? Ich konnte ihn auf dem
Schulhof nicht entdecken, war er lieber im Klassenraum geblieben? Die Klasse betrachtete
mich von nun an nicht mehr als Außenseiter, und auch der HJ-Führer war anders,
ich spürte deutlich, wie er meine Freundschaft suchte – obwohl ich auch weiterhin
nicht in der HJ war.
[Herbst 1936]
Froh gelaunt kam ich Zuhause an und
wollte in der Küche zu Mittag essen. Keiner da, weder meine Mutter noch Alice!
Der Tisch nicht gedeckt. Etwas ist passiert, dachte ich sofort, ging ins
Wohnzimmer und traf auf ein völliges Durcheinander. Beide Bücherschränke waren
ausgeräumt, die Bücher überall verstreut, der Schreibtisch geleert, Papiere,
Schallplatten, alles durcheinander. Erschrocken stürmte ich hinunter in die Backstube.
Dort standen Alice, Eugen und Walter. Sie wichen meinem Blick aus. Peinliches
Schweigen. Endlich unterbrach Walter Damm die bedrückte Stimmung:
»Männer in SA-Uniform haben deinen
Vater abgeholt und die Wohnung durchsucht! Einen Haufen Bücher haben sie
mitgenommen. Alles, was einen roten Einband hat. Und alle möglichen Papiere.«
»Und wo ist meine Mutter?«
»Wohl nach Bergedorf zur Gestapo,
mehr wissen wir auch nicht.«
»Weiß Oma das schon?« fragte ich
ängstlich.
»Noch nicht.«
»Dann geh ich mal zu ihr.«
Wie betäubt ging ich ins alte Haus.
Oma saß in ihrem Lehnstuhl, beide Hände auf ihrem Spazierstock, den sie
zwischen den Knien hielt, und guckte auf den Deich. Als ich reinkam, schien sie
sich zu freuen, sagte aber nur:
»Na, mein Jung.«
Wie sollte ich es ihr beibringen?
Was sollte ich für ein Gesicht machen? Lächeln, ernst, traurig, bekümmert? Ich
setzte mich auf einen der roten Plüschstühle und kriegte kein Wort raus.
»Ist was?« fragte Oma.
Offensichtlich spürte sie, dass ich herumdruckste. Dann unvermittelt und fast
zu laut rief ich in ihre tauben Ohren:
»Sie haben Papa verhaftet,
mitgenommen!«
Oma sagte kein Wort, sie sah mich
nur erschrocken an. Schweigend blieb ich noch eine Weile sitzen. Oma ist schon
82! musste ich plötzlich denken. Ob sie ihren Sohn, den sie ganz besonders
liebte, jemals wiedersehen würde? Fast jeden Tag kam sie zu meiner
Geigenstunde, immer zur gleichen Zeit.
»Heute keine Musik, Oma, ich muss
erstmal das Wohnzimmer wieder in Ordnung bringen. Komm nachher noch mal
wieder.«
Oma blieb regungslos und sagte kein
Wort. Stumm starrte sie vor sich hin. Meine Mutter kam ziemlich spät zurück von
der Gestapo. Aber dort wollte man ihr nichts sagen, nur so viel, dass sie am
nächsten Tag Waschzeug, Unterwäsche und zwei Oberhemden bei der Gestapo in
Hamburg abliefern sollte. Das war im Gebäude der Stadthausbrücke. Womöglich
würde sie dort Näheres hören. So bald würden wir meinen Vater wohl nicht wieder
sehen, meinte sie. Niedergedrückt räumten wir weiter auf.
Der Alltag ging weiter. Wie immer
weckte mich Onkel Wilhelm gegen fünf Uhr, wie immer kamen morgens die
Brotfahrer, wie immer radelte ich die 16 Kilometer zur Schule, wie immer
spaltete ich Stämme für das Feuer im Backofen, wie immer harkte ich sonnabends
den Garten, wie immer machte ich die Plumpsklos sauber, wie immer mistete ich
den Stall aus, wie immer – ja, wie immer, wie bisher.
