Alle Jahre wieder suchen Sie schöne, anrührende Weihnachtsgeschichten zur Veröffentlichung - keine erfundenen Kuriositäten, sondern authentische Geschichten, die das Leben geschrieben hat.
Aus den nachstehenden drei Bänden bieten wir Ihnen Texte zum kostenfreien Abdruck an.

Unvergessene Weihnachten
Band 1: 1918–1959, ISBN 3-933336-73-2
Band 2: 1922–1988,
ISBN 3-86614-103-3
Band 3: 1914–1994,
ISBN 3-86614-122-X


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Unvergessene Weihnachten Band 1, 2 und 3

Auswahl-Taschenbücher,
jeder Band 192 Seiten,
viele Abbildungen, Ortsregister.
je 4,90 Euro,
Zeitgut Verlag, Berlin,
Folgende Geschichten stehen zum Abdruck bereit*)

Retter in der Not, aus Band 1 (3.938 Zeichen)
Die Annonce, aus Band 1 (5.374 Zeichen), 1 Abbildung
O Tannenbaum, o Tannenbaum, aus Band 2 (4.024 Zeichen), 1 Abbildung
Der Traum vom Puppenhaus, aus Band 2 (2.733 Zeichen), 2 Abbildungen
Die Puppen im Schrank, aus Band 3 (3.306 Zeichen), 2 Abbildungen
Zuhause, aus Band 3 (5.263 Zeichen)
Das Weihnachtsgeschenk, aus Band 3 (4.061 Zeichen)
Nachricht für den Weihnachtsmann, aus Band 3 (2.215 Zeichen)
Meine Rosa, aus Band 3 (2.805 Zeichen)
Meine erste Friedensweihnacht (2.267 Zeichen)

zusätzlich ab 24.11.2006
Die Weihnachtsgans im Rucksack, aus Band 2 (5.415 Zeichen)
Alle Jahre wieder - dieser verflixte Weihnachtsbaumkauf, aus Band 2 (6.345 Z.)
Unheimlich groß und dünn, aus Band 3 (4.000 Zeichen)
Später Besuch, aus Band 1 (5.189 Zeichen)
Die Schüssel auf dem Schrank, aus Band 1 (2.656 Zeichen)
Warten auf das Christkind, aus Band 1 (7.000 Zeichen)
Willis Heimkehr, aus Band 1 (8.761 Zeichen)

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Für Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

Lydia Beier, Öffentlichkeitsarbeit
Zeitgut Verlag GmbH, Berlin
E-Mail: lydia.beier@zeitgut.com
Tel. 030 - 70 20 93 14

Fax 030 - 70 20 93 22


aus: "Unvergessene Weihnachten", Band 1

Retter in der Not (3938 Zeichen)
von Margot Linke

[Berlin-Reinickendorf;
1943]

Auf Weihnachten freuten wir sechs Geschwister uns immer ganz besonders. Große Gaben hatten wir nicht zu erwarten, aber es gab immer einen Weihnachtsbaum, einen bunten Teller, etwas Praktisches und ein unerwartetes kleines Geschenk. Meine kleineren Schwestern träumten stets von allerlei schönen Dingen, die, obwohl wir schon im vierten Kriegsjahr waren, noch in den Spielwaren-Geschäften ausgestellt wurden. Diesmal hatten sie niedliche Püppchen gesehen, die ihnen der Weihnachtsmann bringen sollte.

Da das Geld immer sehr knapp war, kaufte meine Mutter oft schon im Herbst einige Kleinigkeiten für den Weihnachtstisch. Sie fing auch früh an, Nüsse, Marzipan und andere Süßigkeiten für den bunten Teller zu sammeln.

Eines Tages stellte Schwester Edith fest, daß die mittlere Schublade der großen Kommode verschlossen war. Nun ging die Raterei los, jede wüßte zu gerne, was da wohl schon versteckt sei. Ich war damals elf Jahre alt und nicht weniger neugierig als die Kleinen. Als meine Eltern einmal nicht zu Hause waren, überlegten wir, ob man nicht die obere nicht verschlossene Lade herausziehen könnte, um einen Blick in die untere zu werfen. Es war schwierig, das klobige Ding überhaupt zu bewegen. Schließlich gelang es uns, den Kasten auf den Fußboden zu bugsieren. Und nun konnte man sogar in die andere hineinfassen!

Große Freude bei uns allen, denn darin lagen vier Püppchen, wie sie sich meine Schwestern wünschten. Jede hatte ein andersfarbiges Kleid an. Trudchen, Erika, Elfriede und Mohrchen entschieden sich gleich für eine bestimmte Farbe. Sie wurden gedrückt und geknutscht und keine wollte das Püppchen wieder hergeben. Aber das ging ja nicht, die Zeit verstrich, und wir mußten ja die alte Ordnung wiederherstellen. Das war jedoch leichter gedacht als getan. Der schreckliche Kasten war so schwer, daß er sich kaum bewegen ließ. Und nun klingelte es auch noch!

Vor der Tür stand unser Nachbar, der bei uns in der Residenzstraße das wichtige Amt eines Blockwartes bekleidete. So richtig leise war es bei uns sehr selten, aber diesmal mußten wir wohl übertrieben haben, daß es den Ordnungshüter auf den Plan brachte. Er kannte alles und jeden im Haus, außergewöhnliche Dinge blieben ihm nicht verborgen. Mit den Worten: "Ist was passiert?", schritt er schnurstracks ins Zimmer - und übersah die schwierige Situation sofort.

Ohne auf unsere Erklärungsversuche einzugehen, wuchtete er die Schublade in die Höhe und schob sie wieder in die Kommode! Wir hätten ihm jetzt vor lauter Dankbarkeit alles versprochen, mußten ihn aber doch inständig bitten, unseren Eltern nichts zu verraten. Wir haben nie erfahren, ob er dichtgehalten hat - rausgekommen ist letzten Endes doch alles.

Endlich war Weihnachten. Das Wohnzimmer, meistens etwas kühl, war am Heiligen Abend gut geheizt, der Baum wunderschön geschmückt. Kugeln und Lametta wurden von Jahr zu Jahr aufgehoben, und aus Resten hatten wir sogar Kerzen gegossen. Nach der Bescherung saß jedes Kind auf dem ihm zugewiesenen Platz am Tisch, als sich plötzlich ein fürchterliches Geschrei erhob. Die Kleinen zankten und schrien: "Ich will rosa!", "Ich will grün!" und gerieten sich fast in die Haare.

Unsere Eltern guckten erst etwas verstört, behielten zum Glück aber die Nerven und schlugen dann vor, sie sollten doch die Puppen tauschen.
Nun kehrte Frieden ein, Weihnachtslieder wurden gesungen, Gedichte aufgesagt und schon von den Köstlichkeiten des bunten Tellers genascht.

Als ich meine Mutter viel später einmal fragte, wieso sie bei dem Durcheinander Weihnachten nicht ausgerastet sei, meinte sie, längst hätte sie gemerkt, daß etwas im Busche war. Die Kinder bemühten sich ein paar Tage unerwartet freundlich miteinander umzugehen und auch artig zu sein. Der Clou war dann, daß sie beim Einteilen der Süßigkeiten für die Bunten Teller gemerkt hatte, daß eine einem Marzipan-Schweinchen den Kopf abgebissen hatte.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 1

Die Annonce (5374 Zeichen)
von Georg Günther

[Magdeburg/Elbe; Sachsen-Anhalt;
Advent 1945]

Es war in der Adventszeit des Jahres 1945. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war unsere fünfköpfige Familie endlich wieder beisammen. Kurz vor Kriegsende in unserer Heimatstadt Magdeburg total ausgebombt, bestand unser Hab und Gut nur noch aus zwei geretteten Koffern mit Kleidungsstücken. Wir waren sehr beengt in einer kleinen Wohnung vorübergehend untergebracht. Die eigentliche Mieterin war mit ihrem Kind während der Kriegszeit evakuiert worden und wohnte auf dem Lande. Natürlich wollte sie wieder zurückkommen, aber dies ging erst, nachdem wir etwas anderes gefunden hatten. Das Jahresende mußten wir noch dort verbringen.

Mein Bruder war, wenn auch verwundet, aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt; auch meine Schwester kam von der Seefahrt zurück. So sahen wir dem bevorstehenden Weihnachtsfest mit Dankbarkeit und Freude entgegen.
Dieses Fest sollte nun in unserer Familie nach all den Erlebnissen und Entbehrungen etwas Besonderes werden. Es sollte sich auch äußerlich, durch kleine Geschenke und Überraschungen, abheben von den anderen Tagen. Das war jedoch 1945 sehr schwer, es gab fast nichts. Da mußten die Erwachsenen verzichten. Meine Erwartungen - ich war damals 12 Jahre alt - sollten jedoch nicht gänzlich enttäuscht werden.

Meine Schwester hatte die Idee, eine Annonce aufzugeben. Wo und wie aber?
Eine Zeitung erschien noch nicht wieder. Anstelle dessen wurden Bretterplanken und Mauern genutzt, um auf selbstverfaßten Zetteln Such- oder Tauschwünsche zu veröffentlichen. Und so schrieb meine Schwester einen derartigen Zettel mit folgendem Text:

"Biete Lebensnotwendiges, suche Spielzeug für 12jährigen Jungen und Kaffee."

Mit letzterem gedachte sie, auch meiner Mutter eine Freude zu bereiten. Mit dem Zettel, Nägeln und Hammer bewaffnet machte sich meine Schwester also auf den Weg zu einer Hausruine an einer Straßenecke, wo sie die Annonce an eine Holzplanke nagelte. Davor stand immer eine Schar Menschen und las die Tauschangebote.

Ich erfuhr von dieser Sache natürlich nichts. Wie mir meine Schwester später erzählte, ist sie täglich zu der Annoncen-Planke gegangen, immer mit der Hoffnung auf ein Angebot. Dann endlich, ein paar Tage vor Heiligabend, stand eine Adresse unter der Anzeige. Auf die Nachfrage nach Spielzeug, meldete sich ein junges Ehepaar. Der Mann besaß noch einiges aus seiner Kinderzeit, das er gern gegen Lebensmittel eintauschen wollte. Den Leuten konnte mit etwas Fleisch geholfen werden, und meine Schwester erhielt dafür das gesuchte Spielzeug für ihren kleinen Bruder.

Auch für den Kaffee bekam sie ein Angebot. Es meldete sich eine alte Frau. Meine Schwester ging am Tag vor Heiligabend zu ihr und nahm ebenfalls etwas Fleisch mit, denn wir hatten durch eine Schlachtung, bei der mein Bruder half, ein größeres Stück als Lohn bekommen. Die Vorfreude meiner Schwester war so groß, daß sie den weiten Weg schnell zu Fuß zurücklegte. Dort angekommen, gab es aber eine Enttäuschung für sie: Die Frau bot nur Malzkaffee!

Dies meinte sie mit dem Wort Kaffee. Also ein Mißverständnis.

Meine Schwester entschloß sich, das Mitgebrachte dort zu lassen, den Malzkaffee auch. Als Gegenleistung entdeckte sie bei der alten Frau ein paar Freudentränen, und das war Dank genug. Es war wie ein Licht, das in schwerer Zeit angezündet war. Ihr Weihnachtsbraten war gesichert. Zu dem Bohnenkaffee sind die Frauen am Ende doch noch gekommen. Wie weiß ich nicht.

Was denkt wohl ein Kind, wenn es keinen Weihnachtsbaum zu Weihnachten geben soll?

Ich drießelte meinen Vater schon lange vor dem Fest nach einem Weihnachtsbaum. Zu kaufen gab es keinen, das wußte ich auch. Aber was sollte werden?

