Leseproben

Gebrannte Kinder
Kindheit in Deutschland 1939-1945

61 Beiträge, 384 Seiten, gebunden
Reihe Zeitgut Band 1,
ISBN 978-3-933336-25-5
Euro 12,90

als Taschenbuch:
ISBN 978-3-86614-110-0
Euro 9,90

Gebrannte Kinder. Zweiter Teil
Kindheit in Deutschland 1939-1945

36 Beiträge, 336 Seiten, gebunden
Reihe Zeitgut Band 7
ISBN 978-3-933336-26-2
Euro 12,90

 

Leserstimmen »


„Der Krieg ist ausgebrochen“ - ZG Band 1, 4.221 Zeichen
Dunkle Schatten - ZG Band 1, 4.295 Zeichen
Die Heimkehr - ZG Band 1, 4.879 Zeichen
Mein Osterhase - ZG Band 1, 4.017 Zeichen
Glückliche Tage bei den Großeltern - ZG Bd.1, 6.054 Zeichen
Gebrannte Kinder - ZG Band 1, 5.542 Zeichen
Die sonnigen Frühlingstage - ZG Band 1, 4.171 Zeichen
Das Spiel der Knöpfe
- ZG Band 7, 5.854 Zeichen


Hamburg – Görlitz/Neiße, Oberlausitz, Sachsen;1939–1945

„Der Krieg ist ausgebrochen“ (gekürzte Fassung)
Agnes Setzepfand

Der Morgen des 1. September 1939 ist wie jeder andere. Meine Mutter setzt mich auf den Schieber, der sich aus dem eingebauten Küchentisch herausziehen läßt, und bereitet das Frühstück. Bäcker Janowitz hat frische Rundstücke gebracht und sie im vorbereiteten Beutel an die Wohnungstür gehängt. Sie sind noch warm. Heil und friedlich ist der Morgen. Ich fühle Sonnenstrahlen auf meiner Haut und genieße den Augenblick, das Geborgensein, das Behütetwerden von Mamas Liebe. Morgens nimmt sie sich Zeit für mich, macht mich zu ihrer Gesprächspartnerin. Ich bin ja auch schon groß. In zwei Monaten werde ich fünf Jahre alt.
Inzwischen ist das Frühstück fertig. Ich trinke meinen Kakao und genieße mein Brötchen. Es ist mit Butter bestrichen. Zucker ist darauf gestreut. Mama verteilt ein wenig von ihrem heißen Tee darauf, so daß die Butter weich wird. Lecker.
Draußen fährt ein Schutzmann. Die Sonne beglänzt seinen schwarzen Tschako. Mama öffnet das große Küchenfenster. Der Mann steigt vom Fahrrad. Er sagt: „Der Krieg ist ausgebrochen.“
Ich verstehe nichts von dem folgenden Gespräch, fühle nur dunkel Angst und Entsetzen. Plötzlich weiß ich, was auch immer das Bedrohliche sein mag, unser Leben wird nie mehr so sein, wie es war.
Lautes Klagen. Mama kann so gut jammern. Ich bekomme wieder Bauchschmerzen, aber ich beiße die Zähne zusammen, traue mich nicht, es zu sagen, bin klein, ohnmächtig, zähle nicht.

Überall, besonders im Radio, Kriegsgeschrei, Begeisterung, Führergebrüll. Polen zerschlagen, unsere Truppen in Paris. Vati erwartet seinen Stellungsbefehl. Er hat Angst, zu spät zu kommen.
Schließlich wird er eingezogen und kommt zur Ausbildung nach Munster Lager. An Wochenenden kommt er in seiner schicken Leutnantsuniform nach Hause. Mama und ich gehen stolz an seiner Seite. Toll finde ich es, wenn Soldaten vor uns die Hacken zusammenschlagen und die Hand an die Mütze heben. Ich fühle mich so wichtig. Ich bin wohl doch eine verwunschene Prinzessin.
Täglich tönen Hitlers markige Worte aus dem Volksempfänger. Ich hasse diese Ansprachen, weil dann absolute Ruhe geboten ist. Meine Mutter ist ein Hitler-Fan, wobei ihr Interesse mehr dem Mann gilt, als seiner Politik. Wann immer er zu Kundgebungen nach Hamburg kommt, macht sie sich mit dem sogenannten Hitlerhocker – das ist ein aus Latten gezimmerter, zusammenlegbarer Hocker – auf, um das Idol aus der Nähe zu erleben.
In der NS-Frauenschaft ist sie als Kulturreferentin aktiv. Ihre Aufgabe besteht darin, vaterländische Gedichte zu deklamieren. Sie nimmt Sprechunterricht und probt täglich ihre Texte: „Mein deutsches Land, nur nicht verzweifeln, dringt dir die Axt in Mark und Bein, der Frühling heilt einst deine Wunden, es gibt auch wieder Sonnenschein.“
Ich mag meine Mutter in diesen Augenblicken nicht. Das Pathos macht sie unnatürlich und bedrohlich fremd.

Schon bald sind wir wieder erwacht aus dem Rausch der Anfangserfolge. Krieg ist kein Abenteuer. Jede Nacht das Heulen der Sirenen, das Brummen der feindlichen Flugzeuge über Hamburg. Das heißt aufstehen. Es ist kalt.
Wir greifen schlaftrunken nach den bereitstehenden Koffern und gehen mit den wichtigsten Sachen in den Luftschutzkeller. Ich halte meinen Puppenkoffer und meine Puppe Günter im Arm. In unserem Keller sind zweistöckige Betten für die Kinder aufgestellt. Die Erwachsenen sitzen auf Stühlen. Ich klettere zu meiner Freundin Lilo, und wir spielen Karten oder mit unseren Puppen. An Schlaf ist nicht zu denken.
Hin und wieder kommt einer der Nachbarn auf Urlaub. Dr. Dätz hat Kaffee mitgebracht. Eine Tasse dieses duftenden Getränks macht unter den Begeisterten die Runde. Man kommt sich näher, hört sich zu. Es wird über die Angriffe gesprochen, die Front, Tote. Wir hören zu. Es ist gruselig. Alt sind wir Kinder plötzlich, Greise.
Verläßt jemand den Keller, so schleichen wir hinterher. Tiefschwarze Nacht. Am Himmel Lichter, in Geschwadern angeordnet, wie Sterne eigentlich, wenn sie nicht so bedrohlich über uns hinwegbrummen würden. Hin und wieder feurige Kugeln, Krachen. Morgen werden wir für unsere Sammlungen Splitter finden, wenn wir in den Bombentrichtern unsere Höhlen bauen.


