Leseprobe

Gebrannte Kinder
Kindheit in Deutschland 1939-1945

61 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
384 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 1
ISBN 978-3-933336-25-5, Euro 12,90
(nicht mehr lieferbar)

als Taschenbuch:
ISBN 978-3-86614-110-0, Euro 9,90

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Leseproben aus dem Buch
Agnes Setzepfand, "Der Krieg ist ausgebrochen"
Marga Behrend, Die sonnigen Frühlingstage
Evelyn Steudel, Gebrannte Kinder


Hamburg - Görlitz/Neiße, Oberlausitz, Sachsen;1939-1945

"Der Krieg ist ausgebrochen" (gekürzte Fassung)
Agnes Setzepfand

Der Morgen des 1. September 1939 ist wie jeder andere. Meine Mutter setzt mich auf den Schieber, der sich aus dem eingebauten Küchentisch herausziehen läßt, und bereitet das Frühstück. Bäcker Janowitz hat frische Rundstücke gebracht und sie im vorbereiteten Beutel an die Wohnungstür gehängt. Sie sind noch warm. Heil und friedlich ist der Morgen. Ich fühle Sonnenstrahlen auf meiner Haut und genieße den Augenblick, das Geborgensein, das Behütetwerden von Mamas Liebe. Morgens nimmt sie sich Zeit für mich, macht mich zu ihrer Gesprächspartnerin. Ich bin ja auch schon groß. In zwei Monaten werde ich fünf Jahre alt.

Inzwischen ist das Frühstück fertig. Ich trinke meinen Kakao und genieße mein Brötchen. Es ist mit Butter bestrichen. Zucker ist darauf gestreut. Mama verteilt ein wenig von ihrem heißen Tee darauf, so daß die Butter weich wird. Lecker.

Draußen fährt ein Schutzmann. Die Sonne beglänzt seinen schwarzen Tschako. Mama öffnet das große Küchenfenster. Der Mann steigt vom Fahrrad. Er sagt: "Der Krieg ist ausgebrochen."
Ich verstehe nichts von dem folgenden Gespräch, fühle nur dunkel Angst und Entsetzen. Plötzlich weiß ich, was auch immer das Bedrohliche sein mag, unser Leben wird nie mehr so sein, wie es war.

Lautes Klagen. Mama kann so gut jammern. Ich bekomme wieder Bauchschmerzen, aber ich beiße die Zähne zusammen, traue mich nicht, es zu sagen, bin klein, ohnmächtig, zähle nicht.
Überall, besonders im Radio, Kriegsgeschrei, Begeisterung, Führergebrüll. Polen zerschlagen, unsere Truppen in Paris. Vati erwartet seinen Stellungsbefehl. Er hat Angst, zu spät zu kommen.
Schließlich wird er eingezogen und kommt zur Ausbildung nach Munster Lager. An Wochenenden kommt er in seiner schicken Leutnantsuniform nach Hause. Mama und ich gehen stolz an seiner Seite. Toll finde ich es, wenn Soldaten vor uns die Hacken zusammenschlagen und die Hand an die Mütze heben. Ich fühle mich so wichtig. Ich bin wohl doch eine verwunschene Prinzessin.

Täglich tönen Hitlers markige Worte aus dem Volksempfänger. Ich hasse diese Ansprachen, weil dann absolute Ruhe geboten ist. Meine Mutter ist ein Hitler-Fan, wobei ihr Interesse mehr dem Mann gilt, als seiner Politik. Wann immer er zu Kundgebungen nach Hamburg kommt, macht sie sich mit dem sogenannten Hitlerhocker - das ist ein aus Latten gezimmerter, zusammenlegbarer Hocker - auf, um das Idol aus der Nähe zu erleben.

In der NS-Frauenschaft ist sie als Kulturreferentin aktiv. Ihre Aufgabe besteht darin, vaterländische Gedichte zu deklamieren. Sie nimmt Sprechunterricht und probt täglich ihre Texte: "Mein deutsches Land, nur nicht verzweifeln, dringt dir die Axt in Mark und Bein, der Frühling heilt einst deine Wunden, es gibt auch wieder Sonnenschein."
Ich mag meine Mutter in diesen Augenblicken nicht. Das Pathos macht sie unnatürlich und bedrohlich fremd.


Familie Setzepfand in Hamburg 1939: Mutter und Tochter sind stolz auf den Vater in seiner Leutnantsuniform.