Ich konnte mir jetzt, wo wir doch alle wieder zusammen waren, Weihnachten ohne Baum einfach nicht vorstellen.

Mein Vater wußte Rat: "Dann gehe ich in den Wald - schließlich war er mal Familienbesitz - und hole selber eine Fichte!"

Sprach's und machte sich am anderen Morgen früh auf den Weg. Der Wald lag 25 Kilometer von uns entfernt, in östlicher Richtung über der Elbe. Die Brücken waren gesprengt, nur eine Holzbrücke war gebaut worden. Eisenbahnzüge verkehrten darüber jedoch nicht. Also mußte Vater zu Fuß, etwa 2 ½ Stunden bis zum nächsten Bahnhof auf der anderen Elbseite gehen.

Da fuhr auch kaum ein Zug. Kohlen für die Lokomotiven waren sehr knapp. Schließlich ging es doch los, kalt und voll waren die Wagen. Endlich erreichte der Zug den Ort, wo der Wald lag. Bäume gab es dort genug, so daß die Auswahl nicht schwerfiel, und er einen Weihnachtsbaum selbst schlagen konnte. Der Rückweg war genauso strapaziös wie der Hinweg. Am anderen Tag erst traf der Vater wieder zu Hause ein und berichtete uns von seinen Erlebnissen, aber es hatte sich gelohnt.



Endlich wieder beisammen: meine Eltern, meine Geschwister und ich Weihnachten 1945 in unserer Heimatstadt Magdeburg.

Am Heiligen Abend stand der Baum mit selbstgegossenen Kerzen und selbstgefertigtem Christbaumschmuck im Wohnzimmer. Darunter lagen für mich drei Kinderbücher und ein Fußballspiel.

So konnte die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergefundene Familie ein glückliches Weihnachtsfest feiern. Meine Schwester freute sich über die gelungene Überraschung für den kleinen Bruder und war überglücklich. In der heutigen Zeit bedarf es dazu weitaus größerer Geschenke - die Zeit ist eine andere.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 2

O Tannenbaum, o Tannenbaum ... (4024 Zeichen)
von Joachim Weimar

[Gera, Thüringen;
1938]

Dieses schlichte Volkslied, das zur Weihnachtszeit gespielt und gesungen wird, hat einst ein Zimmermann aus Goldlauter im Thüringer Wald komponiert. Mich erinnert besonders dieses Lied an meine Kindheit, die ich bei meinen Großeltern in Gera verbrachte.

Zum Weihnachtsabend versammelte sich die gesamte Familie in der kleinen, bescheidenen Wohnung. Zu Weihnachten gehörte natürlich auch ein mit Kerzen, Naschwerk, Glaskugeln und Lametta festlich geschmückter Tannenbaum.

Da die "gute Stube" der großelterlichen Wohnung nicht gerade geräumig war, wurde der stattliche Baum an die Decke gehängt. Das entlastete zwar die räumliche Enge, brachte aber andere Probleme mit sich. Ich erlebte es nie, daß der Weihnachtsbaum so hing, wie er sollte. Immer waren zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich. Einmal wurde sogar ein in Silberpapier eingewickeltes Brikett als Ausgleichsgewicht eingesetzt. Ein anderes Mal wurde der Baum mit dünnen Fäden in eine senkrechte Lage gezurrt, so daß er im Prinzip eher einem Fesselballon ähnelte, zumal mein Onkel Rudel über diese Fäden Lametta hängte, um die Gleichgewichtsbemühungen deutlicher sichtbar zu machen.

Jedenfalls war unser Tannenbaum nicht nur Gegenstand festlicher Andacht, sondern auch Objekt mancher Frotzelei, was mein Großvater bis dahin immer gelassen hinnahm. Als sich aber auch noch meine Großmutter an den Sticheleien beteiligte, war das Maß voll. Nun legte Großvater ziemlich kategorisch fest: "Martha, nächstes Jahr kaufst du den Weihnachtsbaum!"

Als vor Jahresfrist Großmutter immer wieder den Weihnachtsbaumkauf anmahnte, bekam sie jedesmal zu hören: "Martha, dieses Jahr kaufst du das Bäumchen selber."

Es war höchste Zeit. Am letzten Tag des Weihnachtsmarktes machte Großmutter sich auf den Weg. Ich mußte sie begleiten, wohl eher als Lastesel denn als Gutachter.

In der Tat: Großmutter hatte einen Weihnachtsbaum von seltener Schönheit ausgewählt. Er war von geometrischer und ästhetischer Symmetrie - und auch nicht billig. Weil der Großmutter noch weitere Besorgungen einfielen, wurde der Baum in der Fahrradaufbewahrung nahe der Einkaufsstraße abgestellt.

Es dämmerte schon, als wir ihn dort wieder abholen wollten. Leider war unser Weihnachtsbaum inzwischen von einem Auto überrollt, das forstwirtschaftliche Prachtstück sozusagen zu Kleinholz gemacht worden. Wir bekamen zwar den Kaufpreis vom Betreiber der Fahrradaufbewahrung ersetzt, aber einen Weihnachtsbaum hatten wir nun nicht mehr.

So blieb uns nichts weiter übrig, als noch einmal auf den Markt zu gehen. Die Weihnachtsbaumhändler waren schon am Zusammenräumen, das Geschäft für dieses Jahr war gelaufen. Doch wir hatten Glück und erstanden noch einen Baum, sogar für den Spottpreis von 25 Pfennigen. Danach sah er auch aus. Der Händler entschuldigte sich fast dafür, daß er uns so einen Krüppel von Baum andrehen mußte. Aber was sollten wir machen?

Diesen oder keinen, so stand die Frage.

Zuhause angekommen mußte ich den Baum erst einmal im Waschhaus abstellen. Großvater erwartete uns mit sichtbarer Spannung und der von Neugier geladenen Frage:

"Wo habt ihr denn den Weihnachtsbaum?"

"Im Waschhaus", war Großmutters einsilbige und verlegene Antwort.

Mit den Worten: "Den muß ich sehen", zündete Großvater die Petroleumlampe an und ging unverzüglich ins Waschhaus. Noch in der zweiten Etage hörte ich sein schallendes Gelächter, von Großmutter kommentarlos hingenommen.


Nie wieder habe ich ein so lustiges Weihnachtsfest, wie das nun anstehende, erlebt. Den ganzen Abend wurden immer wieder neue und skurrilere Vorschläge zur Richtungskorrektur des Weihnachtsbaumes unterbreitet und praktiziert. Aber, was wir auch unternahmen, jedes zusätzliche Gewicht löste zugleich eine Drallbewegung aus. Diesem Tannenbaum fehlte einfach die festliche Ruhe.

Möglicherweise hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, daß ich später während meines Ingenieurstudiums sehr schnell die Gesetze einer Drehbewegung um eine freie Rotationsachse verstanden habe.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 2

Der Traum vom Puppenhaus (2733)
von Astrid Gassen

[Berlin-Zehlendorf;
1940, 1942]

Jedes Weihnachtsfest war irgendwie das schönste Weihnachtsfest. Damals jedoch - das waren Kindheit und Jugend. Damals, das ist lange her. Damals hieß: Familie, Freunde, Zuhause, Heimat und vieles mehr. Damals war der Duft von Weihnachten, von Tannen und Kerzen, von Plätzchen, Schokolade, Marzipan und Gänsebraten.

Ich schaue auf das Foto und sehe meine Großmutter, bei der ich aufgewachsen bin. Meine Eltern ließen sich 1939 scheiden, und ich kam einen Tag nach meinem fünften Geburtstag, am 8. April 1939, zu meiner Omi, der Mutter meines Vaters. 17 Jahre blieb ich bei ihr, eine herrliche Zeit.

Ich sehe meinen Papi. Dahinter steht mein Kindermädchen Gretel, die Größere, genannt Deten, daneben das Hausmädchen Klara, die ich Pattra nannte, und die uns als erste verließ, um in den Arbeitsdienst zu gehen. Wir hatten Krieg. Und ich sehe mich, meine Puppenstube, das Puppenbett, die Spielsachen, unser Zuhause in Berlin-Zehlendorf. Das zweite Kriegsweihnachten 1940. Jenes Weihnachtsfest wird das schönste Weihnachtsfest bleiben, weil es Erinnerung ist, weil es meine Kindheit war.



Weihnachten 1940 war ich fünf Jahre alt. Neben mir kniet mein Vater, dahinter sitzt meine Oma. Dahinter stehen mein Kindermädchen Gretel und das Hausmädchen Klara.

Wir waren schon im dritten Kriegsjahr, als mein Papi mir versprach, zum Weihnachtsfest 1942 ein Puppenhaus für mich zu bauen. Nach der Trennung meiner Eltern lebte ich bei meiner Großmutter in einem herrlichen alten Haus in der Zehlendorfer Kleiststraße 15, mein Vater wohnte nebenan in der Nummer 11 in seinem modernen Haus. Dort befand sich ein für damalige Verhältnisse bombensicherer Luftschutzkeller, in den wir bei Angriffen auf Berlin gingen, zusammen mit vielen Nachbarn. Mein Vater fing in diesen Bombennächten mit dem Bau meines Puppenhauses an. Und nur in diesen, leider immer häufiger werdenden Bombennächten baute er an meinem Puppenhaus. Er ging dann in seinen Bastelraum, und mir war natürlich der Zugang verwehrt.

Weihnachten 1942 stand es dann vor dem großen Weihnachtsbaum im Haus meiner Großmutter. Meine Freude war riesengroß. Damals war ich sieben Jahre alt.

Ich konnte nicht ahnen, daß ich nur wenig Freude an diesem Puppenhaus haben würde. Im August 1943 verließen viele Frauen und Kinder Berlin, so auch meine Großmutter und ich. Wir haben damals Berlin für immer verlassen. Mein schönes Puppenhaus wird irgendwo geblieben sein. Als Erinnerung durch beinahe 60 Jahre blieb ein kleines Foto, dieses Bild Weihnachten 1942 in Berlin.



Weihnachten 1942 bekam ich dieses wunderschöne Puppenhaus geschenkt. Mein Vater hatte es in den Bombennächten für mich gebaut.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

Die Puppen im Schrank (4024 Zeichen)
von Gisela Schoon

[Konikow bei Köslin*), Hinterpommern;
Dezember 1930]

Meine zwei Jahre ältere Schwester Annelie und ich gingen noch nicht zur Schule. Wir wohnten in einem kleinen Dorf in Hinterpommern. Weil unsere Eltern immer viel Arbeit hatten, waren wir uns häufig selbst überlassen, was unserer fantasievollen und frohen Kinderzeit nicht schadete, im Gegenteil. Die Wochen vor Weihnachten waren besonders schön, geheimnisvoll und voller Vorfreude.
Eines Tages winkte mich Annelie in die gute Stube, die wir sonst nur zu Festtagen betraten. Der hohe Schrank, in dem unsere Eltern ihre Sonntagskleidung aufbewahrten, stand offen. "Komm, Gila, guck bloß mal!" flüsterte sie mit dem Finger auf dem Mund.

Ich sah in den Schrank und entdeckte hinter dunklen Mänteln zwei wunderschöne Puppengesichter. "Oh! Och!"

Wir standen ganz still vor freudigem Erschrecken und trauten uns nicht, sie zu berühren, und schon gar nicht, sie hervorzuholen. Wie kamen die Puppen da hinein? Ob sie wohl für uns waren? War etwa der Weihnachtsmann schon bei uns gewesen, und Mama hatte die Puppen verstecken sollen?

