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Gebrannte Kinder 61 Geschichten und
Berichte von Zeitzeugen. als Taschenbuch: |
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Leseproben
aus dem Buch Hamburg - Görlitz/Neiße, Oberlausitz, Sachsen;1939-1945 "Der
Krieg ist ausgebrochen" (gekürzte Fassung) Der Morgen des 1. September 1939 ist wie jeder andere. Meine Mutter setzt mich auf den Schieber, der sich aus dem eingebauten Küchentisch herausziehen läßt, und bereitet das Frühstück. Bäcker Janowitz hat frische Rundstücke gebracht und sie im vorbereiteten Beutel an die Wohnungstür gehängt. Sie sind noch warm. Heil und friedlich ist der Morgen. Ich fühle Sonnenstrahlen auf meiner Haut und genieße den Augenblick, das Geborgensein, das Behütetwerden von Mamas Liebe. Morgens nimmt sie sich Zeit für mich, macht mich zu ihrer Gesprächspartnerin. Ich bin ja auch schon groß. In zwei Monaten werde ich fünf Jahre alt. Inzwischen ist das Frühstück fertig. Ich trinke meinen Kakao und genieße mein Brötchen. Es ist mit Butter bestrichen. Zucker ist darauf gestreut. Mama verteilt ein wenig von ihrem heißen Tee darauf, so daß die Butter weich wird. Lecker. Draußen
fährt ein Schutzmann. Die Sonne beglänzt seinen schwarzen
Tschako. Mama öffnet das große Küchenfenster. Der
Mann steigt vom Fahrrad. Er sagt: "Der Krieg ist ausgebrochen."
Lautes
Klagen. Mama kann so gut jammern. Ich bekomme wieder Bauchschmerzen,
aber ich beiße die Zähne zusammen, traue mich nicht, es
zu sagen, bin klein, ohnmächtig, zähle nicht. Täglich tönen Hitlers markige Worte aus dem Volksempfänger. Ich hasse diese Ansprachen, weil dann absolute Ruhe geboten ist. Meine Mutter ist ein Hitler-Fan, wobei ihr Interesse mehr dem Mann gilt, als seiner Politik. Wann immer er zu Kundgebungen nach Hamburg kommt, macht sie sich mit dem sogenannten Hitlerhocker - das ist ein aus Latten gezimmerter, zusammenlegbarer Hocker - auf, um das Idol aus der Nähe zu erleben. In der
NS-Frauenschaft ist sie als Kulturreferentin aktiv. Ihre Aufgabe besteht
darin, vaterländische Gedichte zu deklamieren. Sie nimmt Sprechunterricht
und probt täglich ihre Texte: "Mein deutsches Land, nur
nicht verzweifeln, dringt dir die Axt in Mark und Bein, der Frühling
heilt einst deine Wunden, es gibt auch wieder Sonnenschein."
Schon
bald sind wir wieder erwacht aus dem Rausch der Anfangserfolge. Krieg
ist kein Abenteuer. Jede Nacht das Heulen der Sirenen, das Brummen
der feindlichen Flugzeuge über Hamburg. Das heißt aufstehen.
Es ist kalt. Hin und
wieder kommt einer der Nachbarn auf Urlaub. Dr. Dätz hat Kaffee
mitgebracht. Eine Tasse dieses duftenden Getränks macht unter
den Begeisterten die Runde. Man kommt sich näher, hört sich
zu. Es wird über die Angriffe gesprochen, die Front, Tote. Wir
hören zu. Es ist gruselig. Alt sind wir Kinder plötzlich,
Greise. Tiefschwarze Nacht. Am Himmel Lichter, in Geschwadern angeordnet, wie Sterne eigentlich, wenn sie nicht so bedrohlich über uns hinwegbrummen würden. Hin und wieder feurige Kugeln, Krachen. Morgen werden wir für unsere Sammlungen Splitter finden, wenn wir in den Bombentrichtern unsere Höhlen bauen. Berlin; Frühjahr 1945 Die
