Leseprobe

Jürgen Boeckh
Zwischen Kreuz und Hakenkreuz
Erinnerungen eines jungen Christen
1933 - 1945

Broschiert, 240 Seiten
zahlreiche Abbildungen
Sammlung der Zeitzeugen (40)
ISBN 3-933336-89-9
14,80 EUR

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Leseproben aus »Zwischen Kreuz und Hakenkreuz«

Vorwort
Der 30. Januar 1933
»Ein jeder muss zum Arbeitsdienst«
Über Rom nach Monte Cassino
zum kompletten Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Der Wert von Biographien für die historische Erkenntnis ist umstritten. Die Gegner bezweifeln, dass aus der Perspektive des Individuums die Konturen eines Zeitbildes zu erkennen seien. Die Fürsprecher hingegen erklären, dass die Entwicklungen im Großen unanschaulich, ja unverständlich bleiben, sofern sie nicht am Beispiel des einzelnen Teilnehmers veranschaulicht würden. Dies gilt namentlich für die Autobiographie, die Authentizität beanspruchen kann und dann zugleich in irgendeiner Form als repräsentativ gelten darf. In diesem Sinne betonte Goethe in seiner Einleitung zu »Dichtung und Wahrheit«: »Dies scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen«. Eben darum geht es in der vorliegenden Schrift.

Jürgen Boeckh, Jahrgang 1922, Sohn eines Wirtschaftsjuristen und einer Künstlerin, entstammt einer evangelischen Akademiker- und Offiziersfamilie Berlins. Er ist väterlicherseits ein Urenkel des hochbedeutenden Altertumsforscher August Boeckh, der 1810 das Vorlesungsverzeichnis der Friedrich Wilhelms-Universität eröffnet, und ein Verwandter von Max Planck. Der durch wissenschaftliche und persönliche Publikationen hervorgetretene Autor beschreibt eindrucksvoll und lebensnah Elternhaus und Schulzeit, geprägt durch ausgesuchte Lektüre, durch Wandervogel-Ideale und kirchliche Jugendarbeit. Sie bewegte sich, nach 1933 von der Partei »bündischer Umtriebe« verdächtigt, am Rande der Legalität. Trotz Reserven gegen den Nationalsozialismus – damals Palladium einer jugendlichen »Avantgarde« gegen die bedenklichen Alten – dachte Boeckh zunächst an eine Offizierslaufbahn und kam über den Arbeitsdienst in den Krieg. Über die Deportation der Juden war er informiert, nicht jedoch über ihr weiteres Schicksal. Boeckh stand als Fahnenjunker der Artillerie in Russland, Frankreich und Italien. Wiewohl er zumeist in der Etappe eingesetzt war, kam er mit Partisanen nur in Italien in Berührung. Der dort durch Naturbetrachtung, touristische Besichtigungen, Kino- und Opernbesuche in Rom aufgelockerte Fronteinsatz wirkt streckenweise geradezu idyllisch, aber als »vorgeschobener Beobachter« am Brückenkopf Nettuno musste er besonders die schreckliche Seite des Krieges kennen lernen.

Die Darstellung der Zeit vor 1945 verrät unvermeidlich einerseits das am Kriegsende zutage getretene Wissen und andererseits den danach erfolgten Eintritt in den geistlichen Beruf. Der Autor erweist sich als bewusster und aktiver Christ mit Verbindungen zur Bekennenden Kirche. Einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Glaube und Kriegsdienst sieht er ebenso wenig wie Paulus, Augustinus und Luther. Seine Gefangenschaft bei den Russen schildert sein Buch »Mit der Bibel hinter Stacheldraht« (1981). Gottvertrauen und ein gütiges Schicksal bewahrten ihn in schwerer Zeit, die er seelisch unbeschädigt durchlebte, ja als erträglich beschreibt – ein bemerkenswertes Buch, das unter den Zeitzeugnissen einen eigenen Akzent setzt.

