Sehr geehrter Herr Müller,
weil Sie noch kein
Manuskript geschickt haben, fällt es mir schwer, zu Ihren E-Mails
Stellung zu nehmen. Am Anfang jeder Zusammenarbeit mit Zeitzeugen-Autoren
steht nun einmal das Manuskript. Da hat es wenig Sinn, wenn uns ein Autor
mitteilt, er (oder man) könnte ein Buch über seine Erlebnisse
schreiben. So lange es nicht geschrieben ist, können wir es weder
beurteilen noch bearbeiten, und schon gar nicht können wir Stellung
dazu nehmen.
Ich hatte Ihnen bereits geschrieben, dass ich das Thema der Zwangsumsiedlung
aus den Grenzgebieten der DDR grundsätzlich für wichtig und
interessant halte. Die Thematik kenne ich aus unterschiedlichen Schilderung
von anderen Zeitzeugen. Der von Ihnen geschilderte Fall Ihrer persönlichen
Flucht und der daraus resultierenden Zwangsumsiedlung Ihrer Eltern von
der thüringischen Grenze an die Oder ist für mich aber beispielslos.
Von der Zwangsumsiedlung als einer Variante der Sippenhaftung in der DDR
höre ich erstmals.
Umso mehr würde ich es begrüßen, wenn Sie sich daran machten,
Ihre persönlichen Erlebnisse in der Ich-Form aufzuzeichnen. Vermutlich
werden Ihre Eltern selbst die eigenen Erlebnisse nicht mehr aufschreiben
können. Es wäre daher gut, wenn Sie deren Schicksal in getrennten
Kapiteln in der dritten Person erzählen würden. Um einen chronologischen
Überblick zu behalten könnten die Kapitel im Buch zwischen Sohn-
und Eltern-Schicksal abwechseln.
Vielleicht sollten Sie erst einmal ein Konzept erstellen und versuchen,
sich zu erinnern oder zu ermitteln, welche Episoden Sie überhaupt
aus Ihrer persönlichen Sicht oder aus der Sicht Ihrer Eltern erzählen
könnten. Diese Art der Planung ist allerdings bei der Gedächtnisarbeit
oft nicht sehr ergiebig. Viele Zeitzeugen erzählen, dass sie erst
beim eigentlichen Schreiben wahre Erinnerungsschübe erlebten, die
sie ursprünglich bei sich selbst nicht für möglich gehalten
hätten. Erinnern ist ein eigentümlich komplexer Vorgang, der
nur schwer vorhersehbar und kaum planbar ist. Den meisten Menschen gelingt
das ohne einen einfühlsamen Gesprächspartner erst beim eigentlichen
Prozess des Schreibens.
Vor diesem Erfahrungs-Hintergrund bleibt mir als Herausgeber der »Reihe
ZEITGUT« und der »Sammlung der Zeitzeugen« eigentlich
nur, Ihnen zu empfehlen, auf eigenes "Risiko" zu schreiben zu
beginnen. Ob das Ergebnis befriedigt können alle Beteiligten erst
beurteilen, wenn Ergebnisse - auch Zwischenergebnisse - auf dem Tisch
liegen.
Ich hoffe, dass meine Hinweise Sie ermuntern können, mit dem Schreiben
zu beginnen. Es ist für die meisten Menschen ein sehr erleichternder
und spannender Prozess. Sie sollten es einfach versuchen, indem Sie damit
anfangen.
Wenn Ihnen mein Schreiben geholfen hat, aber auch, wenn Fragen offen geblieben
sind, schreiben Sie mir bitte kurz?
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Ihr Jürgen
Kleindienst
Nachtrag
Sehr geehrter Herr
Müller,
ergänzend will ich Ihnen noch zu den Stasi-Dokumenten einen Hinweis
geben. Die Akten können und sollen natürlich mit eingesetzt
werden. Dafür gibt es die Möglichkeit, einzelne Seiten als Abbildung
im Original abzudrucken, was allerdings dazu führt, dass die übliche
A4-Aktenseite auf das Format einer Druckseite gebracht werden muss. Dabei
wird die Aktenseite auf etwa 50% verkleinert. Das führt zu einer
schlechteren Lesbarkeit. Vielfach sind die Akten allerdings bereits als
Fotokopie in Origialgröße nicht allzu gut lesbar. Dann muss
auf jeden Fall der gesamte Dokumententext noch abgeschrieben und als Buchtext
abgedruckt werden.
Ergänzend oder
alternativ können Sie natürlich Akten abschreiben und als Zitat
in der Satzschrift in Ihren Text einfügen. Sie sollten dabei aber
beachten, dass die Stasidokumente über längere Strecken für
einen Außenstehenden meist nicht sehr spannend zu lesen sind. Die
persönlich Betroffenen sehen das natürlich anders. Letztlich
können Sie die Stasidokumente also hervorragend als Ergänzung
und Zusatz-Illustration verwenden. Sie sollten aber nur in seltenen Fällen
über längere Strecken als Ersatz für die Schilderung mit
eigenen Worten eingesetzt werden.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Ihr Juergen
Kleindienst
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