Familie Setzepfand in Hamburg 1939:
Mutter und Tochter sind stolz auf den
Vater in seiner Leutnantsuniform.


Köln; März 1945

Dunkle Schatten
Hans Engels

Dunkle Schatten lagen schon früh über der kleinen Seele, hüllten sie ein und bedrängten sie mit einer ungewissen Macht. Die Luft war durchdrungen von Not und Leid; jeder spürte es an Leib und Seele, auch wenn er das Bedrohliche nicht begriff.
Das Geschrei der Sirenen zerriß wie ein Blitz den leisen Schlaf. Mutter war ja immer bereit aufzuspringen, immer wieder den Weg der Flucht vor dem Verderben zu gehen. Aber wie oft würde sie den Weg noch gehen können? Schwer keuchte sie, wenn sie den kleinen Leib auf ihren Armen trug. Vor Tagen saß er noch aufrecht auf einem Arm und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Aber jetzt lag er matt auf beiden Armen. Der kleine Körper hatte seine innere Kraft verloren.
Großvater kam von oben mit einer Kerze. Der schwache Schein zeigte den Weg in den Keller. Auch die Theres war die Treppen hinuntergestiegen.
„Ich glaube, er hat sich selbst aufgegeben. Ich spüre sein Leben nicht mehr. Aber ich kann ihn doch nicht oben lassen!“ Mutter sprach ganz leise.
Dann mußte sie wieder husten. Mit einem seltsam pfeifenden Geräusch sog sie die Luft ein.
Sie mühte sich mit letzter Kraft, den Kleinen auf den Strohsack zu legen; fast wäre er ihr entglitten.
Die Theres hielt sie ein wenig auf. Mutter weinte.
Großvater hatte inzwischen die Holzklappe zum Nachbarhaus geöffnet. Auf der anderen Seite saßen die Müllers. Dann kamen die Flugzeuge. Keiner sprach, keiner rührte sich, alle horchten.
Mutter lag neben meinem kleinen Bruder. Er hatte die Augen zu. Jetzt faßte sie zu mir herüber und zog mich an sich. Sie rang immer noch nach Luft.
Ich glaube, ich hatte auch Angst, obwohl ich nicht genau begriff, was da draußen und hier drinnen vor sich ging. Doch die Angst in der Seele der Menschen tritt heraus mit dem Atem, durchdringt Kleidung und Haut, und eine kleine Seele saugt sie ein und läßt den kleinen Leib erzittern.
Leise murmelte die Theres die Gebete des Rosenkranzes. Das tat sie immer, wenn die Flugzeuge kamen. Aber heute flogen sie nicht über uns hinweg. Etwas weiter entfernt kündete gewaltiges Dröhnen von der Macht der Bomben.
Bald wurde es wieder ruhiger. Weit entfernt jaulten die Sirenen auf.
Mutter schleppte meinen Bruder wieder die Kellertreppe hinauf, ich ging an der Hand der Theres.
Die Nacht war noch lange, bevor der Morgen graute. Ich schlief wohl bald wieder ein.
Als dann das Licht den Morgen erhellte und die Sonne endlich blaß durch trüben Nebel blickte, weckte mich Mutter. Sie setzte sich auf die Bettkante. Ich blickte in ein fast erstarrtes Gesicht.
Dann verzerrte es sich wie unter Schmerzen. Gequält hauchte sie hervor: „Dein Bruder ist heute morgen nicht mehr wach geworden. Er ist gestorben.“
Sie ging hinaus.
Später kam sie wieder und half mir beim Waschen und Anziehen. Sie sagte nichts mehr.
In der Nachbarschaft wohnte ein Schreiner. Er war ein liebenswerter Mensch. Er suchte aus seinen kargen Holzvorräten einige Bretter heraus und zimmerte daraus einen kleinen Sarg. Dann strich er ihn weiß an. Die Kanten machte er schwarz. Da hinein wurde mein Bruder gelegt.
Der kleine Sarg stand auf zwei Stühlen vor den Ehebetten im Schlafzimmer. Mein Bruder, gerade sieben Jahre alt geworden, lag darin wie in einem Bettchen. Er würde nun immer schlafen. Er war ja so müde. Die Krankheit hatte ihn so müde gemacht.
An einem der nächsten Tage gingen wir zum Friedhof. Ich ging an der Hand der Mutter.
Auf dem Friedhof waren nur wenige Leute. Der Pfarrer war auch gekommen. Er sprach ein Gebet.
Vier Männer waren gerade dabei, den kleinen Sarg mit Seilen in die Grube zu lassen, da heulten wieder die Sirenen.
Mutter nahm mich bei der Hand und eilte weg.
Plötzlich blieb sie stehen, blickte um sich und zog mich in eine andere Richtung. Sie schleifte mich fast hinter sich her. Dann kroch sie unter einen dunklen Strauch aus Nadelholz, zog mich nach und drückte mich fest an sich.
Die Flugzeuge kamen. Es waren nicht viele. Aber sie flogen ganz tief. Mutter und ich rührten uns nicht und sagten nichts.
Noch lange horchten wir auf das Brummen der Flugzeuge. Erst als das Brummen kaum noch zu hören war, kamen die Leute aus ihren Verstecken heraus und klopften ihre Kleidung sauber.
Auch Mutter und ich krochen unter dem Strauch hervor, gingen aber nicht mehr an das Grab meines Bruders, sondern beeilten uns, nach Hause zu kommen.