sonnigen Frühlingstage (Gekürzte Fassung) Das Frühjahr 1945 war mit seiner Witterung überaus freundlich. Schon der April brachte warme, sonnige Tage, so daß ich viel im Freien spielen konnte. Mein Zuhause war tagsüber der Keller, der zu unserer Wohnung gehörte, und nachts eine Wohnung im ersten Stock, die uns der damalige Besitzer überlassen hatte. Unsere Wohnung war von den Russen besetzt und in eine Art Hauptquartier umgewandelt worden. Ich nahm diese Veränderungen kaum zur Kenntnis. An das Hausen im Keller war ich durch die vielen Luftangriffe schon gewöhnt, und die Wohnung unseres freundlichen Nachbarn könnte ich so gut wie gar nicht beschreiben. Kaum hatte ich das Kopfkissen berührt, das in dem breiten Bett lag, in dem ich gemeinsam mit meinen Eltern schlief, fielen mir auch schon die Augen zu. Ich war damals sieben Jahre alt. Meine Mutter war eine Frau von zierlicher Erscheinung. Der Hunger hatte sie kaum verändern können, denn sie war immer schon schlank gewesen. Das Schönste an ihr war das kastanienbraune Haar, das in der Sonne einen rötlichen Schimmer bekam. An einem
dieser sonnigen Apriltage spielte ich vor unserem Haus. Ein Russe
kam auf mich zu, streckte mir ein Paket Margarine entgegen und sagte:
"Bring Mamatschka!" Nach einigen Wochen konnten wir wieder in unsere Wohnung einziehen. All unser Hausrat war noch vorhanden, und viele Gegenstände waren hinzugekommen, die den Russen gefallen und die sie aus anderen Wohnungen mitgenommen hatten. Beim Abmarsch jedoch war ihnen von ihrem Kommandeur verboten worden, die Dinge mitzunehmen. Meine Mutter brauchte mehrere Wochen, bis sie die eigentlichen Besitzer der Utensilien ausfindig gemacht und alles wieder zurückgegeben hatte. Mein Vater hatte die Fenster von innen mit Brettern vernagelt, damit man von draußen nicht hineinsehen konnte. Wieder
war es ein warmer, sonniger Tag. Um das Sonnenlicht sehen zu können,
öffnete ich das Fenster einen Spalt breit. Ein junger Mann, wie
ich in diesem Alter lange keinen mehr gesehen hatte, kam vorbei und
blieb vor dem Fenster stehen. Sein hellblondes Haar, die blauen Augen
und der zarte Teint gaben ihm etwas Strahlendes. Reglos staunte ich
ihn an. Jetzt lächelte er und streckte mir seine Hand entgegen,
in der ein in gelbes Papier eingewickelter Bonbon lag. Um den Bonbon
nehmen zu können, machte ich das Fenster noch etwas weiter auf.
Hinter mir hörte ich das Rascheln eines Unterrockes, denn meine
Mutter zog sich gerade um. Jetzt hob der junge Mann seinen Blick über
meinen Kopf hinweg und bemühte sich, in das Zimmer hineinzuspähen.
In dem Augenblick vermutete ich, daß der junge Mann ein Russe sein könnte. Ich wickelte den Bonbon aus und steckte ihn in den Mund. Als meine Mutter wieder zurückkam, schrie sie mich an: "Du wolltest mich verkaufen!" Ich verstand nicht, was sie damit meinen könnte und warum sie diesen schönen Menschen nicht auch schön gefunden hatte. Der Bonbon schmeckte gut. Berlin
- Prag - Schüttenhofen, Südwest-Böhmen; Gebrannte
Kinder 1944 sollte ich aufs Gymnasium gehen. Aber in Berlin waren viele Schulen in sichere Gebiete evakuiert worden, auch die Martin-Luther-Oberschule vom Tempelhofer Weg. Und als die Amerikaner in Frankreich bereits gelandet waren und die Ostpreußen zu fliehen begannen, da schickten uns unsere Eltern, getreu dem Aufruf des Führers, noch in das "bombensichere" Gebiet Tschechoslowakei ins KLV-Lager. Zehn kleine Mädchen von zehn Jahren waren wir, die Neuaufnahmen der Klasse 1. Eine Führerin sollte uns über Prag nach Schüttenhofen bringen. Warum wir nicht einfach durchfuhren, sondern drei Wochen in Prag Station machten, sagte uns niemand. In der YMCA mitten in der Stadt waren wir untergebracht. Wir alle hatten heftiges Heimweh. Einerseits fand ich es gut, dort nachts ohne Fliegeralarm durchschlafen zu können, andererseits ängstigte mich diese große, fremde Stadt. Sie war vollgestopft mit Menschen, die Deutsch oder Tschechisch sprachen. Durch die Straßen marschierten kolonnenweise singende deutsche Soldaten: "Schwarzbraun ist die Haselnuß", "O, du schöhöhöner Wehehesterwald", Fahnen über Fahnen an allen Gebäuden, aus vielen Fenstern, rot mit schwarzen Hakenkreuzen auf weißem Grund. Täglich mußten auch wir Knirpse durch Prag marschieren. Überall Hektik, fremde Straßenzüge, Unbekanntes, Drohendes. Meine große Angst, in dem Gewühle verloren zu gehen und nicht zu wissen, wo ich wohnte, war stets gegenwärtig. Am liebsten gingen wir zur Moldaubrücke. Da stand die Statue von Johann von Nepomuk. Wir lernten seine Lebensgeschichte und sangen sein Lied auf der Brücke. Unter uns floß die Moldau, und jedes Mal mußte ich bitterlich darüber weinen: Wie konnte ein König so grausam sein und ihn in die Moldau werfen lassen, bloß weil er die Beichte der Königin nicht verraten hatte? Armer Johann von Nepomuk! Nach drei Wochen Prag-Aufenthalt kamen wir zehn Mädchen endlich in Schüttenhofen im KLV-Lager an. Das altertümliche Hotel "Pod Strazi" lag am Fluß Ottawa, hier waren 120 Mädchen, 30 Lehrer und Führerinnen untergebracht. Bald stellte sich heraus, daß ich von allen das Schlußlicht war: Die Jüngste, die Kleinste und mit meinem Mädchennamen Zobel unweigerlich die Letzte im Alphabet. Das bedeutete: zwölf Tage zu jung, um bei den Jungmädchen aufgenommen zu werden - als einzige durfte ich bei Fahnenappellen kein Halstuch und keinen braunen Knoten tragen. Ich schämte mich in meiner eigenen weißen Bluse und dem dunkelblauen Faltenrock. Zu klein, um bei Sportwettkämpfen über das hohe Pferd springen zu können. So gaben sie mir dann alle, einschließlich der Lehrer, den Namen "Krümel". Zwei Jahre lang hörte ich nicht meinen richtigen Vornamen.
Das letzte Kriegsweihnachtsfest 1944/45 feierte unsere Schule als Sonnenwendfest. Meine Großmutter war entsetzt, als ich ihr das schrieb. Ein Weihnachtsfest ohne die Weihnachtsgeschichte - für sie undenkbar. "Wenn der Führer das auch noch auf sein Gewissen lädt", schrieb sie mir, "daß ihr Kinder unterm Weihnachtsbaum nicht die Weihnachtsgeschichte aufsagen dürft, dann kommt der ganz bestimmt nicht in den Himmel." - Mutig war sie, meine Großmutter, denn unsere gesamte Post wurde von den Führerinnen gelesen. Oma wußte immer alles genau. Ich grübelte, was der Führer wohl noch alles auf dem Gewissen hatte, wagte es aber nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. So feierten wir also das Sonnenwendfest, das die Führerinnen organisierten. Alle 120 Mädchen standen im Karree wie weibliche Zinnsoldaten und sangen: Hohe
Nacht der klaren Sterne, Mich überzog bei diesem Singsang ein ehrfurchtsvoller Schauer, aber ich wußte nicht, warum. Draußen unterm Sternenhimmel war es kalt und schaurig schön. Diese Nachtwanderungen mußten wir immer im Schweigemarsch zurücklegen, aus Vorsicht vor tschechischen Partisanenüberfällen. Ab Januar
1945 wurde die Post unserer Eltern spärlicher. Manchmal erreichte
die Schule die Nachricht, daß Eltern bei Bombenangriffen umgekommen
waren. Wir standen dann alle auf zu einer Schweigeminute. Jede hatte
Angst, daß es beim nächsten Mal sie treffen könnte.
Daß ihre Häuser ausgebombt, aber die Eltern zumindest in
Sicherheit waren, kam nun immer öfter vor. Auch mich traf eines
Tages die Nachricht, daß wir ausgebombt waren. Ab und
zu schnappten wir etwas auf. Die eine hörte dies, die andere
das. Nachts, im dunklen Schlafsaal, flüsterten wir es uns zu.
Ein Mädchen hatte etwas ganz Schlimmes genau gehört: Wenn
wir den Krieg verlieren, bekommen alle deutschen Kinder von den Tschechen
ein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt! Aber vielleicht verlieren wir den Krieg gar nicht, denn der Führer hat ja noch die V2, die holt er erst ganz zum Schluß raus, dann werden unsere Feinde sich wundern. Und dann kriegen wir auch kein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt ... |
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