Leseproben
aus »Zwischen Kreuz und Hakenkreuz«
Vorwort
Der
30. Januar 1933
»Ein
jeder muss zum Arbeitsdienst«
Über
Rom nach Monte Cassino
zum
kompletten Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Der Wert von Biographien für die historische Erkenntnis ist umstritten.
Die Gegner bezweifeln, dass aus der Perspektive des Individuums die
Konturen eines Zeitbildes zu erkennen seien. Die Fürsprecher hingegen
erklären, dass die Entwicklungen im Großen unanschaulich,
ja unverständlich bleiben, sofern sie nicht am Beispiel des einzelnen
Teilnehmers veranschaulicht würden. Dies gilt namentlich für
die Autobiographie, die Authentizität beanspruchen kann und dann
zugleich in irgendeiner Form als repräsentativ gelten darf. In
diesem Sinne betonte Goethe in seiner Einleitung zu »Dichtung
und Wahrheit«: »Dies scheint die Hauptaufgabe der Biographie
zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen«.
Eben darum geht es in der vorliegenden Schrift.
Jürgen Boeckh, Jahrgang 1922, Sohn eines Wirtschaftsjuristen und
einer Künstlerin, entstammt einer evangelischen Akademiker- und
Offiziersfamilie Berlins. Er ist väterlicherseits ein Urenkel des
hochbedeutenden Altertumsforscher August Boeckh, der 1810 das Vorlesungsverzeichnis
der Friedrich Wilhelms-Universität eröffnet, und ein Verwandter
von Max Planck. Der durch wissenschaftliche und persönliche Publikationen
hervorgetretene Autor beschreibt eindrucksvoll und lebensnah Elternhaus
und Schulzeit, geprägt durch ausgesuchte Lektüre, durch Wandervogel-Ideale
und kirchliche Jugendarbeit. Sie bewegte sich, nach 1933 von der Partei
»bündischer Umtriebe« verdächtigt, am Rande der
Legalität. Trotz Reserven gegen den Nationalsozialismus
damals Palladium einer jugendlichen »Avantgarde« gegen die
bedenklichen Alten dachte Boeckh zunächst an eine Offizierslaufbahn
und kam über den Arbeitsdienst in den Krieg. Über die Deportation
der Juden war er informiert, nicht jedoch über ihr weiteres Schicksal.
Boeckh stand als Fahnenjunker der Artillerie in Russland, Frankreich
und Italien. Wiewohl er zumeist in der Etappe eingesetzt war, kam er
mit Partisanen nur in Italien in Berührung. Der dort durch Naturbetrachtung,
touristische Besichtigungen, Kino- und Opernbesuche in Rom aufgelockerte
Fronteinsatz wirkt streckenweise geradezu idyllisch, aber als »vorgeschobener
Beobachter« am Brückenkopf Nettuno musste er besonders die
schreckliche Seite des Krieges kennen lernen.
Die Darstellung der Zeit vor 1945 verrät unvermeidlich einerseits
das am Kriegsende zutage getretene Wissen und andererseits den danach
erfolgten Eintritt in den geistlichen Beruf. Der Autor erweist sich
als bewusster und aktiver Christ mit Verbindungen zur Bekennenden Kirche.
Einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Glaube und Kriegsdienst
sieht er ebenso wenig wie Paulus, Augustinus und Luther. Seine Gefangenschaft
bei den Russen schildert sein Buch »Mit der Bibel hinter Stacheldraht«
(1981). Gottvertrauen und ein gütiges Schicksal bewahrten ihn in
schwerer Zeit, die er seelisch unbeschädigt durchlebte, ja als
erträglich beschreibt ein bemerkenswertes Buch, das unter
den Zeitzeugnissen einen eigenen Akzent setzt.
Prof. Dr.
Alexander Demandt
Ordinarius am Friedrich-Meinecke-Institut der
Freien Universität Berlin
12. Juli
2005
Der 30.