Prof. Dr. Alexander Demandt
Ordinarius am Friedrich-Meinecke-Institut der
Freien Universität Berlin

12. Juli 2005




Der 30. Januar 1933

Wir saßen am Esstisch. Im Flur klingelte das Telefon. Ich lief hinaus und nahm den Hörer ab. Es war meine Großmutter. Ganz aufgeregt sagte sie:
»Habt ihr schon gehört, Hitler wird Reichskanzler.«
Sie war begeistert, und ich sollte die Freudenbotschaft weitergeben. Als mein Vater hörte, was geschehen war, ließ er das Essen stehen, stand auf und sagte:
»Das bedeutet Krieg.«

In der folgenden Zeit habe ich sicher nicht oft an diese Episode gedacht. Aber einige Jahre später erinnerte ich mich ihrer umso deutlicher. Am 30. Januar 1933 war ich neun Jahre alt.

Großmama Adelheid von Tzschoppe mit Tochter Gisela und wir Jungen (von links nach rechts) Walter, Eckhard, Jürgen und Dietrich.

Hitler war mir am 30. Januar 1933 durchaus schon ein Begriff. Zwei oder drei Jahre früher war das noch nicht so. Bis zum März 1932 wohnten wir in Halensee, in einer Querstraße vom Kurfürstendamm.

In den Weihnachtstagen (1930 oder 1929) kamen unsere nächsten Verwandten zu uns und damit auch zwei Schwestern meiner Mutter und ihr Bruder. Wir Kinder spielten und kümmerten uns nicht um die Erwachsenen. Plötzlich wurde es laut, aber diesmal waren es nicht die Kinder, die Lärm machten. Im Gegenteil, sie verstummten. Der Onkel stand auf und rief:
»Ich habe keine Schwester mehr!«

Danach verließ er unsere Wohnung. Bald erfuhr ich, worum es ging. Es ging um die Politik. Der Onkel war der einzige »Nazi« in der Runde. Eine solche Auseinandersetzung im Familienkreise hatte ich bis dahin nicht erlebt.

Die Querstraße zum Ku-Damm war die Johann-Georg-Straße. Wir wohnten im vierten Stock. Ein Stockwerk unter uns, aber im Hinterhaus, brannte immer noch Licht, wenn andere Leute schon längst schliefen. Das interessierte meinen jüngeren Bruder und mich. Von unseren Eltern erfuhren wir, dass dort ein Dichter wohnte, fast so alt wie unser Vater. Von ihm durften wir von Zeit zu Zeit den »Heiteren Fridolin«, eine Jugendzeitschrift, abholen. Erst in den Siebzigerjahren entdeckte ich am Durchgang zum Hinterhof des Hauses Johann-Georg-Str. 20 eine Gedenktafel für den Schriftsteller und Philosophen Salomo Friedländer – »Fridolin!«, damals hatte ich den Namen des Dichters längst vergessen. Die Tafel wurde zum 300. Gründungstag der Jüdischen Gemeinde in Berlin 1971 angebracht.

In meinem Taschenkalender von 1931, dem ersten, den ich hatte, sind (noch) die israelitischen Feiertage angezeigt, ab 1934 fehlten sie! Einmal zeigte uns der Vater die Synagoge in der stillen Markgraf-Albrecht-Straße am Kurfürstendamm. Fast alle Jungen und Mädchen unserer Schule waren protestantisch, aber es gab auch katholische und jüdische Kinder. Das war für uns selbstverständlich eine Frage der Religion, nicht der »Rasse«.

Abgesehen von dem Familienkrach im Weihnachtszimmer sind mir die politischen Kämpfe bis zu den Straßenschlachten verborgen geblieben.