Fast jeden Abend sah ich kurz bei
Oma rein. Sie lag nur noch im Bett und starrte an die Decke. Dann und wann saß
sie halb aufrecht im Bett und wollte auf den Deich sehen. Fußgänger oder
Radfahrer waren ihre Abwechslung. Proper sah sie aus in ihrem weißen Nachthemd,
das jeden zweiten Tag gewechselt wurde. Wenn sie aufrecht saß, wollte sie ihre
Strickjacke über die Schultern legen, wobei man ihr helfen musste. Der alte
Kachelofen verbreitete gemütliche Wärme, in ihrem Zimmer war ein guter Geruch.
Sie mochte selbst gern gute Gerüche. Oft steckte sie einen Riechstift in die
Nase und atmete tief ein, dabei hielt sie das eine Nasenloch zu, steckte dann
den Poho-Stift, der nach Minze roch, ins andere Nasenloch und zog wieder tief
ein, mehrere Male hintereinander, immer abwechselnd. Immer wenn ich in ihr
Zimmer kam, schnupperte ich und dachte: Alice pflegt sie gut.
Jedes Mal fragte sie ungeduldig:
»Was von Papa gehört?«
»Nein, nichts weiter, Oma.«
Aber eines Tages konnte ich ihr
berichten, er sei nach Hildesheim verlegt worden. Vielleicht würde dort der Prozess
stattfinden. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Unseren dortigen Brotfahrer
habe man mit Broten, in denen Flugblätter eingebacken waren, erwischt. Den brutalen
Verhörmethoden der Gestapo hätte er wohl nicht standgehalten und Papa verraten.
Manchmal erkundigte sie sich auch nach meinem Geigenspiel, ob ich denn immer
noch fleißig übe. Oma baute von Tag zu Tag mehr ab. Bald wollte sie nichts mehr
essen, ihre »Hamburger Zähne« trug sie nicht mehr, ihre Mundpartie war eingefallen,
sie dämmerte nur noch vor sich hin. Eines Tages im Herbst wachte sie nicht mehr
auf. Auf dem Allermöher Friedhof wurde sie beerdigt, zwischen August Heinrich
Wilhelm, ihrem Angetrauten, und Willem Heins, der Liebe ihres Leben
Es begann die Zeit der Herbststürme.
Bei Sturmflut stand man voller Angst auf dem Deich. Hoffentlich würde die Flut
nicht über den Deich treten und das Hinterland überschwemmen. Hoffentlich würde
der Deich standhalten!
Eines Vormittags hatte meine Mutter
wieder Besuch vom Dorfpolizisten. Beim Mittagessen berichtete sie, dass im März
nächsten Jahres die Schulräte entscheiden würden, wer zur Abiturprüfung
zugelassen wird. An meinen Leistungen würde es ja nicht liegen, aber da gäbe es
ein Problem mit der HJ: Ohne Mitgliedschaft kein Abitur!
Doch ich wollte Abitur machen!
Nachdem ich es nun so weit geschafft hatte! Mit einem Abitur hatte ich viel
mehr Chancen, ich wusste zwar noch nicht, was ich später werden wollte, aber
ohne Abitur wäre doch alles noch schwieriger.
Dafür musste ich die Mitgliedschaft
bei der HJ beantragen. Der HJ-Führer wusste zwar über uns Bescheid, war aber
trotzdem einverstanden.
[Frühjahr 1937]
Wir schrieben schon März 1937. Mein Vater war immer noch in Untersuchungshaft.
Bis jetzt konnte meine Mutter die Bäckerei einigermaßen aufrecht erhalten, allerdings
erheblich geschrumpft, der Vertrieb beschränkte sich auf die Dörfer der
Marschlande. Wir hatten keine Brotfahrer mehr, der eine Backofen war schon seit
einiger Zeit stillgelegt, der andere reichte aus für den kleineren Bedarf.
Schließlich stellte der Mehllieferant seine Lieferungen ein. Das war das Ende
der Bäckerei.
Tante Anne schien froh zu sein, dass
nun endlich wieder Ruhe eingekehrt war, wie sie es ausdrückte. Zu meiner Mutter
war sie gehässig. Onkel Wilhelm erhielt schnell wieder Arbeit bei den Pumpen
auf dem Ölfeld. Und ich brauchte nicht mehr in aller Frühe aufzustehen.
Meistens wartete Alice mit dem
Mittagessen auf mich.
»Wo ist Mama eigentlich immer in
letzter Zeit?« wollte ich wissen.
»Sich vorstellen in Hamburg.«
»Wieso vorstellen?«
»Ja, sie sucht Arbeit als
Buchhalterin und hat sich beworben.«
Es war schon Mai, draußen war alles
wieder grün, als meine Mutter mir eines Nachmittags sagte:
»Morgen musst du von der Schule nach
Hamburg fahren. Wir ziehen um nach Hamburg-Hamm, in den Wichernsweg. Auf diesem
Stadtplan findest du den Weg. Gleich werden die Umzugskartons gebracht. Du
musst deine Sachen zusammen suchen und in die Kartons packen.«
So von heut auf morgen! dachte ich,
sagte aber nichts.
Am Abend ging ich ins alte Haus und
wollte mich von Tante Anne und Onkel Wilhelm verabschieden. Sie saßen am Tisch
in Omas Zimmer, das jetzt wieder ihr Wohnzimmer war, und lasen in der
Bergedorfer Zeitung. Tante Anne guckte kaum auf, als ich ihr die Hand reichte,
aber Onkel Wilhelm stand auf, lächelte und sagte:
»Na – dann halt dich fuchtig!«
Als ich am nächsten Morgen mein
Fahrrad über den Zugang zum Deich schob, stand Alice da.
»Ich wollte dir noch Auf Wiedersehen
sagen«, druckste sie, »ja, dann mach’s gut.« Sie reichte mir die Hand. Die
wollte ich gern halten.
Plötzlich hatte ich einen Kloß im
Hals, sagte nur »Ja« und fuhr los. Vor mir die Dove Elbe. An der ersten Biegung
sah ich mich noch einmal um. Alice hob den Arm und winkte, ich guckte wieder
nach vorn und ließ die Biegung hinter mir.
Ich fühlte, dass ich Allermöhe jetzt
endgültig hinter mir ließ, meinen Fluss, meinen schier grenzenlosen Lebensraum.
Ich war auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt.
[Herbst 1938]
Etwa seit einem Jahr waren wir nun in unserer Hamburger
Behausung. »Wohnung« mochte ich sie nicht nennen. Meine Mutter arbeitete als
Buchhalterin in einem Tapetengeschäft in der Nähe des Hauptbahnhofes. Wir sahen
uns wenig. Hertha machte ihr Pflichtjahr, das ebenso Pflicht war wie der
zweijährige Wehrdienst für Männer. Sie arbeitete als Kindermädchen im Haushalt
einer Familie mit zwei Kleinkindern. Die Hausfrau behandelte sie von oben
herab, Hertha fühlte sich wie eine Dienstmagd und war recht unglücklich. Im
zweiten Halbjahr sollte sie in einem Altersheim arbeiten, wo sie auch wohnen
konnte. Auch Hertha sah ich kaum.
Eines Tages kam meine Mutter schon
am frühen Nachmittag nach Hause.
»Nanu, hat man dich entlassen?«
fragte ich erschrocken.
»Noch schlimmer!« sagte sie
bedrückt. »Ich komme gerade vom Gericht. Deinen Vater hat man in Handschellen
reingeführt. Wie einen Schwerverbrecher! An jeder Seite ein Polizist. Drei Jahre
Zuchthaus mit Ehrverlust hat er bekommen. Ein halbes Jahr der Untersuchungshaft
wird ihm angerechnet. Vor Ende 1940 kommt er nicht raus. Wenn überhaupt ...«
»Wieso, wenn überhaupt? Er hat doch
dann die Strafe abgesessen. Dann müsste er doch rauskommen!«
»Ja, müsste ... aber die Gestapo
könnte ihn anschließend ins KZ stecken. Nach seiner Haftzeit wird er automatisch
der Gestapo überstellt. Die entscheidet dann.«
Meine Mutter weinte.
»Man ist machtlos«, schluchzte sie,
»völlig machtlos ihrer Willkür ausgesetzt ... «
»Er wird schon rauskommen.«
Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
Was sollte ich auch sagen?
...
Bei der HJ hatte ich mich
umgemeldet.
»Wieso kommst du erst jetzt?« fragte
der Fähnleinführer.
Das war schon über einen Monat nach
unserem Umzug. Am liebsten hätte ich mich überhaupt nicht umgemeldet, wäre
lieber untergetaucht, hatte aber Angst vor Unannehmlichkeiten, wenn ich es
nicht tat. Die Verspätung entschuldigte ich mit Belastungen in der Schule und
den vielen Hausarbeiten vor dem Abitur, dazu käme der lange Schulweg, jeden Tag
über 30 Kilometer mit dem Fahrrad, und dann noch die vielen Proben im Schülerorchester.
Beim Wort »Schülerorchester« horchte der Fähnleinführer auf. Welches Instrument
ich denn spiele?
»Geige und Querflöte.«
»Querflöte!« rief er. »Da kommst du
gerade recht!«
Meine verspätete Ummeldung war
plötzlich kein Thema mehr. Er befahl:
»Melde dich sofort beim Trommler-
und Pfeiferkorps in der Diagonalstraße. Da werden dringend Spieler gesucht.
Los, los, mach schon!«
Ich brauchte nur eine Querstraße
weiter. Auf einer Piccoloflöte musste ich vorspielen. Ich dachte an mein
Flötenspiel vor Oma in Allermöhe und begann mit dem »Jägerchor« aus dem
»Freischütz« Schon nach wenigen Takten
durfte ich aufhören. Der Führer dieser Einheit sagte forsch:
»Gut, melde dich übermorgen hier in
diesem Lokal!«
So kam ich ins Musikkorps der HJ und
avancierte schon bald zum Tambourmajor. Bei Aufmarschübungen, die gewöhnlich
Sonntagvormittags angesetzt waren, musste ich mit dem Tambourstab vorweg marschieren.
Ich genoss damit eine gewisse Vorrangstellung, gehörte auch ohne Dienstgrad zur
gehobenen Schicht und hatte es etwas lockerer als ein gewöhnlicher HJler. Mein
Musikkorps war vierzehn Mann stark, davon fünf Trommler und sieben Pfeifer. Wir
brauchten nicht mehr zu exerzieren, hatten auch keine Kameradschaftsabende,
aber zweimal die Woche Probeabend.
Aus einem kleinen Lehrbüchlein
lernte ich die verschiedenen Bewegungen mit dem Tambourstab. Wenn ich den Stab
in einer Schleife zügig nach oben führte, hieß es: Achtung! Ich hielt dann den
Stab kurz oben, die Pfeifer setzten an, dann zog ich den Stab in einer Schleifenbewegung
möglichst zackig runter. Das war der Auftakt – jedenfalls so ungefähr. Beim
ersten Probemarschieren konnten wir schon vier Märsche, die wir immer wiederholten,
bis es hieß: Abtreten!
Mit der Zeit kamen weitere Trommler
und Pfeifer hinzu. Manchmal dachte ich, dass es eigentlich ganz schön sei. Es
machte mir Spaß, und ich vergaß schon manches Mal, dass ich in der HJ war.
...
Eines Tages wurde ich zu Dr. Thode
gerufen. Wie ich denn jetzt zum Nationalsozialismus stünde, wollte er wissen.
»Eigentlich nicht gerade negativ,
ich bin ja auch in der HJ.«
Ich versuchte auszuweichen und
erklärte, es gäbe manches, was ich unterschreiben könnte, aber auch anderes, wo
ich meine Bedenken hätte.