Januar 1933
Wir saßen am Esstisch. Im Flur klingelte das Telefon. Ich lief hinaus
und nahm den Hörer ab. Es war meine Großmutter. Ganz aufgeregt
sagte sie:
»Habt ihr schon gehört, Hitler wird Reichskanzler.«
Sie war begeistert, und ich sollte die Freudenbotschaft weitergeben. Als
mein Vater hörte, was geschehen war, ließ er das Essen stehen,
stand auf und sagte:
»Das bedeutet Krieg.«
In der folgenden Zeit habe ich sicher nicht oft an diese Episode gedacht.
Aber einige Jahre später erinnerte ich mich ihrer umso deutlicher.
Am 30. Januar 1933 war ich neun Jahre alt.
Großmama
Adelheid von Tzschoppe mit Tochter Gisela und wir Jungen (von links
nach rechts) Walter, Eckhard, Jürgen und Dietrich.
Hitler
war mir am 30. Januar 1933 durchaus schon ein Begriff. Zwei oder drei
Jahre früher war das noch nicht so. Bis zum März 1932 wohnten
wir in Halensee, in einer Querstraße vom Kurfürstendamm.
In den Weihnachtstagen (1930 oder 1929) kamen unsere nächsten Verwandten
zu uns und damit auch zwei Schwestern meiner Mutter und ihr Bruder.
Wir Kinder spielten und kümmerten uns nicht um die Erwachsenen.
Plötzlich wurde es laut, aber diesmal waren es nicht die Kinder,
die Lärm machten. Im Gegenteil, sie verstummten. Der Onkel stand
auf und rief:
»Ich habe keine Schwester mehr!«
Danach verließ er unsere Wohnung. Bald erfuhr ich, worum es ging.
Es ging um die Politik. Der Onkel war der einzige »Nazi«
in der Runde. Eine solche Auseinandersetzung im Familienkreise hatte
ich bis dahin nicht erlebt.
Die Querstraße
zum Ku-Damm war die Johann-Georg-Straße. Wir wohnten im vierten
Stock. Ein Stockwerk unter uns, aber im Hinterhaus, brannte immer noch
Licht, wenn andere Leute schon längst schliefen. Das interessierte
meinen jüngeren Bruder und mich. Von unseren Eltern erfuhren wir,
dass dort ein Dichter wohnte, fast so alt wie unser Vater. Von ihm durften
wir von Zeit zu Zeit den »Heiteren Fridolin«, eine Jugendzeitschrift,
abholen. Erst in den Siebzigerjahren entdeckte ich am Durchgang zum
Hinterhof des Hauses Johann-Georg-Str. 20 eine Gedenktafel für
den Schriftsteller und Philosophen Salomo Friedländer »Fridolin!«,
damals hatte ich den Namen des Dichters längst vergessen. Die Tafel
wurde zum 300. Gründungstag der Jüdischen Gemeinde in Berlin
1971 angebracht.
In meinem Taschenkalender von 1931, dem ersten, den ich hatte, sind
(noch) die israelitischen Feiertage angezeigt, ab 1934 fehlten sie!
Einmal zeigte uns der Vater die Synagoge in der stillen Markgraf-Albrecht-Straße
am Kurfürstendamm. Fast alle Jungen und Mädchen unserer Schule
waren protestantisch, aber es gab auch katholische und jüdische
Kinder. Das war für uns selbstverständlich eine Frage der
Religion, nicht der »Rasse«.
Abgesehen von dem Familienkrach im Weihnachtszimmer sind mir die politischen
Kämpfe bis zu den Straßenschlachten verborgen geblieben.
Dreimal im Laufe weniger Jahre hatten wir unseren Laubengarten in der
Nähe aufgeben müssen, weil gebaut wurde. Dann bemühten
sich meine Eltern, mit ihren vier Jungen, von denen ich der älteste
war, ins Grüne zu ziehen. Im März 1932 bekamen wir in Berlin-Lichterfelde-Ost
eine Wohnung mit Vorgarten in der Promenadenstraße, ganz nahe
am Marienplatz. In dem dichten Gebüsch konnte man Höhlen bauen,
und irgendwann habe ich dort auch meine erste Zigarette geraucht, eine
»Caid« zu 3 1/3 Pfennigen.