Dreimal im Laufe weniger Jahre hatten wir unseren Laubengarten in der Nähe aufgeben müssen, weil gebaut wurde. Dann bemühten sich meine Eltern, mit ihren vier Jungen, von denen ich der älteste war, ins Grüne zu ziehen. Im März 1932 bekamen wir in Berlin-Lichterfelde-Ost eine Wohnung mit Vorgarten in der Promenadenstraße, ganz nahe am Marienplatz. In dem dichten Gebüsch konnte man Höhlen bauen, und irgendwann habe ich dort auch meine erste Zigarette geraucht, eine »Caid« zu 3 1/3 Pfennigen.

Unser Haus in Lichterfeld-Ost, Schillerstraße 22


Wir sammelten Zigarettenbilder, die in den Schachteln enthalten waren: Flugzeugtypen, Autos, Wappen, Volkstrachten und Uniformen aus alter und neuer Zeit. In den »Trommler«-Zigaretten gab es über längere Zeit die Uniformbilder, auf denen man das kreisrunde SA-Zeichen mit der Aufschrift »Gegen Trust und Konzern« sehen konnte. Was das bedeutete, wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass die Kommunisten die gleiche Parole benutzten. Bald nach der nationalsozialistischen »Kampfzeit« verschwanden diese antikapitalistischen Schlagwörter.

Wir vier Jungen am Halensee, von links Jürgen, Eckhard, Dietrich und Walter.


Zur Schule gingen wir in die Kastanienstraße auf der anderen Seite der Anhalter Bahn, die nach Süden fuhr. Die S-Bahn fuhr 1932 erst bis Lichterfelde-Ost. Nach drei Schuljahren in Halensee kam ich nun in die 5. Klasse. Die unterste war damals nämlich die 8. Klasse. Wer nicht auf eine Höhere – im Volksmund »Hohe« – Schule überging, schloss die Volksschule mit der 1. Klasse ab. Ein Schulwechsel ist meist eine unangenehme Sache, besonders, wenn man von vielen Freunden Abschied nehmen muss, wie es mir erging. In der Kastanienschule, heute offiziell »Unter den Kastanien«, war die Klasse voll gepfropft bis zum letzten Platz. Gelegentlich saß auf einer Zweier-Bank noch ein dritter Junge in der Mitte auf dem Verbindungsstück zwischen Tisch und Bank. Ich war in einer K(Knaben)-Klasse. Es gab auch M(Mädchen)-Klassen und KM-Klassen.

Eine Weile saß ein Junge neben mir, der während der Stunde die Holzstifte, mit denen die Schuhsohlen befestigt waren, herauszog. Ich fragte ihn, warum er das mache. Seine Antwort:
»Dann bekomme ich neue Schuhe vom Sozialamt.«
Das war meine erste Bekanntschaft mit der »Sozialen Frage«. (...)

Jürgen Boeckh 1936


»Ein jeder muss zum Arbeitsdienst«

Mir war bekannt, dass es in der Weimarer Zeit einen freiwilligen Arbeitsdienst gegeben hatte, der unter anderem der Arbeitslosigkeit wehren sollte. Jetzt aber hieß es:
»... fünfundzwanzig Pfennig ist der Reinverdienst,
ein jeder muss zum Arbeitsdienst
und dann zum Militär.«

Jeden Tag musste ich mit meiner Einberufung zum »Reichsarbeitsdienst« (RAD) rechnen. Pfarrer Weschke sprach mit mir über die Zeit, die nun vor mir lag. Er sagte: »Versuche immer, wenn Du in eine andere Einheit kommst, sei es im RAD oder beim Kommiss, als Christ Farbe zu bekennen!«
Seit Kriegsbeginn segnete Eugen Weschke die jungen Leute, die einberufen werden sollten, unter Handauflegung in der Lichterfelder Dorfkirche. So war es nun auch bei mir. Diese Segenshandlung war mir mindestens ebenso wichtig wie die Konfirmation. In diesen Tagen traf ich noch einmal meinen Konfirmator, Pfarrer von Lutzki, auf der Straße. »Pass mal auf«, sagte er, »bald wird‘s gegen Russland losgehen!«
Am 29. März 1941 bekam ich per Einschreiben den Einberufungsbefehl zum RAD, und am 2. April musste ich mich in Gildenhall bei Neuruppin nordwestlich von Berlin melden. Als wir im Stettiner Bahnhof, einem der großen Kopfbahnhöfe, warteten, entdeckte ich einen Bekannten aus meiner Parallelklasse, zu dem ich bis dahin keine Beziehung hatte: Armin Kling. Er gehörte zu denen, die aus dem aufgelösten »Gymnasium am Lietzensee« in unsere Schule gekommen waren. In einem meiner ersten »Kriegsbriefe« schrieb ich nach Hause:

»Am Freitag sind wir in Trupps eingeteilt worden. Zum Glück bin ich mit Armin Kling zusammengekommen. Es wurde der Größe nach eingeteilt. Jeder Trupp hat 21 oder 22 Mann. Unsere Abteilung besteht aus 9 Trupps. Alles Abiturienten! Die meisten sind aus Berlin, viele auch aus Sachsen (Dresden u.a.). Da wir hier in einer Truppführerschule untergebracht sind, ist die Einrichtung des Lagers sehr gut. Neben dem Schlafraum hat jeder Trupp, was sonst meistens nicht der Fall ist, einen besonderen Aufenthaltsraum, in dem auch die Schränke stehen. Der gestrige Tagesplan war folgender: 6 Uhr Aufstehen, 6–6.45 Uhr Waschen und Bettenbauen, 6.45–7.15 Uhr erstes Frühstück; 7.35 Revierreinigen, dann kommen Ordnungsübungen und Flaggenappell. 10–10.15 Uhr zweites Frühstück. Anschließend Singen + Politische Wochenschau. 13 Uhr Mittag. 14–17 Revierreinigen. (Ich habe zum Beispiel geharkt.) 17.30 Uhr Befehlsausgabe. 18 Uhr Abendessen. Zapfenstreich sonnabends 22 Uhr sonst 21 Uhr. Die Zwischenzeit ist fast immer ganz ausgefüllt durch Stiefelputzen, Schrank einrichten, Tischdienst, Stubendienst u.ä. Heute, Sonntag, sind wir erst um 7.30 Uhr aufgestanden. Die Verpflegung ist sehr gut. Wir sollen hier 8 Wochen zur Ausbildung bleiben. Dann werden wir irgendwohin zur Arbeit geschickt: Nach Frankreich, Polen oder ...?«
Bei dem ersten Spindappell stutzte der Truppführer, als er an der Innenseite meines Spindes den biblischen Monatsspruch sah. Nach einer kleinen Pause fragte er: »Bist Du katholisch?« Und als ich verneinte: »Willst Du Pfarrer werden?«
Beinah war es mir leid, dass ich mit »Ja« antwortete. Denn kann ein evangelischer Laie nicht auch bewusster Christ sein? Die nächste Frage lautete: »Bist Du vom Lande?« Am liebsten hätte ich laut aufgelacht!

Immerhin: Eine erste Probe hatte ich bestanden. Bald danach sprach mich ein Berliner an, ob ich auch zur »Bekennenden Kirche« zählte. Er hatte Angst:
»Wenn ich in der Bibel lese – dann nur auf dem Klo!«
Kirchgang war ausgeschlossen. Zu Ostern konnten wir nicht einmal am Nachmittag ausgehen, obwohl wir schon vereidigt waren. Dafür berichtete meine Mutter aus Köslin, dass die übrige Familie am Karfreitag und am Ostersonntag schöne Gottesdienste erlebt hatte. Der Anlass für die Reise nach Köslin war die Absicht, meinen jüngsten Bruder Walter für längere Zeit nach Pommern zu Bekannten zu schicken. In Köslin sollte er die Schule besuchen, ohne Fliegeralarm. In der Nacht vom 9. zum 10. April musste es in Berlin schlimm gewesen sein, wie meine Mutter schrieb: Viele Häuser waren ausgebrannt, darunter auch die Staatsoper.

In dem sauberen, überordentlichen Lager AB 9 war für mich alles, um mit Martin Luther zu sprechen, ein opus alienum – ein »Fremdes Werk«. Die politische Schulung musste man über sich ergehen lassen, das Exerzieren mit dem Spaten empfand ich nur als baren Unsinn. Wahrscheinlich hatten viele der Arbeitsdienstführer Minderwertigkeitskomplexe, weil sie keine richtigen Soldaten waren. Hinzu kam, dass wir Abiturienten alle die Frechheit besessen hatten, uns nicht freiwillig zu den Fahnen zu melden. Einer unserer Führer polterte immer wieder: »Die Hochabiturenten«.

Einmal machten wir einen Gepäckmarsch. Im Unterschied zu den bisherigen Unternehmungen, wo alles ordnungsgemäß verlief, gab es »besondere Vorkommnisse«. Wir kehrten in einer Kneipe ein. Da sich besonders einige unserer Führer volllaufen ließen, wurden Lastkraftwagen gechartert, um Führer und Mannschaften nach Gildenhall zurückzubringen. Auf dem offenen LKW, wo wir dicht gedrängt standen, ging ein Führer, den ich nur oberflächlich vom Sehen kannte, plötzlich mit hocherhobenem Spaten auf mich los und schrie:
»Ich schlage Dir mit Deinem Jesus Christus den Schädel ein!« Aber andere fielen ihm in den Arm.

Von dem politischen Unterricht ist bei mir nichts hängen geblieben. Aber eine besondere Meldung gab es kurz vor Auflösung dieses Lagers: Rudolf Heß ist nach England geflogen!

Selbst überzeugte Nationalsozialisten zweifelten, dass die offizielle Version zutraf: Der »Stellvertreter des Führers« soll verrückt geworden sein!? Viele Menschen, auch ich, hofften, dass vielleicht doch noch versucht würde, mit England Frieden zu schließen. Noch bestand der Nichtangriffspakt Berlin-Moskau, und von einem Krieg mit den Vereinigten Staaten war keine Rede. Aber nicht nur Hitler, auch vielen Deutschen, besonders den jungen, stiegen die fortwährenden Siege zu Kopf. Nun hörten wir, dass auch Belgrad der Kriegsfurie zum Opfer gefallen war.


Über Rom nach Monte Cassino

»Hoffentlich in den Süden!« Dieser bescheidene Wunsch aus den letzten Tagen von Groß Born sollte in Erfüllung gehen. Am 3. September 1943 hatte die Landung alliierter Streitkräfte auf dem italienischen Festland begonnen, und am 8. dieses Monats wurde bekannt, dass Italien kapituliert hatte. Italien war nun zum größten Teil genau wie Frankreich ein von den Deutschen besetztes Land.

Am 7. Januar 1944 holte ich auf der Frontleitstelle in München einen weiteren Marschbefehl ab, und danach sollte ich mich in Rom melden. Aus der »Ewigen Stadt« schrieb ich an meine Eltern:

»Heute Nachmittag konnte ich noch einmal in die Stadt gehen. Ich habe das natürlich ausgenutzt. Denn morgen komme ich vielleicht schon zu meiner Einheit, die nach einem anderen Abschnitt unterwegs ist. Um drei Uhr machte ich mich auf die Beine und zog als ›protestantischer Rompilger‹ zunächst zum Vatikan. Ich fuhr mit der Straßenbahn – die hier übrigens mehr ›auf Draht‹ ist, wie alle Verkehrseinrichtungen. Ähnlich wie in Wien hängen die Leute allerdings in Trauben draußen. – Ich fuhr über den Tiber und sah aus dem Dunst die Umrisse von San Pietro auftauchen. Ich ging vorbei am Palazzo della Giustizia. Dieser wie alle anderen Bauten grandiose Erscheinungen. Dann kam die Engelsburg. Mit dem Vatikan durch einen Mauereingang verbunden. Dann ging ich geraden Wegs von der Mitte auf den Petersdom zu. Da hat man das Gefühl, kleiner zu werden und das Bauwerk wachsen zu sehen. Bis mir deutsche Landser Halt geboten und ich an der Grenze der neutralen Città des Vaticano stand. Leider war vor zehn Minuten die letzte Führung hineingegangen – auf diese Weise kann man von einem Pater geführt auch als deutscher Soldat hineinkommen. Zwei deutsche Patres, mit denen wir wartenden Landser uns unterhielten, versuchten noch einmal eine Führung in Szene zu setzen. Aber es war bereits zu spät. So stand ich nun da in Betrachtung der größten Kirche der Welt versunken, die sich über dem Grab des Apostelfürsten Petrus erhebt. – Manche Unentwegte bestreiten dies allerdings, aber auch der bedeutende evangelische Theologe Lietzmann bestätigte es. – Priester, Mönche und Nonnen sah man in großer Anzahl vorübergehen, und daneben wieder Bilder einer verwahrlosten Jugend, fünfjährige Jungen mit Zigaretten im Schnabel, auch zerlumpte Bettler und allerhand Händler. Und nicht weit entfernt davon gibt es wohl noch schlimmere Dinge, wie man sich erzählen lässt.«

Seit dieser Zeit schrieb ich immer in lateinischer Schrift, während ich ursprünglich in der deutschen »Sütterlin«-Schrift zu Hause war. Erst etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass die lateinische Schrift im Reich zur Norm erhoben war. Natürlich hatten wir fremdsprachige Texte auch schon früher lateinisch geschrieben. Der Wechsel vom Deutschen ins Lateinische erklärt sich daraus, dass man in der Schlussphase des Krieges auf einmal »Europa« entdeckt hatte: Man wollte, dass die gedruckte nationalsozialistische Propaganda überall in Europa gelesen werden konnte. So bekam ich gelegentlich gut aufgemachte Zeitschriften in die Hand, die in Antiqua und nicht in Fraktur gedruckt waren.

Jürgen Boeckh im Herbst 1944

In Rom erfuhr ich, dass Hauptmann Pengel, der in Russland mein Batteriechef gewesen war, wieder meine Einheit befehligte. Die frühere 3. Infanteriedivision (mot.) hieß seit einiger Zeit 3. Panzergrenadierdivision. Kommandeur war General-Leutnant Fritz-Hubert Gräser.

Da ein Wagen erst am nächsten Tag zu meiner Einheit fuhr, konnte ich mich noch in Rom umsehen.

»Durch Führungen habe ich heute noch mehr davon gehabt. Zunächst S. Pietro. Ich kam gerade zu einer Führung zurecht, die ein deutscher Priester, anscheinend aus Bayern, durchführte. Es waren ungefähr 25 Soldaten dabei. Auch ein Offizier ohne Schulterstücke, also ein Feldgeistlicher. Ich sprach ihn an, und es stellte sich heraus, dass er der katholische Pfarrer unserer Division war. Ein sehr sympathischer Mann, etwa 30 Jahre alt. Nachher nahm er mich noch im Auto mit und fuhr mich zum Forum Romanum. – Der Gang durch die Peterskirche war wirklich ein Erlebnis.