 


Köln/Rhein; Mai 1945

Die Heimkehr
Hans Engels

Es war, als wäre alles neu. Ein klarer Himmel wölbte sich in leuchtendem Blau, leergefegt vom Grau der Regenwolken, gereinigt und erlöst vom Lärm der Flugzeuge und deren todbringenden Geschossen.
Der schon laue Hauch des Windes lud ein, die Fenster weit zu öffnen, damit er den Frühling hineinwehen könne. Alle Kreatur atmete auf, sog ein den Atem des Friedens.
Endlich! Das Licht des Frühlings hatte den Krieg vertrieben. Fast schien es so, als hätte der Völkerstreit die Menschen kaum in Bedrängnis gebracht, kaum Angst und Schrecken verbreitet. Die dunklen Schatten schienen verflogen.
Alles drängte hinaus ans Licht nach der langen Haft durch die Gewalt böser Mächte. Selbst die Dinge des Alltags mußten nach draußen gebracht werden. Der Teppich aus dem Wohnzimmer, das Sofa, die Matratzen, die Kleider aus den Schränken, alles mußte gleichsam befreit werden von der Erinnerung todbringender Enge, sollte den frischen Duft der Erlösung atmen, um für ein neues Leben dazusein.
Fräulein Theres war eine der eifrigsten. Unaufhörlich war sie mit Teppichklopfer und Bürste dabei, den Staub der letzten Zeit herauszuklopfen.
Selbst Mutter konnte wieder lächeln, wenn sie in die helle Welt da draußen blickte. Es war ja auch herzerfrischend, den davonziehenden Staubwolken nachzublicken, die Theres in einem fort aus den Polstern trieb. Trat Mutter aber wieder zurück in den Schatten des Zimmers, erblickte man die Spuren der letzten Monate in ihrem Gesicht. Den Tod eines Kindes wischt eine Mutter nicht so leicht hinweg. Zu tief gruben sich da Spuren ein, die auch durch den Frieden wohl nie ganz ausgelöscht werden können. Immer wieder trübt der Erinnerung dunkle Nacht den neu erstehenden Tag.
Oft strich ihre Hand nur so im Vorübergehen über meinen Kopf. Ich wagte dann kaum zu ihr hochzublicken. Ich wußte, ihr Mund lächelte, aber aus ihren Augen schossen die Tränen hervor. Und dann mußte auch ich weinen.
Ich, knapp drei Jahre alt, war ihr ja noch verblieben. Von Vater hatten wir lange nichts mehr gehört. So war ich für sie wohl Trost und Hoffnung, Sinn und Aufgabe, auch Heilkraft für die immer noch schmerzende Wunde.
Allein der Anbruch des Frühjahrs, die Hoffnung auf Vaters Heimkehr, das Gefühl, tätig sein zu müssen, ließen dann und wann die Erinnerung etwas verblassen. Für immer längere Augenblicke entschwand das Bild von dem kleinen, weißen Sarg vor ihren Augen, aus ihren Gedanken.
Hell leuchtete die Sonne durch die Fensteröffnung in die Küche. Der Nachbar freute sich, daß die Goldfische Winter und Krieg gut überstanden hatten. Nun säuberte er das Becken draußen vom dunklen, fauligen Schlamm. Auch die Gartenzwerge standen da schon aufgereiht; sie sollten bald ein neues Kleid erhalten. Nun, das alte war auch schon arg angenagt von den Unbilden der Zeit und des Wetters. Und im Meisenkasten am alten Kirschbaum zirpte es ungeduldig, ja gefräßig, wenn emsige Meiseneltern Futter brachten.
Theres klopfte gerade den Staub aus dem Sofa. Staubwolken zogen langsam davon. Da hielt sie mitten in der Bewegung inne und ließ den Klopfer langsam auf das Polster sinken. Ihr Gesicht erstarrte vor Schreck. In der davonziehenden Staubwolke stand ein Mann, ein Fremder.
Er sah auf Theres und versuchte zu lächeln. Aber in dem verwegen aussehenden Gesicht schien sich das Lächeln zu einer Grimasse zu verzerren. Der Mann kam näher, und Theres streckte ihm eine Hand entgegen. Der Mann nahm sie mit beiden Händen und hielt sie eine kurze Weile fest. Theres bewegte lautlos die Lippen. Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihre Stimme versagte.
Der Mann wischte sich mit der Hand über sein Gesicht, dann wandte er den Kopf zum Fenster und sah mich an. „Und du bist der Hans“, meinte er sofort.
Sein unrasiertes Gesicht war ganz naß, aber die klaren Augen blickten mich freundlich an. Im selben Augenblick hörte ich hinter mir den erschrockenen, unterdrückten Aufschrei meiner Mutter. Aber sie kam nicht ans Fenster; sie blieb im hinteren dunklen Winkel der Stube.
Der Mann sah mich mit seinen nassen Augen an und fragte mit zitternder Stimme: „Und wo ist dein Bruder?“
Aber noch ehe ich etwas sagen konnte, nahm Theres den Mann bei der Hand und führte ihn ein Stück beiseite, dorthin, wo ich beide nicht mehr sehen konnte. Ich aber wußte in diesem Augenblick: Der Mann mußte mein Vater sein, von dem Mutter mir so oft erzählt hatte. Ich glaube, es waren die klaren Augen, die mich angeblickt hatten und die mir Freude und Zuneigung verrieten. Oder hatte sich gar sein ganzes Gesicht mir geöffnet?
Vater und Mutter haben an diesem Tag noch sehr viel geweint. Und immer, wenn ich das sah, mußte auch ich weinen, und auch die Theres. Aber wenn Vater mich dann mit nassen Augen ansah, so schimmerte doch hinter dem Schmerz ein kleines Glück hindurch, ein, wenn auch noch schwacher, Strahl der Hoffnung, ohne den aber niemand leben kann.