Etwas schuldbewußt ob unserer Entdeckung schlichen wir zurück in unsere Spielecke in der Eßstube. Am nächsten Tag zog es uns wieder zum Schrank. Der Schlüssel steckte, und wir standen wieder andächtig schauend vor unseren Puppen hinter den Mänteln. "Meine" Puppe, ich hatte mir die mit dem blonden Bubikopf ausgesucht, lächelte mich mit ihren strahlend blauen Augen schelmisch an. Ach, war ich glücklich! Ich taufte sie in Gedanken auf den Namen Susi.
Am dritten Tag standen wir vor einem verschlossenen Schrank ohne Schlüssel. Eifrig suchten wir nach ihm, jedoch vergeblich. Ob er wohl oben auf dem Schrank lag?

Das aber konnte Annelie auch mit einem herangezogenen Stuhl nicht nachprüfen, obwohl sie sich sehr streckte, sie reichte nicht hinauf. Enttäuscht gaben wir auf. Darüber zu sprechen wagten wir natürlich nicht.

Meine Schwester Annelie zieht mich auf dem Rodelschlitten. Im Hintergrund ist Opas Bienenhaus zu sehen.

Endlich war es Heiligabend. Als wir aus der Kirche kamen, liefen wir unseren Eltern voraus. Der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Aber alle Eile half nichts, wir mußten warten. Der Weihnachtsmann brauchte in der guten Stube noch einige Zeit. Endlich, endlich öffnete Mama die Tür!

Der brennende Lichterbaum, buntgeschmückt, reichte vom Boden bis zur Decke. Und darunter lagen mit glänzendem Papier verpackte Pakete und Päckchen. Doch dafür hatte ich keinen Blick. Ich suchte die Puppen unter dem Baum und sah sie nicht. Tiefes Erschrecken erfaßte mich. Kaum gelang es mir, mein Gedichtchen aufzusagen. Dann durften wir die Geschenke auspacken. Ganz versteckt unter buntem Papier fand ich, was ich so sehnsüchtig gesucht hatte. Ich schloß meine Susi in die Arme, um sie den ganzen Abend nicht wieder loszulassen.

Die Weihnachtspuppen bekamen ein Jahr später Sportkarren, in denen wir sie hier vorführen. Meine Schwester Annelie, links, und ich vor dem Giebel unseres Elternhauses in Konikow, Hinterpommern.

Unsere Eltern sahen uns lächelnd zu. Heute denke ich, daß sie aufmerksam beobachtet haben, ob wir richtig überrascht waren. Die zufällige Entdeckung der Puppen im Schrank blieb unser Geheimnis.

*) heute Konikowo bei Koszalin in Polen

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

[Goslar am Harz, Niedersachsen;
20. Dezember 1949]

Zuhause (5263 Zeichen) (Diese Geschichte wurde leicht gekürzt)
von Waldemar Siesing

Ein vorweihnachtlicher Tag, dieser 20. Dezember, wie es unzählige in einem Menschenleben gibt. Der Schnee fällt tanzend und leise aus den Ewigkeiten herab auf die Erde, ein rauher Wind weht, wie im Monat Dezember üblich, durch die Straßen. Der vor dem Bahnhofsgebäude stehende Weihnachtsbaum verströmt Wärme durch seine vielen Kerzen, die leuchtend anzeigen, daß die Festtage nicht mehr weit sind. Der Bahnhofsvorplatz, ja die ganze Kaiserstadt Goslar, will strahlend die Menschen begrüßen, die aus allen Richtungen mit dem Zug nach hier kommen. Auch mich, den Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft.

Der Zeiger der Bahnhofsuhr deutet auf die sechste Abendstunde, als ich den Zug, der mich von Friedland hierher gebracht hat, verlasse. Die ersten Schritte auf dem Bahnsteig in völliger Freiheit übermannen mich. Nur ganz langsam gehe ich weiter, wie schwebend, schließlich die Treppe hinauf zur Bahnhofshalle. Menschen hasten an mir vorbei. Manche schauen mich mitleidig an, andere registrieren mich gar nicht, und wiederum andere entbieten mir einen liebenswürdigen Gruß.
Ich nicke scheu zurück.

Die farbenfrohen Auslagen in den kleinen Geschäften im Bahnhof - die Bundesrepublik steckt noch in den Kinderschuhen - erwecken mein stärkstes Interesse, aber ich strebe dem Ausgang zu. Nervös suchen meine Augen die Umgebung ab, suchen meine Eltern, die ich von Friedland aus telegrafisch benachrichtigt habe, daß ich nach Hause komme. Ich spüre den Schauer, der über meinen Rücken läuft, höre mein Herz lauter als sonst schlagen, und ich fühle, wie sich Schweißperlen mit Freudentränen vermengen. Es kommt mir so vor, als liege ein Schleier auf meinen Augen. Die Vergangenheit, die Schmerzen beim Gehen - ich habe viele Geschwüre an Beinen und Armen -, meine körperliche Verfassung sind vergessen. Die Eltern nach vielen Jahren endlich wiederzusehen bläst alles Negative hinweg.

(…)

Die an mir vorbeilaufenden Menschen verunsichern mich immer mehr. Meine Eltern kann ich unter den vielen Passanten nach wie vor nicht entdecken. In diese für mich trostlose Situation steuert ein Beinamputierter sein Selbstbewegungsfahrzeug dicht an die Stufen, die zum Eingang der Bahnhofshalle führen, und spricht mich mit den Worten an, die ich im Leben nie mehr vergessen werde: "Kamerad, komm, ich bringe dich nach Hause."
Er bringt mich in die Wislicenusstraße 21, in das Haus, in dem meine Eltern und der Großvater wohnen. Zwei Kriegsramponierte an einem kalten Winterabend, einem Vorweihnachtstag, der im Grunde nichts Außergewöhnliches an sich hat. Für mich ist es der Tag, an dem ich zum zweiten Mal geboren werde.
Müde und abgekämpft schleppe ich mich die zwei Etagen nach oben zur Wohnung meiner Eltern. Mein Großvater empfängt mich mit stummem Entsetzen. Er findet keine Worte der Begrüßung, schaut mich nur fassungslos an, bis er nach einigem Gestotter herausbringt, daß meine Eltern am Bahnhof auf mich warten würden.

Schweigend sitzen wir uns dann am Tisch gegenüber. Großvater hat mich das letzte Mal gesehen, als ich zehn war und meine Sommerferien bei ihm in Stettin verbracht habe. Jetzt bin ich 27 und habe vier Jahre als Soldat und fünf Jahre Kriegsgefangenschaft hinter mir. Großvater ist 80 und für sein Alter quicklebendig. Was muß ihm durch den Kopf gehen, mich, seinen einzigen verbliebenen Enkel, in diesem Zustand zu sehen?
Endlich, nach langen, langen Minuten des Schweigens steht er auf und nimmt mich in seine Arme.
Ich bin Zuhause.

Dann Stimmen im Treppenflur. Bewohner aus den unteren Etagen haben meinen Eltern schon freudig mitgeteilt, daß ich oben in der Wohnung auf sie warte. Ich laufe ihnen, so gut ich es vermag, auf der Treppe entgegen und bleibe auf einer Halbetage vor den Eltern stehen. Alle Schmerzen und Strapazen, alle Schwachstellen des Körpers und des Herzens vergessend, halte ich meine vor Glück taumelnde Mutter in den Armen. Vor sechs Jahren habe ich sie zum letzten Mal in Magdeburg gesehen. Ein Sohn, mein jüngerer Bruder Wolfgang, war an der Westfront gefallen. Sie befürchtete, mich ebenfalls verloren zu haben, denn mein erstes Lebenszeichen aus der Kriegsgefangenschaft, eine Rote-Kreuz-Karte, erhielt sie erst Weihnachten 1946, für meine Mutter eine Ewigkeit des Bangens und Hoffens. Meinen Vater habe ich 1941 zum letzten Mal gesehen. Als Jugendlicher bin ich damals fortgegangen, als ausgemergelter junger Mann stehe ich jetzt vor ihnen.

Wir halten uns fest in den Armen, wollen uns nicht mehr loslassen, wollen in diesem Augenblick alles nachholen, was der furchtbare Krieg uns verwehrt hat. In den Freudentränen gehen alle Worte der Begrüßung unter.
Wie sie beim Abendessen erzählen, seien meine Eltern in der Bahnhofshalle immer auf und ab gegangen, hätten mich unter den vielen Menschen aber nicht gesehen. Ein späterer Blick in den Spiegel - während der Kriegsgefangenschaft habe ich nie einen Spiegel in der Hand gehabt - läßt vermuten, daß sie mich nicht erkannt haben. Mich dünnes Skelett, mehr vom Tode als vom Leben gezeichnet, das Gesicht voller Geschwüre und nur die verweinten Augen sprühen das Leben einer Jugend wieder, die durch alle Höhen und Tiefen dieser Zeit gegangen ist, sie sind trotz allem wach und hoffnungsfroh gestimmt.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

[Görmar bei Mühlhausen, Thüringen;
1943]

Das Weihnachtsgeschenk (4061 Zeichen)
von Babette Reineke

Wir schrieben das Kriegsjahr 1943. Dieses Jahr hatte uns den Vater genommen, oder waren es die Russen gewesen? Jedenfalls deckte ihn seit einigen Wochen russische Erde zu. Mutter ging es wie so vielen in jener Zeit: Sie stand mit uns drei unmündigen Kindern allein da. Es war für uns alle eine traurige Zeit und trotzdem wurde es Weihnachten!

"Wir werden nur einen Tannenzweig schmücken", sagte Mamusch, "und überhaupt wird der Weihnachtsmann kaum etwas zum Bringen haben!"

Ich konnte das gut verstehen, denn aus der Schule wußte ich, daß alle Güter an der Front gebraucht wurden. Mit Phantasie und bescheidenster Zutaten gab es dennoch genug Heimlichkeiten in der Weihnachtszeit.

Es gab aber auch, besonders in den Nächten, Fliegeralarm. Dann mußten wir unser warmes Bett mit dem kalten Kohlenkeller tauschen. Unser Kinderzimmer stand längst schon leer, fühlten wir uns doch im elterlichen Schlafzimmer, so nah bei Mutter, geborgener. Sie hatte Brüderleins "Gatterbett" herübergeholt, das Baby schlummerte in seiner Wiege und ich selbst im Ehebett auf Vaters Seite - bis Heiligabend. Eine unerklärliche Sehnsucht nach meinem Kinderbett erfaßte mich. Erinnerung an vergangene Weihnachten, als Pa' solch tolle Einschlafgeschichten erzählte?

Wie dem auch sei, ich begab mich am Heiligen Abend ins Kinderzimmer und in mein angestammtes Bett. Mit meinen elf Jahren glaubte ich zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, dennoch an irgendeine kleine Freude, die der Weihnachtsmorgen bringen würde. Man muß wissen, daß in Thüringen erst dann Bescherung ist, und daß schon vor Tag. Punkt 5 Uhr nämlich rufen die Glocken zur Christmette, somit haben daheim Knecht Ruprecht oder das Christkind freie Bahn.

Nun lag ich endlich wieder in den eigenen Federn, ganz schön klamm und kalt waren sie. Das Fußende war an einer Ecke hochgeschoben, und die Tür stand fast immer offen. Kein Wunder, daß die Kälte reingekrochen war! - Brrrr! - So langsam kroch sie auch in mir hoch und ich kroch um so tiefer unter das dicke Federbett.

Horch! War da nicht eben ein verhaltenes Weinen?
Sollte es vom Schwesterchen nebenan gekommen sein?
Unmöglich für mich, es zu hören, steckte ich doch bis über die Ohren und zusammengerollt wie ein Igel in meinem Nestchen! Nun wurde mir schon wärmer. Wohlig streckte ich meine Füße aus, doch wie von einer Tarantel gestochen, zog ich sie sogleich wieder zurück. Was in aller Welt war das?
Da war etwas Warmes, Weiches gewesen und bewegt hatte es sich auch. Mir sträubten sich die Nackenhaare!
War dies ein böser Traum?
Doch da war es wieder, dieses leise Wimmern, und es kam just vom Fußende meines Bettes!

