[Frühjahr
1945: Nach der Kapitulation der Stadt Breslau werden die deutschen
Soldaten - darunter auch Peter Bannert - sowjetische Kriegsgefangene]
Auszug:
S. 97–99
Am
9. Mai erfuhren wir von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.
Mit einem dumpfen Gefühl nahmen wir die niederschmetternde
Nachricht auf. Natürlich kam sie nicht unerwartet, dennoch
bedrückte uns die endgültige Niederlage. Jetzt glaubte
ich, die Worte des Generals Niehoff zu verstehen, die er drei
Tage zuvor zu uns gesprochen hatte. Mit seiner Kapitulation
hatten wenigstens für uns einige Bedingungen ausgehandelt
werden können! Flucht lohnte sich also nicht.
Unsere Bewacher jubelten über die Nachricht, die uns
traurig stimmte. Endlich endete ihr weiter Weg von der Wolga
bis hierher, und sie lebten! "Woina kaputt! Gitler kaputt!"
riefen sie, wobei sie ihre Mützen in die Luft warfen.
Ein Bärtiger klopfte mir auf die Schulter, ich sollte
mich auch freuen.
"Ja - kaputt"‚ murmelte ich betrübt.
Ein Gespräch entwickelte sich: "Wie alt bist du?"
Unsere Finger halfen, die auf russisch gestellte Frage nach
meinem Alter zu verstehen.
"Fünfzehn Jahre", antwortete ich.
Er wiegte bedächtig den Kopf. Dann äußerte
er etwas Erstaunliches: "Gitler i Stalin tak!" Dazu
bewegte er seine Hand auf unmißverständliche Weise
zum Hals. Daß er Hitler haßte, war verständlich,
aber daß auch Stalin in seinen Augen an den Galgen gehörte?
Bei einer anderen Gelegenheit unterhielt ich mich mit einem
jüngeren Russen, der etwas deutsch verstand. Auch von
ihm vernahm ich Seltsames: Ich fragte ihn, wie lange wir gefangen
bleiben würden, und er antwortete, da in der Sowjetunion
alles nach Fünfjahresplan ablaufe, würden wir wohl
nach fünf Jahren wieder freikommen. Ich lachte und glaubte
ihm nicht. Er war auch der Meinung, daß Deutschland
in fünf oder zehn Jahren wieder groß und stark
sein würde, doch auch das konnte ich mir nicht vorstellen.
Im
Lager Fünfteichen
Endlich, am dritten Tag unseres Marsches, erreichten wir gegen
Mittag unser Ziel, ein großes Lager unweit des Dorfes
Fünfteichen. Angesichts der Nähe zu Breslau verstanden
wir nicht, weshalb wir drei Tage und Nächte lang marschiert
waren.
Einmal mehr bewahrheitete sich der Landserspruch: "Die
meiste Zeit seines Lebens wartet der Soldat vergebens!"
Stundenlang saßen wir auf dem Feld vor den Lagertoren.
In der Nähe stand ein verlassener Verpflegungswagen,
niemand schien ihn zu beachten. Einige Kameraden und ich inspizierten
ihn, und wir erbeuteten Zucker, Haferflocken und Kaffeeschrot.
Diese drei Ingredienzien vermischten wir im Kochgeschirr miteinander
- das ergab eine marzipanartige Speise. Ich erinnerte mich
daran, wie wir in den ersten Kriegsjahren zu Hause einen wohlschmeckenden
Marzipanersatz aus Grieß, Zucker, Milchpulver und Kakao
zubereitet hatten. Unsere Fünfteichner Mischung schmeckte
zwar erheblich trockener, dämpfte aber für eine
gewisse Zeit unser Hungergefühl. Wir bekamen großen
Durst, den wir an einem Wasserwagen stillen konnten.
Zur Verrichtung unserer Notdurft drückten wir uns an
den Stacheldrahtzaun. Die Wachtürme waren noch nicht
besetzt, daher sah uns dabei niemand. Als Toilettenpapier
benutzte ich Geldscheine - in der falschen Annahme, die Reichsmark
sei inzwischen ungültig. Doch ich besaß kein anderes
Papier, und unweit des Zaunes lagen ausreichend Banknoten
herum. Aufgrund einer Lagerparole hatten die Landser ihr Geld
weggeworfen, und ich verschaffte mir einen ansehlichen Vorrat
dieses "Toilettenpapiers".
Im Laufe des Tages ließ der Gebietsführer Hirsch
die Kampfgruppe Hitlerjugend im Karree antreten. Er sprach
einige Dankesworte und gab Beförderungen bekannt. Er
selbst war zum Leutnant aufgestiegen, Leutnant Lindenschmidt
avancierte zum Oberleutnant. Da die HJ-Dienstränge bald
nicht mehr anerkannt würden, wandelte man sie in militärische
um. "Damit ihr mit einem vernünftigen Rang nach
Hause kommt!"
Wie die meisten von uns wurde ich so mit meinen fünfzehn
Jahren zum Gefreiten. Manchmal nannte ich mich selbst scherzhaft
"des Führers jüngsten Gefreiten". Hitler
selbst hatte es in vier Jahren des Ersten Weltkrieges nur
bis zum Gefreiten gebracht - ich besaß nun den selben
Rang schon nach vier Monaten! Feldwebel Stosiak verlieh mir
das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. In Ermangelung des eigentlichen
Kreuzes überreichte er mir ein Stück Ordensband,
das ich am Knopfloch befestigte.
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