Unser
Haus in Lichterfeld-Ost, Schillerstraße 22
Wir sammelten Zigarettenbilder, die in den Schachteln enthalten waren:
Flugzeugtypen, Autos, Wappen, Volkstrachten und Uniformen aus alter
und neuer Zeit. In den »Trommler«-Zigaretten gab es über
längere Zeit die Uniformbilder, auf denen man das kreisrunde SA-Zeichen
mit der Aufschrift »Gegen Trust und Konzern« sehen konnte.
Was das bedeutete, wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass die
Kommunisten die gleiche Parole benutzten. Bald nach der nationalsozialistischen
»Kampfzeit« verschwanden diese antikapitalistischen Schlagwörter.
Wir
vier Jungen am Halensee, von links Jürgen, Eckhard, Dietrich und
Walter.
Zur Schule gingen wir in die Kastanienstraße auf der anderen Seite
der Anhalter Bahn, die nach Süden fuhr. Die S-Bahn fuhr 1932 erst
bis Lichterfelde-Ost. Nach drei Schuljahren in Halensee kam ich nun
in die 5. Klasse. Die unterste war damals nämlich die 8. Klasse.
Wer nicht auf eine Höhere im Volksmund »Hohe«
Schule überging, schloss die Volksschule mit der 1. Klasse
ab. Ein Schulwechsel ist meist eine unangenehme Sache, besonders, wenn
man von vielen Freunden Abschied nehmen muss, wie es mir erging. In
der Kastanienschule, heute offiziell »Unter den Kastanien«,
war die Klasse voll gepfropft bis zum letzten Platz. Gelegentlich saß
auf einer Zweier-Bank noch ein dritter Junge in der Mitte auf dem Verbindungsstück
zwischen Tisch und Bank. Ich war in einer K(Knaben)-Klasse. Es gab auch
M(Mädchen)-Klassen und KM-Klassen.
Eine Weile saß ein Junge neben mir, der während der Stunde
die Holzstifte, mit denen die Schuhsohlen befestigt waren, herauszog.
Ich fragte ihn, warum er das mache. Seine Antwort:
»Dann bekomme ich neue Schuhe vom Sozialamt.«
Das war meine erste Bekanntschaft mit der »Sozialen Frage«.
(...)
Jürgen
Boeckh 1936
»Ein
jeder muss zum Arbeitsdienst«
Mir war bekannt, dass es in der Weimarer Zeit einen freiwilligen Arbeitsdienst
gegeben hatte, der unter anderem der Arbeitslosigkeit wehren sollte.
Jetzt aber hieß es:
»... fünfundzwanzig Pfennig ist der Reinverdienst,
ein jeder muss zum Arbeitsdienst
und dann zum Militär.«
Jeden Tag musste ich mit meiner Einberufung zum »Reichsarbeitsdienst«
(RAD) rechnen. Pfarrer Weschke sprach mit mir über die Zeit, die
nun vor mir lag. Er sagte: »Versuche immer, wenn Du in eine andere
Einheit kommst, sei es im RAD oder beim Kommiss, als Christ Farbe zu
bekennen!«
Seit Kriegsbeginn segnete Eugen Weschke die jungen Leute, die einberufen
werden sollten, unter Handauflegung in der Lichterfelder Dorfkirche.
So war es nun auch bei mir. Diese Segenshandlung war mir mindestens
ebenso wichtig wie die Konfirmation. In diesen Tagen traf ich noch einmal
meinen Konfirmator, Pfarrer von Lutzki, auf der Straße. »Pass
mal auf«, sagte er, »bald wirds gegen Russland losgehen!«
Am 29. März 1941 bekam ich per Einschreiben den Einberufungsbefehl
zum RAD, und am 2. April musste ich mich in Gildenhall bei Neuruppin
nordwestlich von Berlin melden. Als wir im Stettiner Bahnhof, einem
der großen Kopfbahnhöfe, warteten, entdeckte ich einen Bekannten
aus meiner Parallelklasse, zu dem ich bis dahin keine Beziehung hatte:
Armin Kling. Er gehörte zu denen, die aus dem aufgelösten
»Gymnasium am Lietzensee« in unsere Schule gekommen waren.
In einem meiner ersten »Kriegsbriefe« schrieb ich nach Hause:
»Am Freitag sind wir in Trupps eingeteilt worden. Zum Glück
bin ich mit Armin Kling zusammengekommen. Es wurde der Größe
nach eingeteilt. Jeder Trupp hat 21 oder 22 Mann. Unsere Abteilung besteht
aus 9 Trupps. Alles Abiturienten! Die meisten sind aus Berlin, viele
auch aus Sachsen (Dresden u.a.). Da wir hier in einer Truppführerschule
untergebracht sind, ist die Einrichtung des Lagers sehr gut. Neben dem
Schlafraum hat jeder Trupp, was sonst meistens nicht der Fall ist, einen
besonderen Aufenthaltsraum, in dem auch die Schränke stehen. Der
gestrige Tagesplan war folgender: 6 Uhr Aufstehen, 66.45 Uhr Waschen
und Bettenbauen, 6.457.15 Uhr erstes Frühstück; 7.35
Revierreinigen, dann kommen Ordnungsübungen und Flaggenappell.
1010.15 Uhr zweites Frühstück. Anschließend Singen
+ Politische Wochenschau. 13 Uhr Mittag. 1417 Revierreinigen.
(Ich habe zum Beispiel geharkt.) 17.30 Uhr Befehlsausgabe. 18 Uhr Abendessen.
Zapfenstreich sonnabends 22 Uhr sonst 21 Uhr. Die Zwischenzeit ist fast
immer ganz ausgefüllt durch Stiefelputzen, Schrank einrichten,
Tischdienst, Stubendienst u.ä. Heute, Sonntag, sind wir erst um
7.30 Uhr aufgestanden. Die Verpflegung ist sehr gut. Wir sollen hier
8 Wochen zur Ausbildung bleiben. Dann werden wir irgendwohin zur Arbeit
geschickt: Nach Frankreich, Polen oder ...?«
Bei dem ersten Spindappell stutzte der Truppführer, als er an der
Innenseite meines Spindes den biblischen Monatsspruch sah. Nach einer
kleinen Pause fragte er: »Bist Du katholisch?« Und als ich
verneinte: »Willst Du Pfarrer werden?«
Beinah war es mir leid, dass ich mit »Ja« antwortete. Denn
kann ein evangelischer Laie nicht auch bewusster Christ sein? Die nächste
Frage lautete: »Bist Du vom Lande?« Am liebsten hätte
ich laut aufgelacht!
Immerhin: Eine erste Probe hatte ich bestanden. Bald danach sprach mich
ein Berliner an, ob ich auch zur »Bekennenden Kirche« zählte.
Er hatte Angst:
»Wenn ich in der Bibel lese dann nur auf dem Klo!«
Kirchgang war ausgeschlossen. Zu Ostern konnten wir nicht einmal am
Nachmittag ausgehen, obwohl wir schon vereidigt waren. Dafür berichtete
meine Mutter aus Köslin, dass die übrige Familie am Karfreitag
und am Ostersonntag schöne Gottesdienste erlebt hatte. Der Anlass
für die Reise nach Köslin war die Absicht, meinen jüngsten
Bruder Walter für längere Zeit nach Pommern zu Bekannten zu
schicken. In Köslin sollte er die Schule besuchen, ohne Fliegeralarm.
In der Nacht vom 9. zum 10. April musste es in Berlin schlimm gewesen
sein, wie meine Mutter schrieb: Viele Häuser waren ausgebrannt,
darunter auch die Staatsoper.
In dem sauberen, überordentlichen Lager AB 9 war für mich
alles, um mit Martin Luther zu sprechen, ein opus alienum ein
»Fremdes Werk«. Die politische Schulung musste man über
sich ergehen lassen, das Exerzieren mit dem Spaten empfand ich nur als
baren Unsinn. Wahrscheinlich hatten viele der Arbeitsdienstführer
Minderwertigkeitskomplexe, weil sie keine richtigen Soldaten waren.
Hinzu kam, dass wir Abiturienten alle die Frechheit besessen hatten,
uns nicht freiwillig zu den Fahnen zu melden. Einer unserer Führer
polterte immer wieder: »Die Hochabiturenten«.
Einmal machten wir einen Gepäckmarsch. Im Unterschied zu den bisherigen
Unternehmungen, wo alles ordnungsgemäß verlief, gab es »besondere
Vorkommnisse«. Wir kehrten in einer Kneipe ein. Da sich besonders
einige unserer Führer volllaufen ließen, wurden Lastkraftwagen
gechartert, um Führer und Mannschaften nach Gildenhall zurückzubringen.
Auf dem offenen LKW, wo wir dicht gedrängt standen, ging ein Führer,
den ich nur oberflächlich vom Sehen kannte, plötzlich mit
hocherhobenem Spaten auf mich los und schrie:
»Ich schlage Dir mit Deinem Jesus Christus den Schädel ein!«
Aber andere fielen ihm in den Arm.
Von dem politischen Unterricht ist bei mir nichts hängen geblieben.
Aber eine besondere Meldung gab es kurz vor Auflösung dieses Lagers:
Rudolf Heß ist nach England geflogen!
Selbst überzeugte Nationalsozialisten zweifelten, dass die offizielle
Version zutraf: Der »Stellvertreter des Führers« soll
verrückt geworden sein!? Viele Menschen, auch ich, hofften, dass
vielleicht doch noch versucht würde, mit England Frieden zu schließen.
Noch bestand der Nichtangriffspakt Berlin-Moskau, und von einem Krieg
mit den Vereinigten Staaten war keine Rede. Aber nicht nur Hitler, auch
vielen Deutschen, besonders den jungen, stiegen die fortwährenden
Siege zu Kopf. Nun hörten wir, dass auch Belgrad der Kriegsfurie
zum Opfer gefallen war.
Über
Rom nach Monte Cassino
»Hoffentlich in den Süden!« Dieser bescheidene Wunsch
aus den letzten Tagen von Groß Born sollte in Erfüllung gehen.
Am 3. September 1943 hatte die Landung alliierter Streitkräfte
auf dem italienischen Festland begonnen, und am 8. dieses Monats wurde
bekannt, dass Italien kapituliert hatte. Italien war nun zum größten
Teil genau wie Frankreich ein von den Deutschen besetztes Land.
Am 7. Januar 1944 holte ich auf der Frontleitstelle in München
einen weiteren Marschbefehl ab, und danach sollte ich mich in Rom melden.
Aus der »Ewigen Stadt« schrieb ich an meine Eltern:
»Heute Nachmittag konnte ich noch einmal in die Stadt gehen. Ich
habe das natürlich ausgenutzt. Denn morgen komme ich vielleicht
schon zu meiner Einheit, die nach einem anderen Abschnitt unterwegs
ist. Um drei Uhr machte ich mich auf die Beine und zog als protestantischer
Rompilger zunächst zum Vatikan. Ich fuhr mit der Straßenbahn
die hier übrigens mehr auf Draht ist, wie alle
Verkehrseinrichtungen. Ähnlich wie in Wien hängen die Leute
allerdings in Trauben draußen. Ich fuhr über den Tiber
und sah aus dem Dunst die Umrisse von San Pietro auftauchen. Ich ging
vorbei am Palazzo della Giustizia. Dieser wie alle anderen Bauten grandiose
Erscheinungen. Dann kam die Engelsburg. Mit dem Vatikan durch einen
Mauereingang verbunden. Dann ging ich geraden Wegs von der Mitte auf
den Petersdom zu. Da hat man das Gefühl, kleiner zu werden und
das Bauwerk wachsen zu sehen. Bis mir deutsche Landser Halt geboten
und ich an der Grenze der neutralen Città des Vaticano stand.
