Leseprobe

Gebrannte Kinder
Kindheit in Deutschland 1939-1945

36 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
336 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 7
ISBN 978-3-933336-26-2, Euro 12,90

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Das Spiel der Knöpfe
Dorothea F. Voigtländer

Bonn; 1945

"Nani ist verbrannt, Kaspar ist verbrannt, Gretel ist verbrannt." Anna zählte an ihren kleinen Fingern die Opfer des letzten Bombenangriffes auf. "Und meine Märchenbücher sind verbrannt, die Puppenstube, der Kaufladen ..."

Sie hielt inne, überlegte und sah dann zu den Großen hin. "Was ist noch alles verbrannt?", fragte sie in die Stille hinein.

"Das Kind hat einen Schock", sagte Tante Kathi und begann mit einem Ablenkungsmanöver. Sie nahm ein Küchenhandtuch, wurstelte es zu einem Knoten zusammen und nannte das Etwas "Hansi". Doch Anna gefiel das nicht. Wutentbrannt riß sie an der Tischdecke und schleuderte alles zu Boden, was zuvor auf dem Tisch gestanden hatte.

In Scherben lag nun das gute Sonntagsgeschirr, dazwischen Kuchenreste, ein Milchflecken - und der umgestülpte Handarbeitskasten von Großmutter. Auf den Holzdielen rollte, hüpfte und sprang es, die Knopfkiste hatte sich geöffnet, und der Inhalt ergoß sich im bunten Durcheinander auf das Chaos. - Und mittendrin saß Anna, hochentzückt über die sonntägliche Katastrophe! Triumphierend schaute sie in die Gesichter über sich, doch immer noch wagte niemand, etwas zu sagen. - Was sollte man auch mit einer Vierjährigen tun, die offensichtlich einen Schock hatte?

Für Anna war es das erste Mal, daß auch ihr der Krieg etwas genommen hatte. Gedankenverloren nahm sie einen Trachtenknopf in die kleine Hand, legte einen Herzknopf dazu, fand zwei kullerrunde weiße Knöpfe, legte sie nebeneinander: "Das sind die Augen".
Dann legte sie einen Reißverschluß darunter.
"Und das ist der Mund", sagte sie, sammelte plötzlich alle Knöpfe zwischen den Scherben, den Kuchenresten, zwischen den Fäden und Garnröllchen auf und legte sie fast liebevoll in die Knopfkiste, die sie dann eng an sich drückte. Ein neues Spiel war geboren: das Spiel der Knöpfe.

Zuerst war natürlich Anna an der Reihe, dann mußte Mutter ein Gesicht legen. Onkel Hans, der gerade nach einer schweren Kriegsverletzung heimgekommen war, stiftete ein paar Knöpfe seiner Uniform für den Polizisten, der seinen Platz mitten in der Küche fand.

In den nächsten Tagen entstanden überall Knopfblumen und Knopfhäuser - Anna war nicht mehr zu bremsen! Und niemand wagte, sie daran zu hindern, denn ihr Wutgeschrei übertönte sogar die Sirenen.

Die Nachbarn waren nicht mehr vor ihr sicher. "Hast du Knöpfe?", fragte sie herrisch, streckte gebieterisch ihre kleine Patschhand aus und erhielt immer, was sie forderte.

Fast jede Stufe im Treppenhaus war mit "Knopfkunst" belegt, bis hinunter zum Keller, wo Anna selbstvergessen mit immer neuen Knöpfen neue Knopfkunst schuf, während draußen die Bomben herunterhagelten. Zufrieden stieg sie nach der Entwarnung wieder mit Mutter, Tante Kathi, Großmutter und Onkel Hans in den zweiten Stock hinauf und befahl dabei den Großen, ja nicht auf ihre Knopfgebilde zu treten. Und niemand wagte es.

Wenn Tante Kathi putzte, so dauerte es immer länger, denn die Knopfgesichter starrten ihr überall auf dem Boden entgegen. Gelegentlich stieß sie die "Bodenkunst" vorsichtig zur Seite, um dort den Boden zu säubern, legte aber sofort die Gesichter wieder zusammen. Onkel Hans lenkte Anna ab, damit sie das nicht sah. Doch sie merkte es immer. "Da hast du schon wieder meine Knopfmännchen verrückt", empörte sich die junge Dame, stemmte ihre Ärmchen entrüstet in die Seiten und sah Tante Kathi böse an.
"Na ja, ich muß ja schließlich auch hier mal saubermachen", verteidigte sich die Tante mit schlechtem Gewissen, sichtlich erschöpft über die Mehrarbeit, die der kleine Haustyrann verursachte.

Die Knöpfe wurden ein Alptraum für die Großen. Kaum einen Meter konnten sie in Ruhe gehen, ohne nicht vorsichtig über irgendein Knopfgebilde steigen zu müssen.

Mit Argusaugen beobachtete Anna alles um sich herum, sie vergaß nie, wo was in welcher Form lag. Ihre Knopfbegeisterung schien einfach kein Ende zu nehmen.

Da hatte Großmutter die zündende Idee. Aus alten, oft gestopften Strümpfen, Wolle und Stofflappen nähte sie eine Puppe. Aufmerksam sah Anna ihr zu, als die Augenbrauen und die Augen gestickt wurden, dann eine Nase und ein Mund mit rotem Garn.
"Das ist Peppi", sagte Anna schließlich, als das Puppenkind aus Stoff fertig war.

Großmutter war skeptisch, denn sie kannte Anna. Doch die war ganz verrückt nach ihrer Schmusepuppe "Peppi", die nun den ersten Platz in ihrem Herzen einnehmen sollte. Von einem zum anderen Tag waren die Knöpfe unwichtig geworden.

Großmutter, Tante Kathi und Mutter sammelten langsam ein Knopfgebilde nach dem anderen ein, immer vorsichtig nach Anna schielend, die sich aber nicht mehr für die Knöpfe interessierte. So verschwand ein "Kunstwerk" nach dem anderen.

Die Familie und die Nachbarschaft mußten jetzt Kleidungsstücke für Peppi nähen, häkeln, stricken. Nie ging Anna, ohne Peppi fest an ihr Herz zu drücken. Je häßlicher Peppi wurde, umso inniger wurde sie geliebt.

Jahrzehnte später stieß die nun erwachsene Anna unbeabsichtigt ein Regal von der Wand im alten Kinderzimmer, in dem die eigenen Kinder schon lange nicht mehr spielten. Da kollerte, klickte und hüpfte es nur so über den Boden. Die Knopfkiste von einst war heruntergestürzt, die Knöpfe lagen nun im ganzen Zimmer verstreut.

Da kniete sich Anna auf den Boden, nahm erst einen Knopf in die Hand, dann einen zweiten, und schon entstand das erste Knopfgesicht, dann ein Knopfmensch, eine Knopfkatze, ein Knopfhaus ...

"Mutter ist völlig kindisch geworden", sagte der erwachsene Sohn unten im Wohnzimmer. "Da spielt sie doch tatsächlich mit Knöpfen, wie ein kleines Kind!"

Von Tante Kathi, die still beim Kamin saß und leise vor sich hinlächelte, erfuhren nun die großen Kinder Annas von jenem Mädchen, das einst mit Knopfspielen die ganze Familie tyrannisiert hatte in einer Zeit, als so manches Spielzeug in der großen Weltgeschichte zerschlagen worden war.