Schon bald sind wir wieder erwacht aus dem Rausch der Anfangserfolge. Krieg ist kein Abenteuer. Jede Nacht das Heulen der Sirenen, das Brummen der feindlichen Flugzeuge über Hamburg. Das heißt aufstehen. Es ist kalt.
Wir greifen schlaftrunken nach den bereitstehenden Koffern und gehen mit den wichtigsten Sachen in den Luftschutzkeller. Ich halte meinen Puppenkoffer und meine Puppe Günter im Arm. In unserem Keller sind zweistöckige Betten für die Kinder aufgestellt. Die Erwachsenen sitzen auf Stühlen. Ich klettere zu meiner Freundin Lilo, und wir spielen Karten oder mit unseren Puppen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Hin und wieder kommt einer der Nachbarn auf Urlaub. Dr. Dätz hat Kaffee mitgebracht. Eine Tasse dieses duftenden Getränks macht unter den Begeisterten die Runde. Man kommt sich näher, hört sich zu. Es wird über die Angriffe gesprochen, die Front, Tote. Wir hören zu. Es ist gruselig. Alt sind wir Kinder plötzlich, Greise.
Verläßt jemand den Keller, so schleichen wir hinterher.

Tiefschwarze Nacht. Am Himmel Lichter, in Geschwadern angeordnet, wie Sterne eigentlich, wenn sie nicht so bedrohlich über uns hinwegbrummen würden. Hin und wieder feurige Kugeln, Krachen. Morgen werden wir für unsere Sammlungen Splitter finden, wenn wir in den Bombentrichtern unsere Höhlen bauen.


Berlin; Frühjahr 1945

Die sonnigen Frühlingstage (Gekürzte Fassung)
Marga Behrend

Das Frühjahr 1945 war mit seiner Witterung überaus freundlich. Schon der April brachte warme, sonnige Tage, so daß ich viel im Freien spielen konnte. Mein Zuhause war tagsüber der Keller, der zu unserer Wohnung gehörte, und nachts eine Wohnung im ersten Stock, die uns der damalige Besitzer überlassen hatte.

Unsere Wohnung war von den Russen besetzt und in eine Art Hauptquartier umgewandelt worden. Ich nahm diese Veränderungen kaum zur Kenntnis. An das Hausen im Keller war ich durch die vielen Luftangriffe schon gewöhnt, und die Wohnung unseres freundlichen Nachbarn könnte ich so gut wie gar nicht beschreiben. Kaum hatte ich das Kopfkissen berührt, das in dem breiten Bett lag, in dem ich gemeinsam mit meinen Eltern schlief, fielen mir auch schon die Augen zu.

Ich war damals sieben Jahre alt. Meine Mutter war eine Frau von zierlicher Erscheinung. Der Hunger hatte sie kaum verändern können, denn sie war immer schon schlank gewesen. Das Schönste an ihr war das kastanienbraune Haar, das in der Sonne einen rötlichen Schimmer bekam.

An einem dieser sonnigen Apriltage spielte ich vor unserem Haus. Ein Russe kam auf mich zu, streckte mir ein Paket Margarine entgegen und sagte: "Bring Mamatschka!"
Ich nahm das Päckchen und lief in unseren Keller hinab. Dort wusch meine Mutter in einer Schüssel die Wäsche. Sie hatte sich das Gesicht ein wenig mit Ruß geschwärzt, um unansehnlich zu erscheinen. Das Haar war unter einem Kopftuch versteckt. Ich gab ihr die Margarine.
"Wo hast du das her?" fragte sie mich und drehte das kleine Paket zweifelnd in den Händen.
"Ein Russe hat es mir gegeben", antwortete ich, "er hat gesagt, ,bring Mamatschka'".
Meine Mutter bekam einen gehetzten Gesichtsausdruck. "Wo?" fragte sie.
"Oben, auf der Straße", gab ich ihr Auskunft.
"Das darfst du nicht, hörst du, du darfst niemals etwas nehmen, wenn jemand sagt ,bring Mamatschka'".
Ein paarmal wiederholte sie "hörst du, niemals, niemals". Ich nickte. Wie immer, wenn meine Mutter in Panik war, konnte ich nicht sprechen.
"Geh jetzt wieder spielen", sagte sie.
Das tat ich, aber warum ich meiner Mutter keine Margarine bringen durfte, das verstand ich nicht.

Nach einigen Wochen konnten wir wieder in unsere Wohnung einziehen. All unser Hausrat war noch vorhanden, und viele Gegenstände waren hinzugekommen, die den Russen gefallen und die sie aus anderen Wohnungen mitgenommen hatten. Beim Abmarsch jedoch war ihnen von ihrem Kommandeur verboten worden, die Dinge mitzunehmen.