Leider war vor zehn Minuten die letzte Führung hineingegangen
auf diese Weise kann man von einem Pater geführt auch als deutscher
Soldat hineinkommen. Zwei deutsche Patres, mit denen wir wartenden Landser
uns unterhielten, versuchten noch einmal eine Führung in Szene
zu setzen. Aber es war bereits zu spät. So stand ich nun da in
Betrachtung der größten Kirche der Welt versunken, die sich
über dem Grab des Apostelfürsten Petrus erhebt. Manche
Unentwegte bestreiten dies allerdings, aber auch der bedeutende evangelische
Theologe Lietzmann bestätigte es. Priester, Mönche
und Nonnen sah man in großer Anzahl vorübergehen, und daneben
wieder Bilder einer verwahrlosten Jugend, fünfjährige Jungen
mit Zigaretten im Schnabel, auch zerlumpte Bettler und allerhand Händler.
Und nicht weit entfernt davon gibt es wohl noch schlimmere Dinge, wie
man sich erzählen lässt.«
Seit dieser Zeit schrieb ich immer in lateinischer Schrift, während
ich ursprünglich in der deutschen »Sütterlin«-Schrift
zu Hause war. Erst etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass
die lateinische Schrift im Reich zur Norm erhoben war. Natürlich
hatten wir fremdsprachige Texte auch schon früher lateinisch geschrieben.
Der Wechsel vom Deutschen ins Lateinische erklärt sich daraus,
dass man in der Schlussphase des Krieges auf einmal »Europa«
entdeckt hatte: Man wollte, dass die gedruckte nationalsozialistische
Propaganda überall in Europa gelesen werden konnte. So bekam ich
gelegentlich gut aufgemachte Zeitschriften in die Hand, die in Antiqua
und nicht in Fraktur gedruckt waren.
Jürgen
Boeckh im Herbst 1944
In Rom
erfuhr ich, dass Hauptmann Pengel, der in Russland mein Batteriechef
gewesen war, wieder meine Einheit befehligte. Die frühere 3. Infanteriedivision
(mot.) hieß seit einiger Zeit 3. Panzergrenadierdivision. Kommandeur
war General-Leutnant Fritz-Hubert Gräser.
Da ein Wagen erst am nächsten Tag zu meiner Einheit fuhr, konnte
ich mich noch in Rom umsehen.
»Durch Führungen habe ich heute noch mehr davon gehabt. Zunächst
S. Pietro. Ich kam gerade zu einer Führung zurecht, die ein deutscher
Priester, anscheinend aus Bayern, durchführte. Es waren ungefähr
25 Soldaten dabei. Auch ein Offizier ohne Schulterstücke, also
ein Feldgeistlicher. Ich sprach ihn an, und es stellte sich heraus,
dass er der katholische Pfarrer unserer Division war. Ein sehr sympathischer
Mann, etwa 30 Jahre alt. Nachher nahm er mich noch im Auto mit und fuhr
mich zum Forum Romanum. Der Gang durch die Peterskirche war wirklich
ein Erlebnis.
Zunächst denkt man gar nicht, dass dies wirklich die größte
Kirche, ja der größte Bau der Welt ist. Aber durch Vergleiche
wurde es uns deutlich gemacht. Auf dem Boden ist immer angezeigt, wie
lang [im Vergleich] von der einen Seite andere Kirchen sind, zum Beispiel
der Kölner Dom, der Dom von Mailand, Assisi und andere. Die Türme
der Münchener Frauenkirche passen sogar in die Kuppel! Der ganze
Kölner Dom, wenigstens der Breite und Länge nach, in das Querschiff!