Dr. Thode sagte nur:
»Ja, – und?«
Ich antwortete, er kenne ja die
Situation mit meinem Vater. Dass er als Politischer im Zuchthaus sitzt, mache
mir schon zu schaffen. Damit müsse ich fertig werden. Da hätte ich gewisse
Schwierigkeiten. Das sei nicht so einfach.
Ich wusste nicht, was ich sonst
sagen sollte, mir war aber auch klar, dass ich nicht so tun dürfte, als wäre
ich von den Nazis begeistert. Das würde er mir nicht abnehmen. Es herrschte
langes, quälendes Schweigen. Ich wollte seinem Blick nicht ausweichen und fügte
leise hinzu:
»Ich fühle mich immer hin- und
hergerissen und habe hier und da meine Vorbehalte. Trotzdem, im Großen und
Ganzen finde ich das schon in Ordnung.«
Meine Stimme versagte mir fast, als
ich wiederholte:
»Ich brauche einfach noch etwas
Zeit.«
Damit glaubte ich, mich aus der
Affäre gezogen zu haben. Dr. Thode sagte nichts, sein Blick blieb forschend an
mir haften, und ich sagte auch nichts mehr. Eigentlich besteht unser Gespräch
nur aus Schweigen, ging mir durch den Kopf. Ich müsste jetzt etwas sagen. Aber
was? Dann, nach weiteren quälenden Minuten, fügte ich stockend hinzu:
»Ich weiß nicht, ich bin mir einfach
nicht im Klaren ...«
Dr. Thode sagte immer noch nichts.
Ich bemühte mich, seinem Blick stand zu
halten. Auf keinen Fall ausweichen, dachte ich, dann endlich sagte er:
»Ich habe dich verstanden,
Tessloff.«
Nun konnte ich meinen Blick lösen.
Auf sonderbare Weise verlegen, war ich plötzlich wie erlöst, aber fühlte, dass
ich keine Freude zeigen durfte. Doch wie freute ich mich! Von draußen hörte ich
das Schrillen der Klingel. Die große Pause war zu Ende. Dr. Thode stand auf und
verabschiedete mich freundlich. Einen kurzen Moment starrte ich auf das
Parteiabzeichen an seinem Revers. Schnell wandte ich mich ab und ging zurück in
meine Klasse. Ich konnte es kaum fassen: Er ist kein Nazi! Obgleich er doch das
Parteiabzeichen trägt. Am liebsten hätte ich es laut gesagt: Er ist kein Nazi!
Jeder sollte es hören: Er ist kein Nazi!
»Was wollte denn der Pauker?«
fragten meine Klassenkameraden.
»Nichts Besonderes«, murmelte ich, »nur wegen Fahrgeldzuschuss. Meine Mutter hat einen Antrag gestellt. Er wollte wissen, wie ich in den Wintermonaten zur Schule käme und wie es mit dem Fahrrad ginge. Weiter nichts.«
[Herbst 1939]
»War’s denn schön?!« Dann legte sie
ihren Kopf wieder an meine Brust und fügte hinzu:
»Das war französisch, so nennt man
das.«
Ich brachte kein Wort heraus, wollte
auch nicht sprechen. Ich nickte nur und dachte: Ja, wirklich ...!
Stina sagte dann fast beiläufig, als
würde sie vom Wetter sprechen:
»Du als Erster, ich meine, du voran
ins Schlafzimmer. Ich puste derweil die Kerzen aus. Komm gleich nach. Aber
knips kein Licht an, denk an die Verdunkelung, und zieh dich aus! Ich zeig dir
was.«
Von draußen fiel schwaches Licht ins
Schlafzimmer. Unschlüssig blieb ich vorm Bett stehen. Da kam auch schon Stina,
sie schmiegte sich an mich und begann, meinen Hosenbund aufzuknöpfen.
»Ich sagte dir doch: Ausziehen,
flüsterte sie«, und dann ging alles sehr schnell. Wie warm, wie weich, wie
wohlig: Die ganze Welt war nur hier, alles andere versank, nichts war mehr da,
nur unsere nackten Körper, die sich suchten. Und Stina half, dass sie sich
fanden.