Vor Aufregung zitternd schlug ich die Bettdecke zurück und erblickte, eng aneinandergeschmiegt, fünf fiepende Katzenbabys. So hilflos und verlassen waren sie und anscheinend sehr hungrig. Mich dauerte dieser jammervolle Anblick. Minka! schoß es mir durch den Sinn. Nur sie konnte die Mutter der Kleinen sein! Wo steckte sie, unsere getigerte Hauskatze, der Schrecken aller Mäuse?
Just in diesem Moment war ein leises Kratzen an der Tür zu hören und Minkas klägliches "Miaaau". Hurtig ließ ich sie ein: "Du weckst ja noch das ganze Haus, Minkemau! Und überhaupt, was hast du dir dabei gedacht? Für uns alle ist das Bett nicht groß genug!"

Minka schaute mich nur grünäugig an und sprang sofort zu ihren Jungen aufs Bett. "Miaumaumau", machte sie und betrachtete wohlgefällig ihre schmatzend an ihr saugenden Winzlinge. Es war schon ein erhebender Anblick und nur die Kälte, die höchst unangenehm meine nackten Beine mit einer Gänsehaut überzog, vermochte mich davon loszureißen.

"Na gut, weil Weihnachten ist!"
Leise schlich ich aus dem Zimmer und überließ Minka samt Nachwuchs das Feld. Danke, Sammetpfötchen, für ein wundervolles Weihnachtsgeschenk, wie ich es nie wieder bekommen habe!

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

[Leipzig - Klotzsche bei Dresden, Sachsen;
1928]

Nachricht für den Weihnachtsmann ((2215 Zeichen)
Rosemarie Bierich

Ich war noch ein kleines Mädchen, als mich meine Eltern im Sommer mit zu einer Mehrtagestour von Leipzig nach Klotzsche bei Dresden nahmen. Dort hatten wir bei einer Freundin meiner Mutter ein gediegenes Obdach.

Eines Tages gingen wir in der Dresdner Heide spazieren und gelangten an eine Schonung von Fichtenbäumchen. Eine Schonung?
Für mich war das ein ganzer Trupp wunderschöner Christbäume. "Aaahh, guckt mal, das sind ja lauter Weihnachtsbäume! Kommt hier der Weihnachtsmann mal vorbei?"
Als ich erfuhr, daß das ganz bestimmt der Fall sei, und er von dort die Christbäume für die Kinder abhole, fragte ich, ob ich mir einen aussuchen dürfe.
"Warum nicht? Tu das doch!" bekam ich zur Antwort.

Kritisch schaute ich mir die in der Nähe stehenden Bäumchen an. "Den hier! Aber weiß der Weihnachtsmann auch, daß ich den haben will?"
"Wir heften einen Zettel mit deinem Namen an. Sicher wird er dir den Baum dann auch bringen."
Mein Vater, stets mit Stift und Notizpapier versehen, kritzelte irgend etwas auf einen Zettel und heftete ihn an einen Fichtenzweig. Die Sache war erstmal erledigt. Im Laufe des Sommers dachte keiner mehr an den Zettel für den Weihnachtsmann.

Dann war der Heiligabend gekommen. Ich stand in der Küche und hörte den Weihnachtsmann fortgehen - zu sehen bekam ich ihn nie, nur zu hören. Mein Vater war bereits in der Weihnachtsstube.
Da fragte ich meine Mutter: "Steckt denn der Zettel für den Weihnachtsmann noch an dem Baum?"
"Ich weiß nicht ... doch sicher, er wird schon noch dran sein."

Rasch ging meine Mutter in die Weihnachtsstube und erzählte meinem Vater, daß ich nach dem Zettel vom Sommer gefragt hätte. Da schrieb mein Vater in Eile einen Krakel auf ein etwas wettergeschädigtes Blatt Papier - war ja egal, ich konnte noch nicht lesen - heftete es an den bereits leuchtenden Baum und sagte: "So, das Mädel kann kommen!"

Als ich eintrat, galt mein erster Blick dem leuchtenden Christbaum, der zweite forschte nach dem Zettel.
"Das ist ja wirklich der richtige Baum!" rief ich erfreut aus.
"Aber ja, der Weihnachtsmann macht doch alles richtig!"
Das war tatsächlich mein Baum, und erst jetzt war es für mich auch das richtige Weihnachtsfest.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

[Küllstedt, Eichsfeld, Thüringen;
1926]

Meine Rosa (2805 Zeichen)
Editha Feuser

Weihnachten wurde in meiner Kindheit im Eßzimmer gefeiert, das wir sonst nur benutzten, wenn wir Besuch bekamen. Der Eßtisch, der in der Mitte des Zimmers stand, wurde ausgezogen, so daß das Christkind, an das ich mit elf Jahren noch glaubte, Platz für die Geschenke hatte. Der Tisch war festlich gedeckt mit Tellern voller Süßigkeiten, jedoch weitaus bescheidener, als es heutzutage üblich ist. Jedes Teil war akkurat nebeneinander platziert, obenauf lagen die bunten Fondantkringel, die wir Kinder so sehr liebten. Die Geschenke, die das Christkind bescherte, waren vor allem Kleidungsstücke oder später Dinge für die Schule, was man eben so brauchte.

Wenn das Christkind klingelte, mußten wir Kinder erst ellenlange Gedichte vor dem Weihnachtsbaum stehend vortragen und eine unendlich lange Reihe Lieder singen. Dabei versuchten wir, heimlich auf den Gabentisch zu schielen; denn das Christkind brachte für jeden auch ein Spielzeug. Ich wußte, daß jedes Jahr eine liebe Tante, eine Schwester meiner verstorbenen Mutter, eines für mich "bestellt" hatte.

An jenem Weihnachtsfest war meine Freude besonders groß. Bei der Bescherung glaubte ich zu träumen: An meinem Platz saß eine wunderhübsche, große Puppe. Bisher hatte nur meine jüngere Schwester Irmgard Puppen bekommen. Ich durfte zwar auch damit spielen, aber nur zusammen mit meiner Schwester, hieß es, das war nicht dasselbe. Diese Puppe hier gehörte mir ganz allein. Überglücklich schloß ich sie in die Arme. Die Puppe hatte einen wunderschönen Porzellankopf mit großen Schlafaugen und gutriechenden, echten Haaren, und sie trug ein rosarotes Organdykleidchen. Und so nannte ich sie "Rosa".

Am liebsten wollte ich meine Rosa gar nicht mehr loslassen. Abends nahm ich sie mit in mein Zimmer und setzte sie neben mein Bett auf den Nachttisch.
Doch eines Nachts - oh Schreck! - fiel Rosa hinunter, und der schöne Porzellankopf wurde beschädigt. Ich war untröstlich. Aus Angst vor meinen Eltern versteckte ich die Puppe ganz unten in meinem Kleiderschrank.
Vergessen konnte ich Rosa aber mein ganzes Leben nicht, so sehr hatte ich um sie getrauert. Sie war die einzige Puppe, die ich je geschenkt bekam.

Als Puppenfan besitze ich heute mehrere schöne Exemplare. Vor zehn Jahren, als ich 75 Jahre alt wurde, erlebte ich ein kleines Wunder: Auf einer Puppenbörse entdeckte ich sie: genau dasselbe hübsche Bubiköpfchen wie damals meine geliebte Rosa! Nur trug diese Puppe ein weißes Kleidchen mit schöner Stickerei.
Auf meine Frage, wie alt die Puppe sei, sagte mir der Verkäufer, sie stamme wahrscheinlich aus dem Jahre 1921. Später erfuhr ich‚ daß es eine Armand-Marseille-Puppe ist.
Seitdem sitzt diese Puppe auf meiner Couch, und ich liebe sie genauso, wie ich als Kind meine Rosa geliebt hatte.

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Aus: "Unvergessene Weihnachten" Band 3

[Venzka, zu Hirschberg/Saale, Thüringen;
1945]

Meine erste Friedensweihnacht (2267 Zeichen)
Elisabeth Schmack

Weihnachten 1945 fand nicht mehr zu Hause in Oberschlesien statt. Mutter und wir drei Geschwister waren nach langer Odyssee in dem kleinen Dorf Venzka an der Saale gelandet. Der Ort war mit Flüchtlingen überfüllt. Wir kamen in der ausgeräumten Kleiderkammer der Feuerwehr unter. Zwei Betten und ein kleiner eiserner Ofen waren das gesamte Inventar; mehr hätte da auch nicht reingepaßt.
Dankbar, daß wir endlich ein Dach über'm Kopf hatten, richteten wir uns ein so gut es eben ging. Aus dem nahen Wald hatten wir Holz gesammelt und Fichtenzweige mitgebracht. Mutter legte in die verlöschende Glut hin und wieder einen grünen Zweig auf. Es knisterte so schön und duftete ganz weihnachtlich.
Eigentlich wollte ich erzählen, was mir am Vormittag beim Kaufmann passierte. Da waren drei Frauen, die flüsterten, aber so, daß ich es hören sollte: Polackengesindel, sollen sich hinscheren, wo sie herkamen. Doch ich hielt mich zurück. Ich mochte unsere karge Gemütlichkeit nicht stören.
Wir erzählten von "damals", das eigentlich erst einige Monate zurücklag. Wir fragten uns, wo jetzt wohl unser Vater sein mochte, der noch zum Volkssturm eingezogen worden war. Seitdem waren wir ohne Nachricht von ihm. Die Stimmung wurde zusehends trauriger. Die Mutter faßte sich zuerst und summte ein Weihnachtslied, bald sangen wir leise mit.
Plötzlich ein Poltern!
Die Haustür, die nicht mehr zu verschließen war, schlug gegen die Wand. Hastig sprang die Mutter auf und drehte den großen Schlüssel im rostigen Kastenschloß. Die Türklinke senkte sich und blieb unten. Dann hörte man Schritte sich entfernen.
Lange saßen wir ängstlich zusammen, bis der kleine Bruder es nicht mehr aushielt: "Ich muß mal …"
Und das Klo war hinterm Haus. Im Dunkeln gingen wir nur gemeinsam dorthin.
Vorsichtig schloß Mutter die Tür auf. Da krachte etwas und die Klinke schnappte hoch. Vor der Tür lag ein Bündel. Zum Vorschein kam Kleidung, getragen aber sauber, und eine kleine Blechschüssel mit Weihnachtsgebäck. Ein Zettel lag bei, der mit ungelenker Handschrift "Frohe Weihnacht" wünschte. Wir fühlten eine Wärme, die kein Ofen geben kann. Und ich war froh, mein Erlebnis vom Vormittag für mich behalten zu haben.

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 2

Magdeburg/Elbe -Eilsleben und Wanzleben
in der Magdeburger Börde, Sachsen-Anhalt;
1947]

Die Weihnachtsgans im Rucksack (5.415 Zeichen)
Annemarie Sondermann

Hunger! Ja, er tut weh! - Wir hatten ihn kennengelernt im Winter 1946/47 als Ost-flüchtlinge im bombenzerstörten Magdeburg. Wir, das waren wir fünf Geschwister im Alter von 11 bis 18 Jahren und unsere Mutter. Nein, eigentlich wir fünf alleine, denn unserer Mutter hatte all das Leid des Krieges das Gemüt krank gemacht. Auch die Kälte dieses Winters war schrecklich gewesen: eisige Temperaturen noch bis in den März hinein, dabei kaum etwas zum Heizen, Stromsperren. Die Kälte hat es leicht, in einen Hungrigen hineinzukriechen. - Also, solch einen Winter wollten wir nicht noch einmal erleben.