Detmold, Nordrhein-Westfalen;1944

Mein Osterhase
Heide Rohse

In goldene Folie gewickelt, wie die glänzt! Ihre kleine Hand schob sich vor und strich leicht über den Osterhasen, die langen Löffel, den Kopf und den Körper, an dem sie die Läufe unten genau fühlen konnte. Daß er mir gehört, daß ich ihn essen darf! Nein niemals. Ich will ihn immer wieder begucken. Wo Mutter ihn nur ergattert hat? Ob sie dafür etwas Wertvolles eintauschen mußte? Ich will ihn nicht essen, nur angucken. Claus hat auch einen, ob der ihn ißt?
Claus war ihr Cousin, er kam während des Krieges oft zu Besuch, weil seine Mutter umgekommen war.
„Eine Tragödie, sagte Mutter, wir müssen ihm ein Zuhause geben. Sei gut zu ihm, das arme Kind, sein Vater ist nun auch im Krieg.“
Tatsächlich, die Ohren von seinem Hasen sind abgeknabbert. So ein gemeiner Kerl. Mein Vater ist ja auch im Krieg.
Ich verstecke meinen Hasen, dann kann ich ihn jeden Tag hernehmen und ansehen. Die goldene Folie lasse ich dran. Wenn ich ihn mal esse, breche ich nur ganz kleine Stückchen ab, und die goldene Folie streiche ich glatt.
Vorsichtig faßte sie den Hasen, bettete ihn weich auf die Holzwolle und legte ihn unter ihr Bett, in die hintere Ecke. Dazu mußte sie sich der Länge nach auf den Boden legen und unter das Bett kriechen, um so weit zu reichen. Da würde ihn keiner finden.
Und ich bin im Bett und weiß, daß er unten liegt, und wenn ich es will, kann ich ihn holen.
Erst hebe ich ihn noch lange auf. Aber wenn ich ein bißchen von ihm esse, womit fange ich an? Mit den Ohren? Nein, die sind zu schön. Mit den Läufen? Nein, dann ist er ja gleich ganz kaputt. Sie konnte sich nicht entscheiden, und in ihren Gedanken mischte sich Vorfreude mit Grausen.
„Wenn du dir deinen Pudding gut einteilst, hast du länger was davon“, sagte Mutter.
Und jetzt teilte sie sich den Hasen sehr gut ein, bis zum Sommer konnte sie etwas von ihm haben. Mit dem Pudding machte sie das auch, sie aß immer nur einen viertel Löffel, und wenn Claus schon längst nichts mehr auf dem Teller hatte, dann ärgerte er sich grün und blau, während sie immer noch aß.
„Gib ihm doch noch ein bißchen ab!“
Aber das tat sie nicht, weshalb hatte sie schließlich ihren Pudding so gut eingeteilt! Auf keinen Fall! Er hatte seinen ja gehabt.
Er jammerte manchmal und quengelte: „Du hast noch so viel, und ich habe nichts mehr!“
Aber daran war er selbst schuld, er hätte ja nicht so schnell zu essen brauchen.
Nur wenn Mutter sie auch drängte, die doch wollte, daß sie sich alles einteilte, dann wurde sie unsicher und dachte daran, daß er keine Mutter hatte, und daß er sie mit Großmutter besuchte, weil letzte Woche eine Bombe in ihr Haus gefallen war.
Wenn er ihr leid tat, gab sie ihm einen Löffel, aber nur, wenn er versprach, ihn beim nächsten Pudding zurückzugeben. Er versprach’s, tat’s aber nie. Sie wußte das, deshalb wollte sie ihm eigentlich auch nichts abgeben.
Und mit dem Osterhasen – noch nie hatte sie einen bekommen, natürlich mußte sie ihn besonders gut verstecken. Von dem geb ich nichts ab. Das steht fest, von dem kriegt er nichts, auch wenn er keine Mutter hat, und wenn er noch so bettelt.
Abends sah sie, wie Claus die Läufe seines Hasen in den Mund steckte. Das war der Rest. Mitleidlos dachte sie daran, daß ihrer in der Goldfolie unter dem Bett lag und daß sie alles noch vor sich hatte. Sie konnte sofort ein bißchen von ihm essen, aber sie konnte auch noch warten.
Das war’s, sie hatte die Wahl. Ich hab ihn noch und er nicht, triumphierte sie. Ich könnte ihn essen, wenn ich wollte, aber ich will nicht, wär ja auch schön dumm!
Glücklich schlief sie ein mit dem Gedanken, morgen ihren Hasen in aller Ruhe aus seinem Versteck zu holen.
Als sie aufwachte, konnte sie es aber nicht erwarten, kroch gleich unter ihr Bett. Wenigstens mal sehen, ob er da ist.
Aus der Küche rief Mutter mehrmals zum Frühstück.
Das Kind erschien nicht. Sie fanden es unter seinem Bett liegend. Mutter zog es darunter hervor.
„Mein Hase! Mein Hase! Er hat ihn aufgegessen ...“
Sie schluchzte fassungslos.


Bremen – Bad Ems/Lahn, Rheinland-Pfalz;1943–1945

Glückliche Tage bei den Großeltern (gekürzte Fassung)
Kari von der Behrens

Als im vierten Kriegsjahr die Luftangriffe zunahmen und auch Bremen verstärkt bombardiert wurde, zog meine Mutter mit meiner älteren Schwester und mir zu meinen Großeltern nach Bad Ems, im abseits gelegenen Lahntal. In dem alten Klinkerhaus an der Lahn, in dem mein Großvater auch seine Arztpraxis betrieb, gab es viele Zimmer, die sich im Laufe des Krieges mit unseren Tanten, Großtanten, Cousinen und eben auch uns füllten, bis wir schließlich mit zwölf Personen um den großen, ausgezogenen Eßtisch saßen. Die Männer waren alle eingezogen worden, mein Vater arbeitete als Stabsarzt an der Front. Wir sahen ihn nur bei seltenen kurzen Heimaturlauben – dann war er für mich ein fremder Mann, vor dem ich mich versteckte.
Von dem schrecklichen Krieg merkten wir in dem beschaulichen kleinen Kurort wenig. Es fielen nur ein oder zwei Bomben, ab und zu sahen wir hinter den Bergen „Christbäume“ niedergehen, und einmal stürzte ein brennender Fallschirmspringer über der Lahn ab.
Nach den Bombenangriffen auf Koblenz leuchtete nachts der Feuerschein zu uns herüber, Brandgeruch lag in der Luft, und der Wind trug schwarze Papierfetzen zu uns, auf denen oft noch die Schrift zu lesen war. Die Erinnerung an die Bombennächte in Bremen, die wir zitternd im Luftschutzkeller verbracht hatten, wurden schwächer. Auch die Träume von brennenden Kindern und Straßenbahnwagen voller verkohlter Leichen kehrten nicht wieder.
In diesen Tagen wurden die Gesichter der Erwachsenen immer sorgenvoller, das Rouge konnte die Blässe und Müdigkeit der Frauen nicht verdecken. Zu den Ängsten um die Angehörigen kam die schwere Arbeit. Meine Mutter mußte jeden Tag zwölf Stunden in einer Munitionsfabrik arbeiten, die anderen versorgten den großen Gemüsegarten, die Hühner, die viele Wäsche und bereiteten das Essen.
Meine Großmutter fuhr meinen Großvater in einem alten „Adler“ über Land zu den Patienten. So hatten die Erwachsenen tagsüber kaum Zeit für uns, wir Kinder waren uns selbst überlassen – und entbehrten nichts.


