Das
Spiel der Knöpfe
Dorothea F. Voigtländer
Bonn;
1945
"Nani
ist verbrannt, Kaspar ist verbrannt, Gretel ist verbrannt." Anna
zählte an ihren kleinen Fingern die Opfer des letzten Bombenangriffes
auf. "Und meine Märchenbücher sind verbrannt, die Puppenstube,
der Kaufladen ..."
Sie hielt
inne, überlegte und sah dann zu den Großen hin. "Was
ist noch alles verbrannt?", fragte sie in die Stille hinein.
"Das
Kind hat einen Schock", sagte Tante Kathi und begann mit einem
Ablenkungsmanöver. Sie nahm ein Küchenhandtuch, wurstelte
es zu einem Knoten zusammen und nannte das Etwas "Hansi".
Doch Anna gefiel das nicht. Wutentbrannt riß sie an der Tischdecke
und schleuderte alles zu Boden, was zuvor auf dem Tisch gestanden
hatte.
In Scherben
lag nun das gute Sonntagsgeschirr, dazwischen Kuchenreste, ein Milchflecken
- und der umgestülpte Handarbeitskasten von Großmutter.
Auf den Holzdielen rollte, hüpfte und sprang es, die Knopfkiste
hatte sich geöffnet, und der Inhalt ergoß sich im bunten
Durcheinander auf das Chaos. - Und mittendrin saß Anna, hochentzückt
über die sonntägliche Katastrophe! Triumphierend schaute
sie in die Gesichter über sich, doch immer noch wagte niemand,
etwas zu sagen. - Was sollte man auch mit einer Vierjährigen
tun, die offensichtlich einen Schock hatte?
Für
Anna war es das erste Mal, daß auch ihr der Krieg etwas genommen
hatte. Gedankenverloren nahm sie einen Trachtenknopf in die kleine
Hand, legte einen Herzknopf dazu, fand zwei kullerrunde weiße
Knöpfe, legte sie nebeneinander: "Das sind die Augen".
Dann legte sie einen Reißverschluß darunter.
"Und das ist der Mund", sagte sie, sammelte plötzlich
alle Knöpfe zwischen den Scherben, den Kuchenresten, zwischen
den Fäden und Garnröllchen auf und legte sie fast liebevoll
in die Knopfkiste, die sie dann eng an sich drückte. Ein neues
Spiel war geboren: das Spiel der Knöpfe.
Zuerst
war natürlich Anna an der Reihe, dann mußte Mutter ein
Gesicht legen. Onkel Hans, der gerade nach einer schweren Kriegsverletzung
heimgekommen war, stiftete ein paar Knöpfe seiner Uniform für
den Polizisten, der seinen Platz mitten in der Küche fand.
In den
nächsten Tagen entstanden überall Knopfblumen und Knopfhäuser
- Anna war nicht mehr zu bremsen! Und niemand wagte, sie daran zu
hindern, denn ihr Wutgeschrei übertönte sogar die Sirenen.
Die Nachbarn
waren nicht mehr vor ihr sicher. "Hast du Knöpfe?",
fragte sie herrisch, streckte gebieterisch ihre kleine Patschhand
aus und erhielt immer, was sie forderte.
Fast
jede Stufe im Treppenhaus war mit "Knopfkunst" belegt, bis
hinunter zum Keller, wo Anna selbstvergessen mit immer neuen Knöpfen
neue Knopfkunst schuf, während draußen die Bomben herunterhagelten.
Zufrieden stieg sie nach der Entwarnung wieder mit Mutter, Tante Kathi,
Großmutter und Onkel Hans in den zweiten Stock hinauf und befahl
dabei den Großen, ja nicht auf ihre Knopfgebilde zu treten.
Und niemand wagte es.
Wenn
Tante Kathi putzte, so dauerte es immer länger, denn die Knopfgesichter
starrten ihr überall auf dem Boden entgegen. Gelegentlich stieß
sie die "Bodenkunst" vorsichtig zur Seite, um dort den Boden
zu säubern, legte aber sofort die Gesichter wieder zusammen.
Onkel Hans lenkte Anna ab, damit sie das nicht sah. Doch sie merkte
es immer. "Da hast du schon wieder meine Knopfmännchen verrückt",
empörte sich die junge Dame, stemmte ihre Ärmchen entrüstet
in die Seiten und sah Tante Kathi böse an.
"Na ja, ich muß ja schließlich auch hier mal saubermachen",
verteidigte sich die Tante mit schlechtem Gewissen, sichtlich erschöpft
über die Mehrarbeit, die der kleine Haustyrann verursachte.
Die Knöpfe
wurden ein Alptraum für die Großen. Kaum einen Meter konnten
sie in Ruhe gehen, ohne nicht vorsichtig über irgendein Knopfgebilde
steigen zu müssen.
Mit Argusaugen
beobachtete Anna alles um sich herum, sie vergaß nie, wo was
in welcher Form lag. Ihre Knopfbegeisterung schien einfach kein Ende
zu nehmen.
Da hatte
Großmutter die zündende Idee. Aus alten, oft gestopften
Strümpfen, Wolle und Stofflappen nähte sie eine Puppe. Aufmerksam
sah Anna ihr zu, als die Augenbrauen und die Augen gestickt wurden,
dann eine Nase und ein Mund mit rotem Garn.
"Das ist Peppi", sagte Anna schließlich, als das Puppenkind
aus Stoff fertig war.
Großmutter
war skeptisch, denn sie kannte Anna. Doch die war ganz verrückt
nach ihrer Schmusepuppe "Peppi", die nun den ersten Platz
in ihrem Herzen einnehmen sollte. Von einem zum anderen Tag waren
die Knöpfe unwichtig geworden.
Großmutter,
Tante Kathi und Mutter sammelten langsam ein Knopfgebilde nach dem
anderen ein, immer vorsichtig nach Anna schielend, die sich aber nicht
mehr für die Knöpfe interessierte. So verschwand ein "Kunstwerk"
nach dem anderen.
Die Familie
und die Nachbarschaft mußten jetzt Kleidungsstücke für
Peppi nähen, häkeln, stricken. Nie ging Anna, ohne Peppi
fest an ihr Herz zu drücken. Je häßlicher Peppi wurde,
umso inniger wurde sie geliebt.
Jahrzehnte
später stieß die nun erwachsene Anna unbeabsichtigt ein
Regal von der Wand im alten Kinderzimmer, in dem die eigenen Kinder
schon lange nicht mehr spielten. Da kollerte, klickte und hüpfte
es nur so über den Boden. Die Knopfkiste von einst war heruntergestürzt,
die Knöpfe lagen nun im ganzen Zimmer verstreut.
Da kniete
sich Anna auf den Boden, nahm erst einen Knopf in die Hand, dann einen
zweiten, und schon entstand das erste Knopfgesicht, dann ein Knopfmensch,
eine Knopfkatze, ein Knopfhaus ...
"Mutter
ist völlig kindisch geworden", sagte der erwachsene Sohn
unten im Wohnzimmer. "Da spielt sie doch tatsächlich mit
Knöpfen, wie ein kleines Kind!"
Von Tante
Kathi, die still beim Kamin saß und leise vor sich hinlächelte,
erfuhren nun die großen Kinder Annas von jenem Mädchen,
das einst mit Knopfspielen die ganze Familie tyrannisiert hatte in
einer Zeit, als so manches Spielzeug in der großen Weltgeschichte
zerschlagen worden war.