Zunächst denkt man gar nicht, dass dies wirklich die größte Kirche, ja der größte Bau der Welt ist. Aber durch Vergleiche wurde es uns deutlich gemacht. Auf dem Boden ist immer angezeigt, wie lang [im Vergleich] von der einen Seite andere Kirchen sind, zum Beispiel der Kölner Dom, der Dom von Mailand, Assisi und andere. Die Türme der Münchener Frauenkirche passen sogar in die Kuppel! Der ganze Kölner Dom, wenigstens der Breite und Länge nach, in das Querschiff! Besonders schön sind die großen Mosaikbilder. Allerdings erkennt man gar nicht, dass es Mosaikbilder sind. Dann sah man die berühmte Petrusstatue. In 1 ½ Jahrtausenden ist der Bronzefuß tatsächlich abgeküsst und abgegriffen. Die Seitenkapellen sind so groß wie sonst ganze Kirchen. Getrennt können da Gottesdienste abgehalten werden. Oben ringsherum stehen Sprüche ›Tu es Petrus‹ [Du bist Petrus], bei denen jeder Buchstabe 2 Meter groß ist. Auf einem Bild hat der Evangelist St. Markus eine Feder in der Hand, die 1,50 Meter groß ist. Wenn man dann über eine Stunde hindurchgegangen ist, wird einem die Größe dieses Gotteshauses klar. – Dann ging ich in die reichste Kirche der Welt, Santa Maria Maggiore, und in die älteste Basilika, San Giovanni. Von einem italienischen Führer ließ ich mir etwas von dem antiken Rom zeigen, das Forum Romanum, das Colosseum und den Aventinus. Beim Tarpeischen Felsen, von dem die alten Römer die Verräter hinunterstürzten, meinte er, dort hinunter müssten Vittore Emanuele und Badoglio stürzen. Ob er es nur mir gegenüber sagte, oder ob es seine ehrliche Anschauung war? Dann meinte er noch, die Römer hätten so viele Kirchen, dass sie alle Engel sein müssten, es wären aber alles Teufel!«

Wahrscheinlich stand der Mann, der uns in launiger Weise das Capitol erklärte, in Wirklichkeit auf Seiten des »Verräters« Badoglio, der im September 1943 von Victor Emmanuel III. zum Ministerpräsidenten berufen worden war. Ich konnte mir einige Ansichtskarten kaufen, die ich nach Hause schickte. Die Postkarte mit dem Bild von Badoglio machte ich mit zwei Strichen unschädlich. (...)



Inhalt »Zwischen Kreuz und Hakenkreuz«

Vorwort von Prof. Dr. Alexander Demandt 8
Einleitung 10
Der 30. Januar 1933 15
Als Sextaner am Schillergymnasium 21
BK und VDA – und der 30. Juni 1934 27
Bei den »Pimpfen« 32
Konfirmandenunterricht und Einsegnung 40
Bayerischer Wald und Zinnowitz 45
Der Ostkreis 48
Eine Trommel und die Folgen 51
Leben in verschiedenen Welten 54
Das »Graue Buch«, Wagenrad und Balalaika 57
Im ersten Kriegsjahr 64
Ein Reformationsgottesdienst und die »Morgenwächter« 69
Berufspläne – Berufsentscheidung 77
Kein Fernsehen, kaum Radio – aber Bücher 80
»Deutschgläubig« und »Streifen-HJ« 85
»Deutsche Messe«, Asmussen und Dünkirchen 88
Die Schulzeit klingt aus 94
»Ein jeder muss zum Arbeitsdienst« 102
Richtung Osten 105
Der 22. Juni 1941 111
Von Brest-Litowsk bis Smolensk 114
Mit der Lüge leben 122
In der Kaserne zu Eberswalde 129
EXITUS MUNDI 133
Eine Postkarte 143
Auf dem Vormarsch – wohin? 149
Vor Stalingrad 152
Lazarettzeit 158
Als Besatzungssoldat in Frankreich 165
Kriegsalltag 173
Über Rom nach Monte Cassino 181
Nettuno und Rom 189
»Vorwärts, Kameraden, es geht zurück!« 200
Wieder im Lazarett und noch einmal »zu Hause« 209
Das Ende des »1000-jährigen Reiches« 222
Namenserläuterungen 231
Literaturhinweise 232
IN MEMORIAM 235