Der Vater von Kari von der Behrens auf Heimaturlaub 1942 mit seinen beiden Kindern

Im Frühling, während der Schneeschmelze, stieg zu unserer hellen Freude die Lahn. Die Haarrisse im Kellerboden verfärbten sich dunkel von der aufsteigenden Feuchtigkeit, und die Erwachsenen brachten eilends die Vorräte in Sicherheit, stellten Weinflaschen und Eingemachtes oben auf die Regale und verlegten kleine Stege in den Kellerräumen. Wenig später stand das Wasser kniehoch, vergessene Wannen und Schüsseln schaukelten auf den schlammigen Fluten. Wir schnappten uns einen Waschzuber, um damit jubelnd den Ozean im eigenen Haus zu befahren.

Der Krieg näherte sich dem Ende, die Bombenangriffe hörten auf, dafür gab es Artilleriebeschuß, auch bei uns. Die Menschen suchten Schutz in ihren Kellern oder in den alten Bergwerksstollen, die von den Frauen bewohnbar gemacht worden waren. Wurde der Geschützlärm schwächer, kehrten alle schnell an ihre Arbeit zurück.
Auch wir Kinder spielten unbekümmert draußen weiter, bis uns eines Tages eine Granate um die Ohren pfiff und in die Hauswand einschlug. Da stürzten wir entsetzt in den Keller und trauten uns lange Zeit nicht mehr vor die Tür.
Wenig später hieß es: Der Krieg ist aus! Glocken läuteten, weiße Fahnen, das heißt Bettücher, wurden gehißt, die Hakenkreuzfahnen verschwanden von einem Tag auf den anderen – später nähte meine Mutter uns hübsche rote Kleider aus dem Stoff. Ich durfte nicht mehr „Heil Hitler“ sagen, was ich sehr bedauerte. Ich hatte nämlich kurz zuvor gelernt, stehend auf einem Erwachsenen-Fahrrad zu balancieren und beim Fahren mit gestrecktem Arm den Hitlergruß zu schmettern. Und meine Mutter sagte: Nun dürft ihr wieder das Lied von Heine singen: „Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute“.
Und weiter hieß es: Die Amerikaner kommen!
Da zogen sie ein im Triumphzug, und wir standen still und beklommen am Straßenrand. Vorweg brauste ein offener Jeep mit dem Kommandanten, stehend, in wehendem Umhang. Ihm folgten schwere Laster, auf denen wohlgenährte weiße und schwarze Soldaten in adretten, prallen Uniformen saßen. Ich starrte sie fassungslos an. Es waren die ersten „Neger“, wie wir damals sagten, die ich zu Gesicht bekam. Einer von ihnen biß mit Appetit in einen großen, runden Holländer Käse. Alle sahen so satt und gutgelaunt aus – so gut aussehende Männer hatte ich noch nie erlebt. Bei uns gab es ja nur alte oder kranke Männer oder Jungen.
Und es platzte aus mir heraus: „Die sehen aber viel besser aus als unsere Männer!“
Um mich herum brach ein Sturm der Entrüstung aus, in der allgemeinen Aufregung konnte ich mich glücklicherweise schnell aus dem Staube machen.
Anstelle der zerstörten Brücken bauten die Soldaten eine Pontonbrücke über die Lahn und schlugen dort ihre Zelte auf. Wir kleineren Kinder schlichen uns zu ihnen, bestaunten die großen, schneeweißen Weißbrotscheiben, die sie sich, dick bestrichen mit Butter und belegt mit Wurst oder Käse, in ihre großen Münder schoben, und machten uns über die Abfälle her, die immer noch köstlich schmeckten. Ab und zu drückten uns diese netten, jungen Leute auch einen Kaugummi oder Schokolade in die Hand, leider schämten wir uns nicht, um weitere Süßigkeiten zu betteln. Bis unsere älteren Geschwister dahinterkamen, uns hastig vom „Feind“ wegholten und uns eine unvergeßliche Standpauke hielten.
Nach den Amerikanern rückten die Franzosen ein und beschlagnahmten unser Haus. Wir mußten innerhalb einer Stunde ausziehen und waren doch so viele. Ein Onkel war noch zu uns gestoßen und eine Tante, die man in Theresienstadt befreit hatte.
Nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, fanden wir Unterschlupf in zwei leerstehenden Zimmern im Sanatorium der Barmherzigen Brüder. Dieses neue Abenteuer, ein gedrängtes Leben zwischen aufgeregten Erwachsenen, Matratzen und Brennhexen, hatte bald ein Ende. Die Franzosen entdeckten, daß mein Großvater ein fließend Französisch sprechender Arzt war, und sorgten dafür, daß er schnell wieder in sein Haus und in seine Arztpraxis zurückkehren konnte.