Wir stoppelten, soweit es unsere Schulzeit erlaubte, im Sommer 1947 alles, was wir auf den Feldern finden konnten. Das große Los aber zog unser ältester Bruder: Ernteeinsatz bei Bauer Arendt in Eilsleben in der Börde. Satt und richtig rund kam er nach Hause zurück, und das Beste für uns alle: Zu Weihnachten sollte er noch ein besonderes "Deputat" für die ganze Familie bekommen. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, aber seitdem nicht vergessen.

Es war zwei Tage vor Weihnachten. Ich war dazu auserkoren worden, das Deputat in Eilsleben abzuholen. Die rührende Bäuerin packte meinen Rucksack voll: Kartoffeln, selbstausgepreßtes Rapsöl, eine Blut- und eine Leberwurst, Streuselkuchen - ich weiß es noch genau - und als Clou eine Gans, eine Weihnachtsgans für unsere Familie. "Komm, da hast du noch einen Rotkohl, der gehört doch zu einem Gänsebraten dazu!"

Ich war selig.

"Vielleicht sollte ich dir zur Sicherheit eine Deputatsbescheinigung mitgeben."
"Wo-zu das?"

"Sicher ist sicher", meinte sie.

Der Zug zurück nach Magdeburg war voll. Die Menschen standen dichtgedrängt, auch auf den Trittbrettern, fast alle mit Rucksäcken. Viele hatten versucht, für Weihnachten noch irgendeine Habseligkeit gegen etwas Eßbares auf dem Land einzutauschen.

Beim Halt in Wanzleben hörten wir plötzlich laute Rufe:
"Alle aussteigen! R a z z i a !"

Blauuniformierte Volkspolizisten trieben uns als Kolonne in den Wartesaal. Die Tür wurde hinter uns abgeschlossen, die Fenster waren nicht zu öffnen.
Unheimliche Stille zunächst. Keiner empörte sich. Die Menschen waren durch Krieg und Nachkriegszeit Unbilden, auch Schikanen gewohnt. Rechts hinten wurde eine Tür zu einem Nebenraum geöffnet, die zwei ersten von uns hineinbeordert, nach einer Weile die nächsten und so fort. Allmählich sickerte durch: "Sie nehmen uns alles!"

Was dann begann? Kein Aufschrei, keine Empörung: Warum? Was machen sie mit unseren Sachen?

Es begann - das große Fressen. Würste, Speck, auch einfach trockenes Brot, alles wurde hineingestopft. Wenigstens sich selbst einmal sattessen, bevor sie uns alles wegnehmen. Eingeprägt hat sich mir besonders das Bild, wie zwei Männer aus einer großen Blechdose Salzheringe, immer einen nach dem anderen, am Schwanz ergriffen und kopfunter in ihrem Mund verschwinden ließen. Salzheringe, wie sie früher waren, in richtiger Salzlake!

Und ich? Ich hockte einfach todunglücklich in einer Ecke. Zu essen von meinen Köstlichkeiten, das bekam ich nicht fertig. Die Deputatsbescheinigung, ach, ich hoffte noch immer. Natürlich habe ich auch gebetet, ich war ein gläubiges Kind.
Der Saal leerte sich. Ich meine, ich wäre überhaupt die letzte gewesen, die in den Nebenraum befohlen wurde, zusammen mit einem Mann, mit Rucksack natürlich wie ich. An drei Vopos erinnere ich mich, einen für jeden
"Delinquenten" und eine Polizistin, am Tisch sitzend, die die abgenommenen Gegenstände registrierte. Andere Uniformierte gingen hin und her, um die beschlagnahmten Weihnachtsmitbring-sel abzutransportieren. Ich zeigte meine Bescheinigung und versuchte zu erklären. Aber "mein" Polizist hörte irgendwie nicht richtig zu. Jetzt merkte ich: Er schaut zu seinem Kollegen und zu meinem "Mitgefangenen". Dort war ein Handgemenge entstanden. Der Rucksack des Mannes war ganz mit Zucker gefüllt. Natürlich sollte er ihn hergeben, aber er wehrte sich, überkreuzte die Arme, der Vopo konnte die Träger nicht abstreifen. Blitzschnell eilte mein Kontrolleur zu Hilfe. Zu zweit schafften sie es, den sich Wehrenden auf den Boden zu werfen, seine Arme auseinanderzudrücken, einer kniete sich auf seine Handgelenke ...
Das alles ging über meine Gemütskräfte. Die Tränen flossen, ich weinte bitterlich. - Und da?

Die Polizistin gab mir einen Wink, ich sollte den Raum verlassen - nicht in Richtung Wartesaal, nein, nach draußen! Den Rucksack hatte ich noch auf dem Rücken. Ich war die einzige, die bei dieser Massenrazzia all ihr Schätze behalten konnte.

Der Schluß ist schnell erzählt. Unser Zug war natürlich längst weg, auch kein anderer fuhr mehr an diesem Tag nach Magdeburg. Aber vom nächsten Ort, Blumen-berg, fünf Kilometer entfernt, würde noch einer fahren. So schritt ich mit schwerem Rucksack, aber leichtem Herzen im Stockdunklen den Bahndamm entlang und erreichte am späten Abend noch meine Geschwister, die sich bereits Sorgen gemacht hatten.

Natürlich wurde es ein köstliches Weihnachtsessen: Gänsebraten mit Rotkohl und richtigen Schälkartoffeln!

Ein wenig getrübt wurde der Genuß nur dadurch, daß unsere Mutter gequält wurde von dem Gedanken, was die anderen hungernden Flüchtlinge im Haus wohl von uns denken würden, wenn sie den Bratenduft riechen. Aber wo gibt es auf der Welt vollkommenes Glück?

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 2

Rinteln/Weser, Kreis Schaumburg, Niedersachsen;
kurz vor Heiligabend 1988]


Alle Jahre wieder - dieser verflixte Weihnachtsbaumkauf (6.345 Zeichen)
Romano C. Failutti

So sicher es jedes Jahr Weihnachten wird, so sicher gibt es zwischen meiner Angetrauten und mir um diese Zeit "Theater". Die "Aufführung" findet nicht einmal in unseren vier Wänden statt, sondern sie findet dort nur ihre Fortsetzung und ihr Ende. Sonst aber bevorzugen wir die wieder modern gewordene Form der Straßenbühne, und da ziehen wir beide als Akteure sämtliche Register unseres schauspielerischen Könnens.

Irgendwann vor dem Heiligen Abend erinnert mich meine Marianne: "Langsam müssen wir uns mal um einen Weihnachtsbaum kümmern."

Und jedesmal habe ich natürlich auch längst daran gedacht, nur nicht davon ge-sprochen. Aber es gibt ja sowieso kein Entkommen vor diesem schönen Brauch! Sie denkt ja daran und sie spricht sowieso aus, was getan werden muß.

Irgendwann, lampenfiebergeschüttelt, machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Wir wissen, was auf uns zukommt. Wir nehmen uns zwar jedesmal vor, in der Wahl unserer Ausdrucksmittel sparsam zu sein, auf große Gestik und starke Worte zu verzichten, denn in der Beschränkung erweist sich der Meister, aber es kommt doch wieder so, wie es kommen muß - bei uns.

Vorsichtig und erwartungsvoll taxiert uns der Weihnachtsbaumverkäufer, als wir uns in seinen Bannkreis begeben. Noch sind wir Interessenten wie alle anderen. Er ahnt nicht, was auf ihn zukommt. Heimliches Bedauern für den Mann erfaßt mich. Er muß mitspielen und er weiß es noch nicht!

In vielen Ehejahren habe ich gelernt, mich zurückzuhalten, meiner Frau den großen Part zu überlassen, die sich hochgestimmt mit mir auf den Weg machte, nun diesen und jenen Baum ins Auge faßt und deren Antlitz jede ihrer Regungen widerspiegelt. Warnzeichen Nummer eins: Sie schiebt die Unterlippe sehr weit vor! Also: Die Naturgewachsenen finden vor ihr keine Gnade. Der eine ist ihr zu klein, der andere zu groß, der hat zwei Spitzen, der ist ja jetzt schon braun statt grün, der ist zu kahl, der zu voll, der zu ausladend, der ist nicht rundherum gleichmäßig gewachsen, sondern schlägt nur nach einer Seite aus, also vorne nichts und hinten zu viel. O-der, wenn man ihn umdreht, hinten nichts und vorne zuviel!

Mein Argument, wenn man ihn doch sowieso in eine Ecke stellt, dann paßt er doch mit der Seite, wo die Äste kürzer sind, gut hinein, wird rigoros als Blödsinn be-zeichnet und zur Seite gewischt. Der da hinten, der ...
"Der ist doch viel zu teuer!", rufe ich verschreckt beim Blick auf den Preis.
"Ist ja auch 'ne Edeltanne!"

"Schön soll er schon aussehen, aber nicht für so viel Geld! Da mache ich nicht mit! Er steht doch nur zwei, drei Wochen", erkläre ich.
Marianne quält ihre Unterlippe mit den Zähnen. Warnzeichen Nummer zwei!
"Es ist ja nur einmal im Jahr Weihnachten", zischt sie.
"Aber du mußt doch einsehen, daß das Fantasiepreise sind, die da verlangt werden. Der da, der ist doch auch sehr schön", weise ich unbestimmt in die preisgünstigere Richtung.
"Welcher?" - Schnell hebe ich irgendeinen an.
"Diese Krücke!" schallt ihre Stimme über unseren bezaubernden Marktplatz, dem viele schöne alte Häuser sein romantisches Gepräge geben - und der Baumverkäufer blickt betreten.
"Nee, der nicht", gebe ich schnell zu und lasse ihn in seine Reihe zurückgleiten wie eine heiße Kartoffel in den Topf. "Da hast du wirklich recht."
Es war tatsächlich kein guter Griff.
Der Mann will uns wohl schnell loswerden. Unsere Kritik könnte sein Geschäft schädigen. Jetzt macht er Vorschläge. Er stapft vor uns her und stellt uns Bäume hin, die er aus seinem Angebot herausgreift.
"Nein", sagt sie. - "Ach nee", sage ich.
"Der! Aber der ist doch bildschön!" sagt der Mann.
Ihr Hohnlachen gellt über den Platz, verliert sich in den stimmungsvollen Gassen unseres Weserstädtchens.
"Der sieht ja aus, als hätte er die Räude!"
Der Baumverkäufer zieht den Kopf zwischen die Schultern, zuckt die Achseln.
"Sei doch nicht so drastisch", bitte ich. "Er kann doch auch nicht dafür. Natur ist eben mal Natur."

Mir tut der Handelsmann leid, aber in Mariannes Kopf sind nun mal gewisse Vorstellungen und da steckt auch noch der Spruch ihrer Oma, einer Ur-Berlinerin, drin: ‚Für mein Jeld, da kann ick den Deibel tanzen lassen!'
Jetzt fische ich ein Gewächs heraus: "Wie wär's mit dem? Der geht doch! Und langsam müssen wir uns auch mal entscheiden."

Sie guckt und nagt und nagt an ihrer Unterlippe und guckt. Gleich wird die Unterlippe zu bluten anfangen. Warnzeichen Nummer drei - und was kommt danach?

Ein Herr umschleicht uns, wirft begehrliche Blicke auf den "Besen", wie sie verspottet, was ich ihr da vorhalte.

"Was soll der kosten?", fragt der Herr den Verkäufer.

"Zweiundzwanzig Mark", ist die Antwort.

"Nehme ich", sagt der Herr kurz und knapp.

"Den nehmen wir! Den hat mein Mann doch schon in der Hand!"

Besitzergreifend und unmißverständlich legt meine Frau auch die ihre an den Stamm.

Enttäuscht wendet sich der Herr anderen Objekten zu. Er scheint wirklich ein Herr zu sein, der sich niemals mit einer Dame um etwas zanken oder gar mit ihr um einen "Besen" kämpfen würde. "Würde" fällt mir in diesem Augenblick ganz plötzlich dazu ein.

Sichtlich erleichtert packt der Verkäufer uns den Baum ins Netz, entfernt wunschgemäß einige Äste vom unteren Stamm, damit wir ihn zu Hause mühelos in die "Hutsche" praktizieren können.

In den folgenden Tagen fragen wir uns, wie unser Bäumchen wohl in unserem Weihnachtszimmer wirken wird. Ganz zufrieden ist Marianne doch nicht. "Das ist doch wieder nur so ein Festgestrüpp", sagt sie.

Aber am Heiligen Abend steht der Weihnachtsbaum geschmückt in unserer Mitte, und er strahlt, verbreitet festliche Stimmung und ist wunderschön.
"Was haben wir doch für einen herrlichen Baum", flüstert sie ergriffen und ich nicke still: "Ja. Wie jedes Jahr."

Und die Tochter pflichtet bei: "Ich weiß gar nicht, was ihr immer für einen Hermann mit dem Baum macht. Der ist doch echt geil, wie immer."

Für diese Wortwahl möchte ich ihr zwar am liebsten ... na ja ... Aber der Lichter-glanz stimmt mich milde.

Als Marianne am ersten Feiertag in der Küche herumklappert und ich mich unbeobachtet und nicht abgehört fühle, rufe ich Siggi an. Siggi ist ein Arbeitskollege von mir.

"Frohe Weihnachten", wünsche ich ihm. "Und vielen Dank, Siggi, daß du den Herrn gespielt hast, der unseren Baum haben wollte, neulich auf dem Marktplatz. Sonst stünden wir möglicherweise heute noch dort."

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 3

Berlin-Zehlendorf;
5. Dezember 1945]

Unheimlich groß und dünn - mein Vati! (4.000 Zeichen)
Renate Dziemba

Es wurde schon dunkel an diesem Nachmittag des 5. Dezember 1945. Ich war allein zu Hause. Zu Hause?

Unsere Wohnung war gleich nach Kriegsende von den Amerikanern beschlagnahmt worden, Mutti und ich mußten sie innerhalb weniger Stunden verlassen. Wir besaßen fast nichts mehr. In ein winziges Zimmer wurden wir einquartiert. Hier wohnten wir jetzt schon fast ein halbes Jahr. Im Vergleich zu anderen Familien hatten wir großes Glück: Unsere Wirtin, die uns das Zimmer hatte abgeben müssen, war freundlich, sauber und hilfsbereit. So half sie uns zum Beispiel, zwei Luftschutzbetten, die sich noch im Keller befanden, übereinander aufzustellen. Wir hätten sonst auf der Erde schlafen müssen.
In dem viel zu engen Zimmer konnte man kaum treten. Gleich rechts neben der Tür war der Ofen. Daneben stand ein Klavier, das nur Platz wegnahm und von niemandem benutzt wurde. Die ganze linke Wandseite nahmen die Luftschutzbetten ein. Vor dem Fenster war gerade noch Platz für einen riesigen Schreibtisch und einen Ledersessel.

Ich saß in dem viel zu großen Sessel an dem viel zu großen Schreibtisch und machte meine Hausaufgaben. Joachim, der zwei Jahre ältere Sohn der Wirtin, war schon damit fertig und spielte mit anderen Kindern draußen im Gang vor den Häusern. Sie spielten wohl Verstecken. Das machte in der Dunkelheit besonders viel Spaß. Ab und an sah ich einzelne Gestalten den Gang entlanghuschen. Wo Mutti wohl so lange bleibt? Sie wollte doch nur zum Einkaufen in die Berliner Straße. Ob sie noch bis zum Teltower Damm gegangen ist? Oder hat sie vielleicht Bekannte getroffen?

In diesem Augenblick klingelte es. Ich hatte ein bißchen Angst. Wer konnte das sein? Mutti nimmt doch immer ihre Schlüssel mit. Da hörte ich Joachims Stimme: "Renate, mach mal auf, dein Vati ist da!"

Das wollte ich nun gar nicht glauben. Ich wußte von Mutti, daß er in einem Kriegsgefangenenlager war.

Ganz leise schlich ich zur Wohnungstür. Vorsichtig hob ich die Briefklappe hoch. Ich sah nur Beine. Da bückte sich Joachim auf der anderen Seite der Tür, so daß ich sein Gesicht sehen konnte, und wiederholte noch einmal: "Mach doch endlich auf, dein Vati ist da!"

Wenn doch bloß Mutti da wäre! Zögernd öffnete ich die Tür. Vor mir stand ein Soldat mit einem Holzkoffer in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken. Was ich sah, konnte ich nicht begreifen ... Zwar erkannte ich meinen Vati noch, und er sag-te auch meinen Namen, aber er wirkte recht fremd auf mich. Er war so unheimlich groß und so unheimlich dünn. Und dann fiel mir ein, daß wir in dem kleinen Zimmer, das für Mutti und mich schon zu eng war, überhaupt keinen Platz für ihn hatten.

"Mutti ist nicht da ...," waren meine ersten Worte.

Aber plötzlich begriff ich, daß da mein Vati vor mir stand, mein Vati, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich umarmte ihn stürmisch und zog ihn in das kleine Zimmer. "Schau mal, Vati, ich kann schon schreiben und rechnen!"

Mit diesen Worten zeigte ich ihm meine Schulhefte, die noch immer auf dem Schreibtisch lagen. Er nahm mich hoch und drückte mich fest an sich.
In diesem Moment riß Mutti die Tür auf. Sie war völlig außer Atem und lachte und weinte und weinte und lachte. Im Milchladen hatte man ihr erzählt, daß in der Drogerie am S-Bahnhof ein Soldat nach einer Familie mit unserem Namen gefragt hatte. Dort lagen auch Listen mit den neuen Adressen der ausquartierten Familien aus. So hatte Vati uns gefunden. Was für ein Glück! Er war erst am 3. Dezember aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager Heilbronn entlassen worden. Mutti war den ganzen Weg vom Milchladen zurück nach Hause gerannt. Sie war so glücklich. Jetzt waren wir wieder eine richtige Familie!

Noch am Abend räumten wir mit Hilfe der Wirtin das Klavier aus dem Zimmer, stattdessen kam eine Chaiselongue an den Platz. Darauf schlief von nun an Mutti und mein Vati kletterte zum Schlafen auf das obere Luftschutzbett.
Den 5. Dezember haben meine Eltern von da an immer als Gedenktag gefeiert und sich gegenseitig mit kleinen Geschenken überrascht.

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 1

Oberholz bei Much, Rhein-Sieg-Kreis im Bergischen Land;
Dezember 1945]

Später Besuch (5.190 Zeichen)
Eckhard Müller

Es war Anfang Dezember 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte sein Ende gefunden. Seit einem halben Jahr schwiegen die Waffen. Wir erwarteten das erste friedliche Weihnachtsfest seit sechs Jahren.

Das Leben hatte sich zunehmend normalisiert. Obwohl die Menschen in unserer ländlichen Gegend nicht in so hohem Maße unter dem Bombenterror zu leiden brauchten wie die Menschen in den Städten, war auch hier der Kriegsschrecken nicht spurlos vorübergegangen. Nun hieß es, zusammenrücken, denn der Strom von Flüchtlingen und Obdachlosen aus den Ostgebieten und aus den Großstädten hielt an. Wer noch ein Zimmer oder eine Kammer in seinem Hause zur Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich auf. Es gab eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare Solidarität. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde geteilt mit denen, die alles verloren hatten.

Unser kleines Fachwerkhaus, das ich mit meinen Eltern und mit meiner Großmutter bewohnte, teilten wir seit den letzten Kriegstagen mit einem älteren Ehepaar. Es waren entfernte Verwandte, und sie hatten in einer Bombennacht ihre ganze Habe verloren. Nun waren sie froh, bei uns wenigstens wieder ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben.

Die Militärregierung der Siegermächte hatte die zivile Verwaltung in ihre Hand genommen und somit Gesetz und Ordnung wiederhergestellt. Trotzdem waren die Zeiten noch sehr unruhig. Immer wieder machten umherstreunende Banden von sich reden. Es entstanden die wildesten Gerüchte. Man hörte von Greueltaten - auch aus einigen Dörfern in unserer Gemeinde. Denn der Schutz des Gesetzes war noch nicht überall gewährleistet.

Diese umherziehenden Gruppen setzten sich zum großen Teil aus ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa zusammen. Nach Wiedererlangung ihrer Freiheit waren viele von ihnen nicht mehr gewillt oder in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren. Was man ihnen nicht freiwillig gab, nahmen sie sich mit Gewalt. Dabei kam es auch verschiedentlich zu Übergriffen und Racheakten gegenüber ihren früheren Unterdrückern. Nach Einbruch der Dunkelheit war es rat-sam, Fenster und Türen gut zu verschließen. Wer draußen noch irgendeine Arbeit zu verrichten hatte, trug Sorge, sich nicht allzuweit von den schützenden Häusern zu entfernen.

Es war an einem solchen Abend in der Vorweihnachtszeit, ich glaube, es war am Abend des zweiten Advent. Meine Eltern waren eben mit der Stallarbeit fertiggeworden und wir schickten uns an, das Abendbrot zu essen, als plötzlich an unsere Haustür geklopft wurde. Mein Vater begab sich nach draußen, um nachzuschauen. Neugierig gesellte ich mich zu ihm. Ich war damals neun Jahre alt.

Da stand in der Dunkelheit ein gutes halbes Dutzend Männer. In gebrochenem Deutsch baten sie um ein Quartier für die Nacht.

Zögernd ließ mein Vater sie eintreten. Nachdem sie in unserer Wohnstube Platz genommen hatten, konnten wir sie im Scheine der Lampe näher betrachten. Sehr vertrauenerweckend sahen sie nicht aus. Das Leben auf der Landstraße hatte sie gezeichnet.

Während meine Mutter das Abendbrot zubereitete, versuchte mein Vater etwas über das Schicksal der Männer zu erfahren. Nach der einfachen, mit wenigen Mitteln zubereiteten, aber kräftigen Mahlzeit wurde beratschlagt, wie und wo man die Männer für die Nacht unterbringen könnte.

Im Hause selber war es, nicht zuletzt durch unsere Verwandten als neue Mitbewohner, ziemlich eng geworden. Also blieb nur noch die Scheune. Im Scheunenanbau befand sich der Holzschuppen, dort lagerte auch das Heu als Wintervorrat für unsere beiden Kühe. Hier im Heu richteten nun meine Eltern mit allerlei Decken und alten Mänteln ein warmes und bequemes Nachtlager her. Unsere alte Petroleumlam-pe sorgte für die nötige Helligkeit.

Kurz vor Schlafenszeit entschloß sich mein Vater zu einem "Kontrollgang", wie er sich ausdrückte. Es ließ ihm nämlich keine Ruhe, ob sich unsere Gäste auch an die Abmachung gehalten hatten, wegen der großen Brandgefahr auf das Rauchen zu verzichten. Meine Mutter bat mich mitzugehen. Im Beisein eines Kindes - so meinte sie - wäre mein Vater sicherer vor eventuellen Übergriffen.