Es war schon gegen Morgen, als wir
müde wurden.
»Um acht muss ich bei Merkel sein,
also spätestens um halb acht los.«
»Ich pass schon auf, hab den Wecker
gestellt.«
Ganz dicht aneinander geschmiegt,
überwältigte uns der Schlaf.
[Sommer 1941]
Von der Küche holte ich mir
Kommissbrot, Margarine, Marmelade und Muckefuck. Allein am großen Tisch,
schluckte ich mühsam die Bissen hinunter. Nochmal drei Monate. Die anderen
waren wohl schon in Le Havre, kamen womöglich schon heute auf die Schiffe. Was
nun? Vielleicht wusste jemand auf der Schreibstube, wie es weiterging, was ich
so lange machen sollte, und überhaupt ...
Ich schlenderte durchs Lager.
Gähnende Leere. Kein Kommandogeschrei. Absolute Stille. Auf der Schreibstube
hämmerte ein Gefreiter auf der Schreibmaschine.
»Bin im Augenblick ganz allein«,
begrüßte er mich, »alles ausgeflogen, der Spieß hat auch vierzehn Tage Urlaub,
bis zum nächsten Schub, der kommt wohl in zwei bis drei Wochen, hast du schon
deinen Wehrsold, musst mal nach Leopoldsburg«, er redete ohne Pause, »ein
Café neben dem anderen, keine Cafés wie bei uns, alles Kneipen, alles
Kaschemmen, und Weiber, die stehen in der Tür, sowie sie dich sehen, versuchen
sie, dich reinzulocken, pass bloß auf, woll’n dich nur ausnehmen, hol man erst
mal deine Pinke, doch, doch, da ist bestimmt jemand auf der Zahlmeisterei,
doch, doch, verlass dich drauf ...«
»Ja, und dann?«
»Weiß ich doch nicht!« Er setzte
sich wieder an seine Schreibmaschine und hämmerte weiter.
Auf der Zahlmeisterei war
tatsächlich ein Gefreiter. Er kramte mein Soldbuch hervor, holte Geld aus dem
Panzerschrank und zählte mir den Sold in belgischen Francs hin. Er machte die
Eintragung im Soldbuch und legte es zu dem Geld.
»Musst du immer dabei haben, wenn du
an Land gehst«, sagte er. »’Ne Menge Geld«, fügte er noch neidisch hinzu.
»Und was soll ich nun damit?«
»Kannst es ja in den Cafés in
Leopoldsburg versaufen, da ist was los.«
»Bin doch noch nicht vereidigt, ich
darf nicht an Land, darf nicht raus aus dem Lager«, sagte ich.
»Ach, kein Mensch fragt danach.
Außerdem ist das Lager ja nicht eingezäunt!«
»Ich weiß ja nicht ...« wollte ich
einwenden, aber er unterbrach mich:
»Nur unser Kompaniechef ist noch
hier, aber der verbringt die Nächte im Offizierskasino. Säuft mit Offizieren
vom Stab und was weiß ich mit welchen hohen Tieren. Säuft sich die Hucke voll.
Verschläft dann den ganzen Tag und kommt kaum raus aus seiner Villa. Der
kümmert sich sowieso nicht darum. Ich an deiner Stelle ... aber mach, was du
willst.«
Unschlüssig schlenderte ich zurück.
Soll ich oder soll ich nicht? Erst mal Essen fassen, dachte ich.
In der Küche kochte man zur Zeit nur
für ein paar Leute vom Stab, nur kleine Portionen. Der Koch hatte sogar Zeit.
»Was machst du denn hier?« wollte er
wissen.
»Bin durchgefallen«, bekannte ich,
»muss die Ausbildung nochmal machen.«
»Junge, Junge! Schöne Scheiße«,
meinte er mitfühlend. Sein Mitgefühl tat mir gut und ich sagte:
»Das kann man wohl laut sagen. Was
gibt’s denn heute?«
»Graupen mit Pflaumen.« Er gab mir
einen extra Schlag und füllte mein Kochgeschirr bis zum Rand. »Damit du
wenigstens satt wirst, bis nachher dann, morgen gibt’s übrigens rheinischen
Sauerbraten und Kartoffelklöße! Kannst dich schon freuen.« Damit wollte er mich
wohl aufheitern.