Berlin – Prag – Schüttenhofen, Südwest-Böhmen; August 1944
– März 1945

Gebrannte Kinder
Evelyn Steudel

1944 sollte ich aufs Gymnasium gehen. Aber in Berlin waren viele Schulen in sichere Gebiete evakuiert worden, auch die Martin-Luther-Oberschule vom Tempelhofer Weg. Und als die Amerikaner in Frankreich bereits gelandet waren und die Ostpreußen zu fliehen begannen, da schickten uns unsere Eltern, getreu dem Aufruf des Führers, noch in das „bombensichere“ Gebiet Tschechoslowakei ins KLV-Lager. Zehn kleine Mädchen von zehn Jahren waren wir, die Neuaufnahmen der Klasse 1. Eine Führerin sollte uns über Prag nach Schüttenhofen bringen.
Warum wir nicht einfach durchfuhren, sondern drei Wochen in Prag Station machten, sagte uns niemand. In der YMCA mitten in der Stadt waren wir untergebracht. Wir alle hatten heftiges Heimweh. Einerseits fand ich es gut, dort nachts ohne Fliegeralarm durchschlafen zu können, andererseits ängstigte mich diese große, fremde Stadt. Sie war vollgestopft mit Menschen, die Deutsch oder Tschechisch sprachen. Durch die Straßen marschierten kolonnenweise singende deutsche Soldaten: „Schwarzbraun ist die Haselnuß“, „O, du schöhöhöner Wehehesterwald“, Fahnen über Fahnen an allen Gebäuden, aus vielen Fenstern, rot mit schwarzen Hakenkreuzen auf weißem Grund.
Täglich mußten auch wir Knirpse durch Prag marschieren. Überall Hektik, fremde Straßenzüge, Unbekanntes, Drohendes. Meine große Angst, in dem Gewühle verloren zu gehen und nicht zu wissen, wo ich wohnte, war stets gegenwärtig.
Am liebsten gingen wir zur Moldaubrücke. Da stand die Statue von Johann von Nepomuk. Wir lernten seine Lebensgeschichte und sangen sein Lied auf der Brücke. Unter uns floß die Moldau, und jedes Mal mußte ich bitterlich darüber weinen: Wie konnte ein König so grausam sein und ihn in die Moldau werfen lassen, bloß weil er die Beichte der Königin nicht verraten hatte? Armer Johann von Nepomuk!
Nach drei Wochen Prag-Aufenthalt kamen wir zehn Mädchen endlich in Schüttenhofen im KLV-Lager an. Das altertümliche Hotel „Pod Strazi“ lag am Fluß Ottawa, hier waren 120 Mädchen, 30 Lehrer und Führerinnen untergebracht.


Im KLV-Lager nannte man Evelyn Steudel nur "Krümel" - mit ihren 10 Jahren war sie die Jüngste, zudem die Kleinste und die Letzte im Alphabet.

Bald stellte sich heraus, daß ich von allen das Schlußlicht war: Die Jüngste, die Kleinste und mit meinem Mädchennamen Zobel unweigerlich die Letzte im Alphabet. Das bedeutete: zwölf Tage zu jung, um bei den Jungmädchen aufgenommen zu werden – als einzige durfte ich bei Fahnenappellen kein Halstuch und keinen braunen Knoten tragen. Ich schämte mich in meiner eigenen weißen Bluse und dem dunkelblauen Faltenrock. Zu klein, um bei Sportwettkämpfen über das hohe Pferd springen zu können. So gaben sie mir dann alle, einschließlich der Lehrer, den Namen „Krümel“. Zwei Jahre lang hörte ich nicht meinen richtigen Vornamen.
Das letzte Kriegsweihnachtsfest 1944/45 feierte unsere Schule als Sonnenwendfest. Meine Großmutter war entsetzt, als ich ihr das schrieb. Ein Weihnachtsfest ohne die Weihnachtsgeschichte – für sie undenkbar.
„Wenn der Führer das auch noch auf sein Gewissen lädt“, schrieb sie mir, „daß ihr Kinder unterm Weihnachtsbaum nicht die Weihnachtsgeschichte aufsagen dürft, dann kommt der ganz bestimmt nicht in den Himmel.“ – Mutig war sie, meine Großmutter, denn unsere gesamte Post wurde von den Führerinnen gelesen. Oma wußte immer alles genau. Ich grübelte, was der Führer wohl noch alles auf dem Gewissen hatte, wagte es aber nicht, mit jemandem darüber zu sprechen.
So feierten wir also das Sonnenwendfest, das die Führerinnen organisierten. Alle 120 Mädchen standen im Karree wie weibliche Zinnsoldaten und sangen:

Hohe Nacht der klaren Sterne,
die wie weite Brücken stehn,
über einer tiefen Ferne
drüber uns’re Herzen gehn.

Mich überzog bei diesem Singsang ein ehrfurchtsvoller Schauer, aber ich wußte nicht, warum. Draußen unterm Sternenhimmel war es kalt und schaurig schön. Diese Nachtwanderungen mußten wir immer im Schweigemarsch zurücklegen, aus Vorsicht vor tschechischen Partisanenüberfällen.
Ab Januar 1945 wurde die Post unserer Eltern spärlicher. Manchmal erreichte die Schule die Nachricht, daß Eltern bei Bombenangriffen umgekommen waren. Wir standen dann alle auf zu einer Schweigeminute. Jede hatte Angst, daß es beim nächsten Mal sie treffen könnte. Daß ihre Häuser ausgebombt, aber die Eltern zumindest in Sicherheit waren, kam nun immer öfter vor. Auch mich traf eines Tages die Nachricht, daß wir ausgebombt waren.
Langsam füllten sich die Straßen der kleinen tschechischen Stadt mit Banater Flüchtlingen. Uns wurde verboten, allein auf die Straße zu gehen. „Es ist gefährlich“, hieß es nur. Etwas Gewaltiges, aber nichts Gutes war in Bewegung geraten, und niemand erklärte es uns. „Ihr seid noch zu klein dafür“, sagten sie.
Ab und zu schnappten wir etwas auf. Die eine hörte dies, die andere das. Nachts, im dunklen Schlafsaal, flüsterten wir es uns zu. Ein Mädchen hatte etwas ganz Schlimmes genau gehört: Wenn wir den Krieg verlieren, bekommen alle deutschen Kinder von den Tschechen ein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt!
Da lagen wir im Dunkeln, betasteten unsere Stirnen und fragten uns, wie weh das wohl tun würde. Ein Mädchen hatte das schon mal bei einem Rind gesehen, dem ein Zeichen in den Rücken gebrannt wurde. „Und die Rinder haben das auch immer überlebt“, sagte sie. Wir würden dann andere Haarfrisuren tragen, mit Pony im Gesicht.
Aber vielleicht verlieren wir den Krieg gar nicht, denn der Führer hat ja noch die V2, die holt er erst ganz zum Schluß raus, dann werden unsere Feinde sich wundern. Und dann kriegen wir auch kein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt ...


Berlin;Frühjahr 1945

Die sonnigen Frühlingstage (Gekürzte Fassung)
Marga Behrend

Das Frühjahr 1945 war mit seiner Witterung überaus freundlich. Schon der April brachte warme, sonnige Tage, so daß ich viel im Freien spielen konnte. Mein Zuhause war tagsüber der Keller, der zu unserer Wohnung gehörte, und nachts eine Wohnung im ersten Stock, die uns der damalige Besitzer überlassen hatte.
Unsere Wohnung war von den Russen besetzt und in eine Art Hauptquartier umgewandelt worden. Ich nahm diese Veränderungen kaum zur Kenntnis. An das Hausen im Keller war ich durch die vielen Luftangriffe schon gewöhnt, und die Wohnung unseres freundlichen Nachbarn könnte ich so gut wie gar nicht beschreiben. Kaum hatte ich das Kopfkissen berührt, das in dem breiten Bett lag, in dem ich gemeinsam mit meinen Eltern schlief, fielen mir auch schon die Augen zu.
Ich war damals sieben Jahre alt. Meine Mutter war eine Frau von zierlicher Erscheinung. Der Hunger hatte sie kaum verändern können, denn sie war immer schon schlank gewesen. Das Schönste an ihr war das kastanienbraune Haar, das in der Sonne einen rötlichen Schimmer bekam.

An einem dieser sonnigen Apriltage spielte ich vor unserem Haus. Ein Russe kam auf mich zu, streckte mir ein Paket Margarine entgegen und sagte: „Bring Mamatschka!“
Ich nahm das Päckchen und lief in unseren Keller hinab. Dort wusch meine Mutter in einer Schüssel die Wäsche. Sie hatte sich das Gesicht ein wenig mit Ruß geschwärzt, um unansehnlich zu erscheinen. Das Haar war unter einem Kopftuch versteckt. Ich gab ihr die Margarine.
„Wo hast du das her?“ fragte sie mich und drehte das kleine Paket zweifelnd in den Händen.
„Ein Russe hat es mir gegeben“, antwortete ich, „er hat gesagt, ,bring Mamatschka‘“.
Meine Mutter bekam einen gehetzten Gesichtsausdruck. „Wo?“ fragte sie.
„Oben, auf der Straße“, gab ich ihr Auskunft.
„Das darfst du nicht, hörst du, du darfst niemals etwas nehmen, wenn jemand sagt ,bring Mamatschka‘“.
Ein paarmal wiederholte sie „hörst du, niemals, niemals“. Ich nickte. Wie immer, wenn meine Mutter in Panik war, konnte ich nicht sprechen.
„Geh jetzt wieder spielen“, sagte sie.
Das tat ich, aber warum ich meiner Mutter keine Margarine bringen durfte, das verstand ich nicht.

Nach einigen Wochen konnten wir wieder in unsere Wohnung einziehen. All unser Hausrat war noch vorhanden, und viele Gegenstände waren hinzugekommen, die den Russen gefallen und die sie aus anderen Wohnungen mitgenommen hatten. Beim Abmarsch jedoch war ihnen von ihrem Kommandeur verboten worden, die Dinge mitzunehmen.
Meine Mutter brauchte mehrere Wochen, bis sie die eigentlichen Besitzer der Utensilien ausfindig gemacht und alles wieder zurückgegeben hatte. Mein Vater hatte die Fenster von innen mit Brettern vernagelt, damit man von draußen nicht hineinsehen konnte.
Wieder war es ein warmer, sonniger Tag. Um das Sonnenlicht sehen zu können, öffnete ich das Fenster einen Spalt breit. Ein junger Mann, wie ich in diesem Alter lange keinen mehr gesehen hatte, kam vorbei und blieb vor dem Fenster stehen. Sein hellblondes Haar, die blauen Augen und der zarte Teint gaben ihm etwas Strahlendes. Reglos staunte ich ihn an. Jetzt lächelte er und streckte mir seine Hand entgegen, in der ein in gelbes Papier eingewickelter Bonbon lag. Um den Bonbon nehmen zu können, machte ich das Fenster noch etwas weiter auf. Hinter mir hörte ich das Rascheln eines Unterrockes, denn meine Mutter zog sich gerade um. Jetzt hob der junge Mann seinen Blick über meinen Kopf hinweg und bemühte sich, in das Zimmer hineinzuspähen.
Ich wandte mich um. Ich sah, wie meine Mutter mit entsetztem Gesichtsausdruck auf den jungen Mann schaute. Beide begannen gleichzeitig zu laufen, der junge Mann außen um das Haus und die Mauer der Grünanlage herum und meine Mutter innen die Treppe hinunter zur Haustür. Meine Mutter erreichte die Tür zuerst und drehte den Schlüssel im Schloß um.
In dem Augenblick vermutete ich, daß der junge Mann ein Russe sein könnte. Ich wickelte den Bonbon aus und steckte ihn in den Mund. Als meine Mutter wieder zurückkam, schrie sie mich an: „Du wolltest mich verkaufen!“
Ich verstand nicht, was sie damit meinen könnte und warum sie diesen schönen Menschen nicht auch schön gefunden hatte. Der Bonbon schmeckte gut.