Als wir den Holzschuppen betraten, bot sich uns im Schein der Laterne ein Bild, das ich bis heute nicht vergessen habe: Da hatte sich ein Teil der Männer unserer Sä-gen bemächtigt und sie schnitten nun die schweren Stämme, die hier als Brennholz lagerten, in Ofenlänge durch. Die anderen spalteten die klobigen Klötze mit dem Beil zu handlichen Scheiten und stapelten sie auf. Das alles bereitete ihnen ein sichtliches Vergnügen, umso mehr, als sie nun unsere ungläubigen und erstaunten Blicke sahen. Sie erklärten, das sei nur ein kleiner Dank für die freundliche Aufnahme.

Am anderen Morgen sind sie dann nach einem guten Frühstück - nicht ohne ein großes Butterbrotpaket, das jeder von ihnen zum Abschied in die Hand gedrückt bekam - weitergezogen, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen, doch immer wieder muß ich an jenen Dezemberabend denken, an dem die Angst, die Voreingenommenheit und das Mißtrauen besiegt wurden durch ein wenig Menschenfreundlichkeit.

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Flüchtlingslager "Finnenhäuser"
zwischen Hüpede und Bennigsen bei Hannover;
1949

Die Schüssel auf dem Schrank (2.656 Zeichen)
Klaus Seiler

Pfefferkuchen-Backzeit. Der Pfefferkuchen mußte ja rechtzeitig gebacken werden, damit die harten Plätzchen zu Weihnachten weich waren und ihr volles wunderbares Aroma entfalteten. Diese unvergleichlichen Pfefferkuchen meiner Mutter! Warum bloß hat sie das Rezept nie herausgerückt?

Sie hat es einfach mitgenommen. Manchmal denke ich, es gab gar kein geschriebe-nes Rezept, sie hatte es in den Händen - und es stimmte immer!
Der braune Teig war Knetarbeit: eine Mischung aus Mehl, Kunsthonig, erhitztem Sirup und anderen Zutaten und vor allem aus "Haima-Neunerlei", der geheimnisvol-len Gewürzmischung aus dem silbrigen Tütchen. Es lag ein betörender Duft im Raum, wenn meine Mutter den Teig zubereitete.
Der Teig wurde lange gewalkt, geknetet und zur Kugel geformt, bis schließlich für ihn eine Zeit des Ausruhens kam. In eine Blechschüssel gelegt, mit einem karierten Tuch bedeckt, in sicherem Abstand auf den Schrank gestellt. Da konnte er in Ruhe gehen.

Normalerweise jedenfalls. Nicht jedoch in dem einen Jahr. Es war wieder ein Junge zum Spielen gekommen. Meine Schwester weiß noch seinen Namen: Armin. Abgelenktes, halbherziges Spielen der Kinder in dieser Pfefferkuchen-Luft. Die Gewürze in der Nase, die Blicke immer wieder auf den Tisch gerichtet, auf dem das Mehl zum Ausrollen des Teigs schon ausgestreut war, die leicht verbogenen, genieteten Pfef-ferkuchenformen zum Greifen nah.

Nach der Ruhezeit für den Teig konnte endlich das Ausstechen beginnen. Tannen-bäumchen, Engel, Herzen, Pilze, Karos ... Mein Vater verstand es außerdem, mit dem Messer breitbeinige Weihnachtsmänner auszuschneiden und ihren Mantel mit Wallnußknöpfen und das Gesicht mit Haselnußaugen zu verzieren. Sie überstanden jedoch nur in seltenen Fällen die Backhitze, kamen meistens ziemlich arm- und beinverletzt aus dem Ofen. Es paßte in die Zeit.
Meine Mutter langt nach der abgelaufenen Zeit auf den Schrank, zieht das Tuch weg - die Schüssel ist leer!

Armin ist inzwischen verschwunden. Irgendwie unbemerkt. Er muß den Teig regel-recht in sich hineingestopft und verschlungen haben!

Wir haben sein Tun nicht bemerkt. Er muß dazu doch immer wieder aufgestanden, ja auf einen Stuhl gestiegen sein, so klein wie er war. Wir haben es nicht gesehen oder wollten es einfach nicht sehen. Er muß so ausgehungert gewesen sein. Irgend etwas muß uns blind gemacht haben ...
Wie es wohl der Kugel in seinem Bauch ergangen ist?
Sie war doch noch dabei zu gehen ...

Wir jedenfalls brauchten schnell einen neuen Backtag und dringend ein neues Tütchen "Haima-Neunerlei" ...

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 1

Mühlhausen, Thüringen, damals DDR;
Ende der 50er Jahre

Warten auf das Christkind (7.000 Zeichen)
Elisabeth Schmack

Es war Ende der fünfziger Jahre. Ich hatte das Schwesternexamen bestanden und glaubte voll jugendlicher Arroganz, nun alles zu wissen, was man in der täglichen Arbeit auf Station benötigte. Doch Theorie und Praxis ...

Irgendwie konnte ich beides nicht in Einklang bringen. Ich wurde immer unsicherer. Zweifel kamen mir, ob es der richtige Beruf für mich sei. Dabei war es einmal mein größter Wunsch gewesen, Schwester zu werden. Was mir am meisten zu schaffen machte, war Verantwortung zu tragen, wenn ich den Spät- oder Nachtdienst allein durchstehen sollte. Ich scheute mich, darüber zu sprechen. Niemand schien zu be-merken, wie mich die Unsicherheit quälte.
Inzwischen waren einige Wochen nach meiner Fachschulzeit vergangen. Ich arbei-tete auf der Privatstation des Chefarztes unseres Kreiskrankenhauses. Er war streng zu dem Personal, was meine Unsicherheit vielleicht noch nährte. Ich hatte mich wahrlich nicht darum gerissen, hier zu arbeiten, sondern wurde von der Kran-kenhausleitung als Absolventin zu dieser Station dirigiert.
Es wurde Weihnachten. Am Heiligabend mußte ich um 20 Uhr den Nachtdienst auf der kleinen, überschaubaren Station antreten. In den Korridoren des Krankenhau-ses begegneten mir die letzten Besucher, die in Richtung Ausgang eilten. Sie zogen den Nadelduft der Stationstannen und das Weihraucharoma der heruntergebrann-ten Kerzen wie unsichtbare Schleier hinter sich her. Doch mir war nicht weihnacht-lich. Der Dienstplan war noch in letzter Minute umgeschrieben worden. "Da Sie keine Familie haben, macht Ihnen das doch nichts aus?"

Das klang mehr nach einer Feststellung als nach Frage.
Na ja, dachte ich, wenigstens wird es eine ruhige Nacht werden, wenn ich meiner Vorgängerin vom Tagdienst Glauben schenken konnte. Die Schwangere, die seit dem Nachmittag in dem kleinen Kreißsaal der Station lag, hatte sie mit einer Hand-bewegung abgetan: "Wieder mal viel zu früh da. Typisch Erstgebärende, bißchen Ziepen und gleich in die Klinik kommen. Sie wissen ja, wie das ist."

Nichts wußte ich, Geburtshilfe wurde auf der Fachschule nur gestreift. Das wäre Sache der Hebamme. Im Kreißsaal und Operationssaal durften wir Schülerinnen nur in Türnähe stehen, um nichts unsteril zu machen. Mir wurde heiß und kalt. Wenn das nun in meiner Schicht losgeht?

Ich konnte nicht zu Ende denken. Der gestrenge Chef schaute im Festanzug nochmal nach der Patientin, die angefangen hatte zu stricken, er sagte Artigkeiten wie, es würde heute nichts werden mit einem Christkind und sie habe noch Zeit. Das beruhigte die junge Frau und normalisierte meinen Puls. Beim Hinausgehen wünschte er frohe Weihnacht und sagte: "Ich bin jederzeit erreichbar." An der Tür blitzten mich seine Brillengläser noch einmal intensiv an: "Jederzeit, Schwester!"

Die werdende Mutter nahm ihre Strickarbeit wieder auf, ein Babyjäckchen, hellgrün, da sie nicht wußte, was das Schicksal für sie bereithielt.

Ultraschallaufnahmen gab es damals noch nicht, zumindest nicht in unserem Krankenhaus. Ich machte meine erste Runde durch die gemischte Station. Der kleine Kreißsaal wurde selten be-nutzt. In den paar Wochen, in denen ich hier arbeitete, wäre es zum ersten Mal, daß ... Ein Stöhnen riß mich aus meinen Gedanken. Lieber Gott, bitte, bitte, nicht in meiner Schicht!

Die Patientin wälzte sich auf der schmalen Liege. Das Strickzeug lag am Boden. "Schwester, Schwester, da tut sich was!"

Der Chef traf kurz nach dem Anruf ein. Er wohnte nur zwei Autominuten entfernt und die Straßen waren kaum befahren. Es waren keine Wehen, wie ich leicht vor-wurfsvoll zu hören bekam, sondern ganz gewöhnliche Blähungen. Die Frau hatte zu Hause noch ein Mittagsmahl eingenommen, Karpfen und Sauerkraut gehörten zum traditionellen Heiligabendessen ihrer Familie. Ich mußte für Magentee sorgen und kam mir dabei recht klein und dämlich vor.

Der Tee tat anscheinend gut, denn bald klapperten die Stricknadeln wieder. Ich versah meine Arbeit weiter. Es war das Übliche, was für den Nachtdienst anfällt. Hinzu kam das Wiederherrichten der großen Tanne auf dem Flur: Neue Kerzen auf-stecken, Lametta und trockene Nadeln zusammenfegen und festliche Ordnung schaffen. Zwischendurch mein leises Stoßgebet, daß die Geburt nicht in meiner Schicht passieren möge.

Nach Mitternacht hatte ich mich vom ersten "Wehenanfall" erholt. Zu dieser Zeit ist es auf einer Station ohne Frischoperierte oder Schwerkranke ruhig, nicht aber in unserem kleinen Kreißsaal. Von dort rief es: "Schwester, es geht los!"
Vorsichtshalber wollte ich mich vor einem erneuten Telefonat erst einmal selbst ü-berzeugen, daß ich nicht wieder einer Täuschung zum Opfer fiel. Doch da kam ich bei meiner Patientin schlecht an. Diesmal sei es ganz sicher, und sie würde nur den Doktor akzeptieren. Sie machte mir deutlich, daß sie schließlich Privatpatientin sei. Zu beruhigen war sie nicht. Und ich war zu ängstlich und konnte nicht einschätzen, ob die Anwesenheit des Arztes wirklich notwendig war. Ich hatte vorher versucht, Rat beim diensthabenden Arzt des Hauses zu holen. Er meinte: "Chefpatientin? Nur bei Lebensgefahr."

Das allerdings war ja wohl wirklich nicht der Fall. Also Anruf! Der Chefarzt war wie-der sofort da, den Kittel über dem Schlafanzug. Er stellte leichte Ischialgie fest. "Da hilft etwas Einreibung, etwas Bewegung. Die Liege ist hart. Sie machten mir gestern abend aber doch einen recht erfahrenen Eindruck, Schwester." Seine Stimme klang ärgerlich. Ein Lob war das nicht.
Nach all diesen für mich unrühmlichen Aufregungen braute ich mir in der Stationsküche einen starken Kaffee.

"Den könnte ich jetzt auch brauchen", klang es kleinlaut hinter mir. Die Hoch-schwangere hatte es auf der Liege nicht mehr ausgehalten. Rücken und Bauch massierend stand sie im Nachthemd in der Küche. Warum sollte ich ihr das ab-schlagen?

Weihnachten war für uns beide verkorkst. Beide mußten wir warten. Sie auf das Kind und ich auf das Schichtende. Wir tranken den Kaffee im Kreißsaal. Es war wohl eine unbewußte Vorausschau meinerseits. Der Kaffee tat gut und machte mich wieder munter, aber anscheinend auch das Kind. Nachdem ich mich noch etwas mit der werdenden Mutter unterhalten hatte, trug ich das Geschirr in die Küche. Da hörte ich sie rufen. Diesmal klang es noch dringlicher als vorher. Das Telefon!