Besonders schön sind die großen Mosaikbilder. Allerdings
erkennt man gar nicht, dass es Mosaikbilder sind. Dann sah man die berühmte
Petrusstatue. In 1 ½ Jahrtausenden ist der Bronzefuß tatsächlich
abgeküsst und abgegriffen. Die Seitenkapellen sind so groß
wie sonst ganze Kirchen. Getrennt können da Gottesdienste abgehalten
werden. Oben ringsherum stehen Sprüche Tu es Petrus
[Du bist Petrus], bei denen jeder Buchstabe 2 Meter groß ist.
Auf einem Bild hat der Evangelist St. Markus eine Feder in der Hand,
die 1,50 Meter groß ist. Wenn man dann über eine Stunde hindurchgegangen
ist, wird einem die Größe dieses Gotteshauses klar.
Dann ging ich in die reichste Kirche der Welt, Santa Maria Maggiore,
und in die älteste Basilika, San Giovanni. Von einem italienischen
Führer ließ ich mir etwas von dem antiken Rom zeigen, das
Forum Romanum, das Colosseum und den Aventinus. Beim Tarpeischen Felsen,
von dem die alten Römer die Verräter hinunterstürzten,
meinte er, dort hinunter müssten Vittore Emanuele und Badoglio
stürzen. Ob er es nur mir gegenüber sagte, oder ob es seine
ehrliche Anschauung war? Dann meinte er noch, die Römer hätten
so viele Kirchen, dass sie alle Engel sein müssten, es wären
aber alles Teufel!«
Wahrscheinlich stand der Mann, der uns in launiger Weise das Capitol
erklärte, in Wirklichkeit auf Seiten des »Verräters«
Badoglio, der im September 1943 von Victor Emmanuel III. zum Ministerpräsidenten
berufen worden war. Ich konnte mir einige Ansichtskarten kaufen, die
ich nach Hause schickte. Die Postkarte mit dem Bild von Badoglio machte
ich mit zwei Strichen unschädlich. (...)
Inhalt »Zwischen
Kreuz und Hakenkreuz«
Vorwort
von Prof. Dr. Alexander Demandt 8
Einleitung 10
Der 30. Januar 1933 15
Als Sextaner am Schillergymnasium 21
BK und VDA und der 30. Juni 1934 27
Bei den »Pimpfen« 32
Konfirmandenunterricht und Einsegnung 40
Bayerischer Wald und Zinnowitz 45
Der Ostkreis 48
Eine Trommel und die Folgen 51
Leben in verschiedenen Welten 54
Das »Graue Buch«, Wagenrad und Balalaika 57
Im ersten Kriegsjahr 64
Ein Reformationsgottesdienst und die »Morgenwächter«
69
Berufspläne Berufsentscheidung 77
Kein Fernsehen, kaum Radio aber Bücher 80
»Deutschgläubig« und »Streifen-HJ« 85
»Deutsche Messe«, Asmussen und Dünkirchen 88
Die Schulzeit klingt aus 94
»Ein jeder muss zum Arbeitsdienst« 102
Richtung Osten 105
Der 22. Juni 1941 111
Von Brest-Litowsk bis Smolensk 114
Mit der Lüge leben 122
In der Kaserne zu Eberswalde 129
EXITUS MUNDI 133
Eine Postkarte 143
Auf dem Vormarsch wohin? 149
Vor Stalingrad 152
Lazarettzeit 158
Als Besatzungssoldat in Frankreich 165
Kriegsalltag 173
Über Rom nach Monte Cassino 181
Nettuno und Rom 189
»Vorwärts, Kameraden, es geht zurück!« 200
Wieder im Lazarett und noch einmal »zu Hause« 209
Das Ende des »1000-jährigen Reiches« 222
Namenserläuterungen 231
Literaturhinweise 232
IN MEMORIAM 235
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