»Prima!« sagte ich.
Die Graupen mit Pflaumen mochte ich gern.
Schön süß! Ich aß alles auf und legte mich auf die Koje. Wieder überlegte ich,
ob ich es einfach wagen könnte. Ich war eingenickt und wachte mit dem
Entschluss auf: Ich tu es einfach!
Das Koppel müsste ich umlegen, das
war klar, aber müsste ich auch das Seitengewehr dran haben? Außerdem, wenn ja,
müsste ich es dann links oder rechts tragen? Unsicher hakte ich das
Koppelschloss ein, legte das Seitengewehr zurück in den Spind und ging los.
Wie der Gefreite auf den
Schreibstube gesagt hatte: Es gab eine Kneipe neben der anderen. Aus den
meisten dröhnte Musik. Immer kamen Mädchen an die Tür und jede sagte »Komm
rein!« Aber ich trödelte weiter. Die Hauptstraße hieß Konig Straat.
Leopoldsburg war wie ausgestorben.
Es waren kaum Menschen in den Straßen. Ödes Kaff, dachte ich, als ich mir
gelangweilt die Auslage eines Trödelladens ansah. In der Ecke hing eine Geige.
Was das wohl für eine war, wieviel die wohl kosten würde?
Als ich die Tür öffnete, erklang der
Dreiklang eines Glockenspiels. Eine ganze Weile wartete ich an der Theke, bis
der Ladenbesitzer schließlich aus den Hinterräumen kam.
»Die Geige«, sagte ich, »kann ich
sie mal sehen?«
Er holte sie aus dem Schaufenster.
Ich hielt sie in der Hand wie ein Stück aus einer anderen Welt, zupfte an den
Saiten, stimmte sie grob und fragte:
»Darf ich sie mal streichen?«
Er stellte den Geigenkasten auf die
Theke, öffnete ihn und gab mir den Bogen. Ich strich über die Saiten, stimmte
nach und machte paar Griffe.
»Hm – gar nicht so schlecht, was
soll die denn kosten?«
Er nannte eine Summe.
»Soviel hab’ ich nicht.« Ich legte
die Geige zurück in den Kasten. Der Ladenbesitzer druckste in fast akzentfreiem
Deutsch, wie viel ich denn hätte? Ich nannte einen Betrag, der um zweihundert
Francs unter dem lag, was ich gerade als Wehrsold bekommen hatte.
Er schloss den Geigenkasten und
sagte:
»Sogar Kolophonium ist dabei, und
ein Satz Saiten extra, und eine Stimmgabel, und ein hübsches Tuch für die
Geige, schön weich.«
Er nahm die Geige und ging zum
Schaufenster, blieb aber plötzlich stehen und drehte sich zu mir:
»Also, wenn Sie noch hundert Francs
drauflegen ...«
Das würde ich. Als ich ihm das Geld
abzählte, konnte er sehen, dass ich gerade noch hundert Francs übrig hatte.
[Frühjahr 1945]
Mit den Instrumenten bepackt, wollten
wir gerade das Hotelgebiet verlassen, als ein Bootsmann hinter uns herrief. Er
hatte einen Vogelkäfig in der Hand und drang auf uns ein, er wollte seinen
Hansi in Sicherheit bringen, ob wir ihn nicht mit nach Triest nehmen könnten?!
Natürlich konnten oder durften wir
nicht ablehnen. Neben unserem Karabiner, dem Seitengewehr und der Gasmaske,
neben Geige, Gitarre und Akkordeon mussten wir nun auch noch einen Vogelkäfig
mit einem zwitschernden Kanarienvogel tragen.