Nein, zweimal blamieren reicht. Es blieb auch kaum Zeit zum Überlegen. Es ging Schlag auf Schlag. Blasensprung, kaum Wehen. Schon guckte das Köpfchen heraus, dann das ganze Christkind. Ich hatte gerade noch Zeit, die sterilen Handschuhe über meine zitternden Hände zu streifen. Jetzt alles tun, was notwendig ist, ging es mir durch den Kopf, und keine Unsicherheit hinderte mich dabei. Es war, als hätte mir jemand die Hände geführt.

An den Chef dachte ich erst später, ich hätte ihn längst anrufen müssen. Da wird es sicher Ärger geben. Aber das war mir jetzt egal, denn ich hörte die glückliche Mutter mit dem Kind im Arm sagen: "Das war mein schönstes Weihnachten!"

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Aus "Unvergessene Weihnachten" Band 1

Walsrode in der Lüneburger Heide, Landkreis
Soltau-Fallingbostel, Niedersachsen;
Weihnachten 1950

Willis Heimkehr (8.761 Zeichen)
Ernst Haß

Einer der Transporte, die nach dem Krieg bis weit in die fünfziger Jahre hinein Rußlandheimkehrer über das Lager Friedland nach Deutschland zurückbrachten, erreichte im Dezember 1950 Walsrode. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der dortigen Landeskrankenanstalt (LKA) beschäftigt. Von meinem Arbeitsplatz in der Telefonzentrale aus konnte ich am ersten Weihnachtstag unsere ehemaligen Ostfrontsoldaten beim Aussteigen beobachten, überwiegend Männer von 40 bis 45 Jahren, aber auch einige jüngere. Etliche waren so stark abgemagert, sie hätten wohl zweimal in die Wattejacken hineingepaßt, die sie zur Entlassung erhalten hatten. Sie schienen sehr müde und auch psychisch am Ende zu sein. Die Augen dieser Männer waren leer.

Nun standen sie da und wußten nicht recht, wie es weitergehen sollte. Daß sie hier keiner anschrie und über sie bestimmte, daß sie keine Plennys - Gefangene - mehr, sondern frei waren, hatte wohl noch keiner richtig begriffen. Vielleicht warteten sie auf ein Kommando?

Statt dessen erschienen unsere Krankenschwestern und brachten alle Heimkehrer in die große Turnhalle, die man als Notunterkunft vorsorglich gut geheizt und mit Matratzen und Wolldecken ausgelegt hatte. Hier erhielten die Heimkehrer zu essen und zu trinken. Unsere Ärzte untersuchten sie anschließend.

Jahrelang hatten diese Männer in Rußland kein Weihnachten mehr erlebt. Viele weinten. Fragen nach den Familienangehörigen tauchten auf. Ich hatte in der Telefonzentrale plötzlich reichlich zu tun. Alle wollten mit ihren Verwandten telefonie-ren. Die Mädchen in der Telefonzentrale der Post in Walsrode waren einmalig, sie brachten die tollsten Verbindungen zustande. Ich wurde Zeuge dieser Gespräche, ob ich wollte oder nicht. So erlebte ich viel Freude, viel Kummer und Leid mit.

Ein noch jung aussehender Heimkehrer stellte sich vor: Willi Mußmann sei sein Name. Ob er telefonieren dürfe?

"Natürlich", sagte ich. Nach kurzer Zeit hatte ich die Verbindung hergestellt. Auf der anderen Seite meldete sich eine Männerstimme: "Tischlerei Mußmann, guten Tag."

Ich stellte mich als Mitarbeiter der LKA Walsrode vor und fragte vorsichtig:

"Sind Sie der Vater von Willi Mußmann?"

"Ja, der bin ich, aber was soll das? Mein einziger Sohn ist seit 1944 verschollen."

Ich antwortete freudig: "Das stimmt nicht, Herr Mußmann. Ihr Sohn steht hier neben mir und will mir den Hörer aus der Hand reißen. Ich übergebe das Gespräch!"

Nach einer Weile reichte mir der Mann den Hörer ganz verstört zurück: "Mein Vater sagte, daß sein Sohn Willi nicht mehr lebt und meint, daß ich ein Betrüger sei. Aber ich lebe doch noch! Was soll ich nur machen?"

Er weinte und mir kamen auch schon die Tränen. Es war schlimm. Schließlich konnte ich ihn beruhigen und ließ ihn erzählen. Er sprach von seiner Kindheit in Winsen, von seiner Schwester Änni, die eines Tages vom Apfelbaum herunterfiel. Er bekam Schläge, weil er als älterer Bruder hätte aufpassen müssen. Wir unterhielten uns etwa eine halbe Stunde. Danach schien mir sicher, daß dieser Willi Mußmann echt und kein Betrüger sei. Wie konnte ich ihm nur helfen?

Zunächst schickte ich ihn in die Turnhalle zurück: "Du bekommst von mir Bescheid, beruhige dich erst einmal!"

Ich überlegte eine Weile und entschloß mich, nochmals bei Mußmanns anzurufen. Jetzt meldete sich auf der anderen Seite eine Frauenstimme: "Hier Tischlerei Mußmann!"

Sicher hatte mein Anruf für Aufregung gesorgt und so versuchte ich, die Wogen wieder zu glätten. Sie sagte: "Ja, das hat wirklich eine ziemliche Aufregung ins Haus gebracht. Vater war sehr aufgebracht, hat geschimpft und mehrfach ,Betrüger!' gerufen. Was ist denn überhaupt los?"

Ich fragte sie, ob sie die Schwester von Willi Mußmann sei, was sie bestätigte. Nun erklärte ich wie schon beim ersten Telefonat den Grund meines Anrufs. Aber auch sie zweifelte noch daran, daß es sich hier wirklich um ihren verlorengeglaubten Bruder handelte. Wir überlegten gemeinsam, wie sich die Familie Gewißheit verschaffen könne und vereinbarten, daß sie mit ihren Eltern nach Walsrode kommen sollte. Den Bruder informierte ich nicht über diese Absprache, es sollte eine Überraschung sein. Falls es sich um einen Betrüger handelte, würde man ihn anzeigen.
Zu Hause sprach ich mit meiner Frau darüber. Wir waren gespannt, wie diese Geschichte ausgehen würde.

Am nächsten Morgen, es war der zweite Weihnachtstag, stellte sich gegen zehn Uhr die Familie Mußmann bei mir in der Telefonzentrale ein. Gemeinsam mit Eltern und Tochter ging ich hinüber zur großen Turnhalle, wo die 60 Heimkehrer untergebracht waren. Beim Hineingehen gab ich den traurigen Zustand der Heimkehrer zu beden-ken. Wir waren noch keine zwei Minuten in der Halle, als der junge Mußmann auf-sprang. Er lief auf uns zu und rief dabei "Änni, Änni!"

Bruder und Schwester fielen sich in die Arme. "Mein Willi, mein Willi ..." brachte Änni hervor. Sie umarmten und küßten sich, beide weinten vor Freude. Ihren Eltern sagte Änni: "Mama und Papa, das ist unser Willi!"
Ich beobachtete die beiden. Sie standen da wie versteinert und sahen regungslos zu. Wollten sie nicht wahrhaben, daß dieser Mann ihr Sohn war? Auf meine Fragen antworteten die Eltern: "Das ist nicht unser Sohn. Unser Willi hat anders ausgese-hen. Er war viel kleiner und von schmächtiger Gestalt, dieser Riese ist ein Schwindler!"

Wie ich inzwischen wußte, war Mußmanns Sohn mit 16 Jahren freiwillig zum Volks-sturm gegangen. Damals war er 1,62 m groß und wog keine 50 Kilo. Willi geriet in russische Gefangenschaft. Die schwere Arbeit in einem sibirischen Bergwerk hatte ihn körperlich verändert. Der damals noch nicht ausgewachsene Junge hatte jetzt breite Schultern und eine stattliche Größe von 1,83 m.
Als Willi nun auf seine Mutter zuging, um sie in den Arm zu nehmen, wehrte diese ab und sagte: "Sie sind nicht mein Sohn. Sie sind ein Betrüger!"

Beide Eltern schüttelten den Kopf. Diese Dramatik - es war fürchterlich! Es ging auch mir unter die Haut! Ich glaubte, die Zeit stünde still. Als der Vater nun auch noch meinte: "Nein, das ist nicht unser Junge!" war das Maß für mich voll. Ich mischte mich wieder ein und sagte: "Kommen Sie bitte mit, damit wir andernorts darüber verhandeln können."

Willi Mußmann stand mit seiner Schwester im Arm ganz verstört da. Änni beharrte: "Ohne Willi gehe ich hier nicht weg, komme was will!" Sie klammerte sich an ihren Bruder.

Nun redete die Mutter auf Änni ein: "Komm, mein Kind. Er ist nicht dein Bruder!"

"Doch Mama, er ist es. Gerade hat er mir erzählt, wie ich damals vom Apfelbaum gefallen bin und wie Papa ihn verhauen hat. Er weiß auch, wo wir im Garten immer am liebsten gespielt haben!"

Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft, und viele Heimkehrer standen schon um uns herum. Ich konnte die Eltern einfach nicht verstehen. Man muß doch sein eigenes Kind wiedererkennen, dachte ich.

Endlich stellte die Mutter Fragen an ihn, die nur ihr einziger Sohn beantworten konnte. Plötzlich wurde sie schneeweiß im Gesicht und fiel in Ohnmacht. Willi konnte seine Mutter gerade noch auffangen. Er küßte sie und sie kam wieder zu sich. "Er ist es, er ist es! Er ist mein Willi!" rief sie glücklich und legte ihre Arme um seinen Hals.

Der Vater stand immer noch ungläubig dabei und stellte seinerseits Willi nun Fragen. Wo er in der Werkstatt am liebsten gespielt, an welchen Holzstützen er immer Nägel mit dem kleinen Hammer hineingeschlagen habe?

Als Willi dies alles richtig beantworten konnte, wischte der Vater sich mit der Hand über die Augen und gab zu: "Mudder, das ist doch unser Junge! Herrgott ich danke dir, daß du uns unseren Sohn zurückgegeben hast!"

Er nahm seinen Sohn in den Arm, Willi hielt seine Mutter dabei fest umklammert. Änni weinte und lachte gleichzeitig vor Glück.

Während ich dies schreibe, erlebe ich alles noch einmal - die innere Anspannung, die heftigen Gefühle. Ich sehe die Mußmanns noch vor mir, wie sie alle vier glücklich die Halle verlassen. Sie ließen sich die Entlassungspapiere geben und nahmen den jungen Mann gleich mit nach Hause.

Am anderen Tag meldete sich Willi Mußmann noch einmal telefonisch bei mir. Ob er etwas vergessen habe, fragte ich. "Ja, ich habe gestern vor lauter Glück vergessen, mich von Ihnen zu verabschieden, auch Dankeschön zu sagen! Ich bin so glücklich, wieder zu Hause zu sein. Vielen Dank für Ihre Hilfe! Alles Gute für Sie und Ihre Familie. Und einen guten Rutsch ins neue Jahr!"

Ich freute mich mit ihm. Damals war ich 37 Jahre alt und Willi Mußmann nach fünfjähriger Gefangenschaft 21. Heute müßte er also 72 oder 73 Jahre alt sein! Vielleicht führen seine Kinder die Tischlerei weiter, und es meldet sich immer noch jemand mit "Tischlerei Mußmann, guten Tag"?

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