Meine Mutter brauchte mehrere Wochen, bis sie die eigentlichen Besitzer der Utensilien ausfindig gemacht und alles wieder zurückgegeben hatte. Mein Vater hatte die Fenster von innen mit Brettern vernagelt, damit man von draußen nicht hineinsehen konnte.

Wieder war es ein warmer, sonniger Tag. Um das Sonnenlicht sehen zu können, öffnete ich das Fenster einen Spalt breit. Ein junger Mann, wie ich in diesem Alter lange keinen mehr gesehen hatte, kam vorbei und blieb vor dem Fenster stehen. Sein hellblondes Haar, die blauen Augen und der zarte Teint gaben ihm etwas Strahlendes. Reglos staunte ich ihn an. Jetzt lächelte er und streckte mir seine Hand entgegen, in der ein in gelbes Papier eingewickelter Bonbon lag. Um den Bonbon nehmen zu können, machte ich das Fenster noch etwas weiter auf. Hinter mir hörte ich das Rascheln eines Unterrockes, denn meine Mutter zog sich gerade um. Jetzt hob der junge Mann seinen Blick über meinen Kopf hinweg und bemühte sich, in das Zimmer hineinzuspähen.
Ich wandte mich um. Ich sah, wie meine Mutter mit entsetztem Gesichtsausdruck auf den jungen Mann schaute. Beide begannen gleichzeitig zu laufen, der junge Mann außen um das Haus und die Mauer der Grünanlage herum und meine Mutter innen die Treppe hinunter zur Haustür. Meine Mutter erreichte die Tür zuerst und drehte den Schlüssel im Schloß um.

In dem Augenblick vermutete ich, daß der junge Mann ein Russe sein könnte. Ich wickelte den Bonbon aus und steckte ihn in den Mund. Als meine Mutter wieder zurückkam, schrie sie mich an: "Du wolltest mich verkaufen!"

Ich verstand nicht, was sie damit meinen könnte und warum sie diesen schönen Menschen nicht auch schön gefunden hatte. Der Bonbon schmeckte gut.


Berlin - Prag - Schüttenhofen, Südwest-Böhmen;
August 1944 - März 1945

Gebrannte Kinder
Evelyn Steudel

1944 sollte ich aufs Gymnasium gehen. Aber in Berlin waren viele Schulen in sichere Gebiete evakuiert worden, auch die Martin-Luther-Oberschule vom Tempelhofer Weg. Und als die Amerikaner in Frankreich bereits gelandet waren und die Ostpreußen zu fliehen begannen, da schickten uns unsere Eltern, getreu dem Aufruf des Führers, noch in das "bombensichere" Gebiet Tschechoslowakei ins KLV-Lager. Zehn kleine Mädchen von zehn Jahren waren wir, die Neuaufnahmen der Klasse 1. Eine Führerin sollte uns über Prag nach Schüttenhofen bringen.

Warum wir nicht einfach durchfuhren, sondern drei Wochen in Prag Station machten, sagte uns niemand. In der YMCA mitten in der Stadt waren wir untergebracht. Wir alle hatten heftiges Heimweh. Einerseits fand ich es gut, dort nachts ohne Fliegeralarm durchschlafen zu können, andererseits ängstigte mich diese große, fremde Stadt. Sie war vollgestopft mit Menschen, die Deutsch oder Tschechisch sprachen. Durch die Straßen marschierten kolonnenweise singende deutsche Soldaten: "Schwarzbraun ist die Haselnuß", "O, du schöhöhöner Wehehesterwald", Fahnen über Fahnen an allen Gebäuden, aus vielen Fenstern, rot mit schwarzen Hakenkreuzen auf weißem Grund.

Täglich mußten auch wir Knirpse durch Prag marschieren. Überall Hektik, fremde Straßenzüge, Unbekanntes, Drohendes. Meine große Angst, in dem Gewühle verloren zu gehen und nicht zu wissen, wo ich wohnte, war stets gegenwärtig.

Am liebsten gingen wir zur Moldaubrücke. Da stand die Statue von Johann von Nepomuk. Wir lernten seine Lebensgeschichte und sangen sein Lied auf der Brücke. Unter uns floß die Moldau, und jedes Mal mußte ich bitterlich darüber weinen: Wie konnte ein König so grausam sein und ihn in die Moldau werfen lassen, bloß weil er die Beichte der Königin nicht verraten hatte? Armer Johann von Nepomuk!