Manch einer musste unwillkürlich grinsen, wenn er unser
Häuflein sah. Schwierig und peinlich wurde es, wenn ein Vorgesetzter
vorbeiging, den man grüßen musste. In einer Hand das Instrument, in der anderen
das Vogelbauer und keine Hand frei für den militärischen Gruß. Den Vogelkäfig
musste man dann entweder auf die Erde stellen oder ihn über den linken
Zeigefinger schieben, um die rechte Hand anlegen zu können. Der
Akkordeonspieler hatte dieses Problem nicht, denn er hatte sein Instrument am
Gurt hängen und die Rechte frei. Aber das Akkordeon war so schwer, dass er es
alle Augenblick umhängen musste. Es blieb also bei Angelo und mir, das Problem
mit dem Vogelbauer zu lösen.
Als wir die Ortschaft hinter uns
hatten, schlugen wir uns seitwärts in den Wald, stellten den Vogelkäfig ins Gebüsch
und öffneten die Käfigtür. Hansi saß auf seiner Stange und zwitscherte vor sich
hin.
»Komm schon raus«, redeten wir ihm
zu. Es dauerte seine Zeit, bis er zur geöffneten Tür hopste. Dort blieb er
sitzen. »Mach schon, komm schon raus!« Schließlich flog Hansi weg. Ob er die
Freiheit überleben würde? Den Käfig versteckten wir im Gebüsch.
In jeder Beziehung erleichtert,
zogen wir weiter. Bald nahm uns ein LKW mit. Es war schon dunkel, als wir
schließlich den Bahnhof erreichten.
Noch in der Nacht würde ein Zug nach
Triest fahren, hieß es, wann jedoch, das konnte niemand sagen. Irgendwann wurde
ein leerer Personenzug an den Bahnsteig geschoben. Das wäre der Zug nach
Triest, wir könnten schon einsteigen. Dann kämen wir ja rechtzeitig zur
Hochzeit, sagten wir uns und atmeten zufrieden auf. Soweit erst einmal
geschafft! Wir nickten ein.
Als sich der Zug in Bewegung setzte,
wurden wir wieder munter. Unser Abteil war inzwischen bis zum letzten Platz
besetzt. Am nächsten Morgen wären wir wohl in Triest.
Keiner sprach ein Wort, jeder
dämmerte vor sich hin. Eine halbe Stunde später gab es eine gewaltige Detonation.
Mit einem Ruck stand der Zug. Alles fiel durcheinander und übereinander.
Totenstille. Dann stürmte jeder ins Freie. Hauptsache, möglichst weg vom Zug,
auf die Erde werfen und abwarten. Der Zug war auf eine Mine gefahren, die
Dampflok lag halb umgekippt quer über den Gleisen. Daran, dass der Zug
irgendwann wieder fahren könnte, war nicht zu denken.
Wir lagen in Deckung, das Fauchen
der Dampflok klang wie ein letztes Aushauchen, es war das einzige Geräusch in
der unheimlichen Stille. Wir erwarteten einen Überfall, doch nichts geschah.
Nach und nach stand jeder wieder auf. Und was nun?
Die meisten wollte zurück nach
Rijeka, wieder zum Bahnhof und auf die nächste Reisemöglichkeit warten. Eine
kleine Gruppe von Infanteristen wollte versuchen, sich an der Bahnlinie entlang
nach Triest durchzuschlagen. Die Bahnlinie wäre ziemlich gut bewacht, hieß es.
Wir fragten uns, wieso es dann trotzdem zu diesem Anschlag kommen konnte und hielten
uns vorsichtshalber etwas entfernt von der Bahnlinie, möglichst im nahen Wald,
wo wir uns tagsüber versteckt hielten. Wir schliefen bis zur Dunkelheit und
marschierten dann weiter. Irgendwann müssten wir ja zu einer Bahnstation
kommen, vielleicht würde da wieder ein Zug nach Triest eingesetzt.
Wir schleppten die Instrumente immer
noch mit. Vielleicht kämen wir ja noch rechtzeitig zur Hochzeit! Nur gut, dass
wir den Vogelkäfig nicht mehr dabei hatten! Jetzt Hochzeit feiern!? Dass wir
nicht lachen, meinten die Infanteristen.