Bonn;1945

Das Spiel der Knöpfe
Dorothea F. Voigtländer

„Nani ist verbrannt, Kaspar ist verbrannt, Gretel ist verbrannt.“ Anna zählte an ihren kleinen Fingern die Opfer des letzten Bombenangriffes auf. „Und meine Märchenbücher sind verbrannt, die Puppenstube, der Kaufladen ...“
Sie hielt inne, überlegte und sah dann zu den Großen hin. „Was ist noch alles verbrannt?“, fragte sie in die Stille hinein.
„Das Kind hat einen Schock“, sagte Tante Kathi und begann mit einem Ablenkungsmanöver. Sie nahm ein Küchenhandtuch, wurstelte es zu einem Knoten zusammen und nannte das Etwas „Hansi“. Doch Anna gefiel das nicht. Wutentbrannt riß sie an der Tischdecke und schleuderte alles zu Boden, was zuvor auf dem Tisch gestanden hatte.
In Scherben lag nun das gute Sonntagsgeschirr, dazwischen Kuchenreste, ein Milchflecken – und der umgestülpte Handarbeitskasten von Großmutter. Auf den Holzdielen rollte, hüpfte und sprang es, die Knopfkiste hatte sich geöffnet, und der Inhalt ergoß sich im bunten Durcheinander auf das Chaos. – Und mittendrin saß Anna, hochentzückt über die sonntägliche Katastrophe! Triumphierend schaute sie in die Gesichter über sich, doch immer noch wagte niemand, etwas zu sagen. – Was sollte man auch mit einer Vierjährigen tun, die offensichtlich einen Schock hatte?
Für Anna war es das erste Mal, daß auch ihr der Krieg etwas genommen hatte. Gedankenverloren nahm sie einen Trachtenknopf in die kleine Hand, legte einen Herzknopf dazu, fand zwei kullerrunde weiße Knöpfe, legte sie nebeneinander: „Das sind die Augen“.
Dann legte sie einen Reißverschluß darunter.
„Und das ist der Mund“, sagte sie, sammelte plötzlich alle Knöpfe zwischen den Scherben, den Kuchenresten, zwischen den Fäden und Garnröllchen auf und legte sie fast liebevoll in die Knopfkiste, die sie dann eng an sich drückte. Ein neues Spiel war geboren: das Spiel der Knöpfe.
Zuerst war natürlich Anna an der Reihe, dann mußte Mutter ein Gesicht legen. Onkel Hans, der gerade nach einer schweren Kriegsverletzung heimgekommen war, stiftete ein paar Knöpfe seiner Uniform für den Polizisten, der seinen Platz mitten in der Küche fand.
In den nächsten Tagen entstanden überall Knopfblumen und Knopfhäuser – Anna war nicht mehr zu bremsen! Und niemand wagte, sie daran zu hindern, denn ihr Wutgeschrei übertönte sogar die Sirenen.
Die Nachbarn waren nicht mehr vor ihr sicher. „Hast du Knöpfe?“, fragte sie herrisch, streckte gebieterisch ihre kleine Patschhand aus und erhielt immer, was sie forderte.
Fast jede Stufe im Treppenhaus war mit „Knopfkunst“ belegt, bis hinunter zum Keller, wo Anna selbstvergessen mit immer neuen Knöpfen neue Knopfkunst schuf, während draußen die Bomben herunterhagelten. Zufrieden stieg sie nach der Entwarnung wieder mit Mutter, Tante Kathi, Großmutter und Onkel Hans in den zweiten Stock hinauf und befahl dabei den Großen, ja nicht auf ihre Knopfgebilde zu treten. Und niemand wagte es.
Wenn Tante Kathi putzte, so dauerte es immer länger, denn die Knopfgesichter starrten ihr überall auf dem Boden entgegen. Gelegentlich stieß sie die „Bodenkunst“ vorsichtig zur Seite, um dort den Boden zu säubern, legte aber sofort die Gesichter wieder zusammen. Onkel Hans lenkte Anna ab, damit sie das nicht sah. Doch sie merkte es immer. „Da hast du schon wieder meine Knopfmännchen verrückt“, empörte sich die junge Dame, stemmte ihre Ärmchen entrüstet in die Seiten und sah Tante Kathi böse an.
„Na ja, ich muß ja schließlich auch hier mal saubermachen“, verteidigte sich die Tante mit schlechtem Gewissen, sichtlich erschöpft über die Mehrarbeit, die der kleine Haustyrann verursachte.
Die Knöpfe wurden ein Alptraum für die Großen. Kaum einen Meter konnten sie in Ruhe gehen, ohne nicht vorsichtig über irgendein Knopfgebilde steigen zu müssen.
Mit Argusaugen beobachtete Anna alles um sich herum, sie vergaß nie, wo was in welcher Form lag. Ihre Knopfbegeisterung schien einfach kein Ende zu nehmen.
Da hatte Großmutter die zündende Idee. Aus alten, oft gestopften Strümpfen, Wolle und Stofflappen nähte sie eine Puppe. Aufmerksam sah Anna ihr zu, als die Augenbrauen und die Augen gestickt wurden, dann eine Nase und ein Mund mit rotem Garn.
„Das ist Peppi“, sagte Anna schließlich, als das Puppenkind aus Stoff fertig war.
Großmutter war skeptisch, denn sie kannte Anna. Doch die war ganz verrückt nach ihrer Schmusepuppe „Peppi“, die nun den ersten Platz in ihrem Herzen einnehmen sollte. Von einem zum anderen Tag waren die Knöpfe unwichtig geworden.
Großmutter, Tante Kathi und Mutter sammelten langsam ein Knopfgebilde nach dem anderen ein, immer vorsichtig nach Anna schielend, die sich aber nicht mehr für die Knöpfe interessierte. So verschwand ein „Kunstwerk“ nach dem anderen.
Die Familie und die Nachbarschaft mußten jetzt Kleidungsstücke für Peppi nähen, häkeln, stricken. Nie ging Anna, ohne Peppi fest an ihr Herz zu drücken. Je häßlicher Peppi wurde, umso inniger wurde sie geliebt.
Jahrzehnte später stieß die nun erwachsene Anna unbeabsichtigt ein Regal von der Wand im alten Kinderzimmer, in dem die eigenen Kinder schon lange nicht mehr spielten. Da kollerte, klickte und hüpfte es nur so über den Boden. Die Knopfkiste von einst war heruntergestürzt, die Knöpfe lagen nun im ganzen Zimmer verstreut.
Da kniete sich Anna auf den Boden, nahm erst einen Knopf in die Hand, dann einen zweiten, und schon entstand das erste Knopfgesicht, dann ein Knopfmensch, eine Knopfkatze, ein Knopfhaus ...
„Mutter ist völlig kindisch geworden“, sagte der erwachsene Sohn unten im Wohnzimmer. „Da spielt sie doch tatsächlich mit Knöpfen, wie ein kleines Kind!“
Von Tante Kathi, die still beim Kamin saß und leise vor sich hinlächelte, erfuhren nun die großen Kinder Annas von jenem Mädchen, das einst mit Knopfspielen die ganze Familie tyrannisiert hatte in einer Zeit, als so manches Spielzeug in der großen Weltgeschichte zerschlagen worden war.