Nach drei Wochen Prag-Aufenthalt kamen wir zehn Mädchen endlich in Schüttenhofen im KLV-Lager an. Das altertümliche Hotel "Pod Strazi" lag am Fluß Ottawa, hier waren 120 Mädchen, 30 Lehrer und Führerinnen untergebracht.

Bald stellte sich heraus, daß ich von allen das Schlußlicht war: Die Jüngste, die Kleinste und mit meinem Mädchennamen Zobel unweigerlich die Letzte im Alphabet. Das bedeutete: zwölf Tage zu jung, um bei den Jungmädchen aufgenommen zu werden - als einzige durfte ich bei Fahnenappellen kein Halstuch und keinen braunen Knoten tragen. Ich schämte mich in meiner eigenen weißen Bluse und dem dunkelblauen Faltenrock. Zu klein, um bei Sportwettkämpfen über das hohe Pferd springen zu können. So gaben sie mir dann alle, einschließlich der Lehrer, den Namen "Krümel". Zwei Jahre lang hörte ich nicht meinen richtigen Vornamen.


Im KLV-Lager nannte man Evelyn Steudel nur "Krümel" - mit ihren 10 Jahren war sie die Jüngste, zudem die Kleinste und die Letzte im Alphabet.

Das letzte Kriegsweihnachtsfest 1944/45 feierte unsere Schule als Sonnenwendfest. Meine Großmutter war entsetzt, als ich ihr das schrieb. Ein Weihnachtsfest ohne die Weihnachtsgeschichte - für sie undenkbar.

"Wenn der Führer das auch noch auf sein Gewissen lädt", schrieb sie mir, "daß ihr Kinder unterm Weihnachtsbaum nicht die Weihnachtsgeschichte aufsagen dürft, dann kommt der ganz bestimmt nicht in den Himmel." - Mutig war sie, meine Großmutter, denn unsere gesamte Post wurde von den Führerinnen gelesen. Oma wußte immer alles genau. Ich grübelte, was der Führer wohl noch alles auf dem Gewissen hatte, wagte es aber nicht, mit jemandem darüber zu sprechen.

So feierten wir also das Sonnenwendfest, das die Führerinnen organisierten. Alle 120 Mädchen standen im Karree wie weibliche Zinnsoldaten und sangen:

Hohe Nacht der klaren Sterne,
die wie weite Brücken stehn,
über einer tiefen Ferne
drüber uns're Herzen gehn.

Mich überzog bei diesem Singsang ein ehrfurchtsvoller Schauer, aber ich wußte nicht, warum. Draußen unterm Sternenhimmel war es kalt und schaurig schön. Diese Nachtwanderungen mußten wir immer im Schweigemarsch zurücklegen, aus Vorsicht vor tschechischen Partisanenüberfällen.

Ab Januar 1945 wurde die Post unserer Eltern spärlicher. Manchmal erreichte die Schule die Nachricht, daß Eltern bei Bombenangriffen umgekommen waren. Wir standen dann alle auf zu einer Schweigeminute. Jede hatte Angst, daß es beim nächsten Mal sie treffen könnte. Daß ihre Häuser ausgebombt, aber die Eltern zumindest in Sicherheit waren, kam nun immer öfter vor. Auch mich traf eines Tages die Nachricht, daß wir ausgebombt waren.
Langsam füllten sich die Straßen der kleinen tschechischen Stadt mit Banater Flüchtlingen. Uns wurde verboten, allein auf die Straße zu gehen. "Es ist gefährlich", hieß es nur. Etwas Gewaltiges, aber nichts Gutes war in Bewegung geraten, und niemand erklärte es uns. "Ihr seid noch zu klein dafür", sagten sie.

Ab und zu schnappten wir etwas auf. Die eine hörte dies, die andere das. Nachts, im dunklen Schlafsaal, flüsterten wir es uns zu. Ein Mädchen hatte etwas ganz Schlimmes genau gehört: Wenn wir den Krieg verlieren, bekommen alle deutschen Kinder von den Tschechen ein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt!
Da lagen wir im Dunkeln, betasteten unsere Stirnen und fragten uns, wie weh das wohl tun würde. Ein Mädchen hatte das schon mal bei einem Rind gesehen, dem ein Zeichen in den Rücken gebrannt wurde. "Und die Rinder haben das auch immer überlebt", sagte sie. Wir würden dann andere Haarfrisuren tragen, mit Pony im Gesicht.

Aber vielleicht verlieren wir den Krieg gar nicht, denn der Führer hat ja noch die V2, die holt er erst ganz zum Schluß raus, dann werden unsere Feinde sich wundern. Und dann kriegen wir auch kein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt ...