Leseproben

Hoch auf dem Erntewagen
Unvergessene Dorfgeschichten 1917-1989

Originalausgabe
256 Seiten, viele Abbildungen,
Ortsregister, gebunden
ISBN 978-3-86614-153-7

Euro 9,95


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Leseproben aus dem Buch

Baron Pless, Heinrich Pieh
Lotte, Klaus Pawka


Nidderau-Ostheim, heute zu Hanau, Hessen;
Ende der 20er Jahre

Baron Pless
Heinrich Pieh

Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Republik hatte es sehr schwer, Anerkennung zu finden. Eigentlich blieb sie immer ungeliebt. Die gute, alte Kaiserzeit war unvergessen. „Deutschnational“ hieß darum vielerorts die Parole. Auch auf dem Dorf. Als nach gewaltiger Inflation das Wunder der Rentenmark endlich griff, entstieg eines Tages in unserem Dorf ein nicht allzu auffallend gekleideter junger Mann dem 12 Uhr-Zug. In seiner Begleitung befand sich eine recht attraktive Dame. Mit leichtem Gepäck schlenderten beide die staubige Bahnhofstraße hinunter. Als ihnen jemand begegnete, erkundigten sie sich, wo man denn hier im Dorfe am besten logieren könne. Da und dort lautete die Antwort. Doch sollten sie besser mal selber nachschauen.

„Mein Name ist Baron Pless“, sagte der junge Mann selbstbewußt und drehte sein Stöckchen, „ich suche, bitte schön, keine Arbeiterunterkunft, sondern ein deutschnationales Gasthaus! Können Sie mir das bieten?“
„No ja, wann doas suu ess! Doo müsse Säi en de ‚Goldene Stern’ gieh. Zoum Kiefer. Hee wird aach es Profitche genennt. Komme Säi nur met. Aich zeiche de Wääg!“

Und so geschah es, daß sich in unserem Dorf ein leibhaftiger Baron einmietete. Schnell verbreitete sich die Kunde, daß sich beim Profitche ein Blaublütiger mit seiner Frau einquartiert habe. Natürlich wurde gerätselt, weshalb ein weltgewandter Baron sich ausgerechnet in Ostheim für eine Zeit niederlassen wollte. Man kam zu dem Schluß, er werde wohl des Weltenbummelns und des Stadtlebens überdrüssig geworden sein und brauche darum einige Wochen Ruhe.

Die örtlichen Würdenträger – der Bürgermeister, der Lehrer und einige Handwerksmeister – machten dem Adligen und seiner Gattin noch am Ankunftstag ihre Aufwartung. Dabei erfuhren sie, daß Baron und Baronin sehr die Geselligkeit schätzten und darum zur Abendgesellschaft einlüden. Dazu ließen sich unsere Dorfgewaltigen nicht zweimal bitten. Flugs wurde eine Kapelle beschafft, der Wirt öffnete Keller und Speisekammer und dann wurde gescherbelt. Jeden Abend. Dabei soll nicht nur die Frau Baronin ganz aus dem Häuschen geraten sein.

Zum Dank für die allabendliche Gunst, an der adligen Tafel teilhaben zu dürfen, führte der Gemeinderat Baron und Baronin durch die dörfliche Flur, zeigte dem hohen Paar die Pracht der Felder und lobte den fruchtbaren Ackerboden sowie den bäuerlichen Fleiß. Die Gäste waren tief beeindruckt.
Zu Anfang der zweiten Woche seines Aufenthaltes ließ sich der junge Baron herab, vom Wirt die Rechnung für die durchzechten Tage zu erbitten. Er bezahlte auf den Pfennig, gab noch ein gutes Trinkgeld dazu und versprach, noch eine Weile zu bleiben. Der Wirt wars natürlich zufrieden.

Die folgenden drei Wochen wurden zur gewaltigen Strapaze. Es wurde gesungen, getanzt und erbärmlich gesoffen. Wen wundert’s, daß so mancher Haussegen darum von der Wand fiel?

Dann brach die fünfte Woche an. Es war Frühstückszeit. Heute ließen die beiden Edelleute ganz gegen die sonstige Gewohnheit besonders lange auf sich warten.
„Wern noch schloofe“, sagte sich das Profitche, spannte an und fuhr aufs Feld.

Als auch zum Mittagessen der Tisch unbesetzt blieb, stieg der Gastwirt mit ungutem Gefühl zu den Gästezimmern hinauf. Er klopfte zaghaft. Nichts rührte sich. Er klopfte lauter. Nichts. Er rief höflich.
Schließlich drückte er die Türklinke hinunter. Verschlossen. Ein Blick durch’s Schlüsselloch: Kein Schlüssel steckte. Das Zimmer schien leer. Schlimme Gedanken durchschossen den guten Mann. Und er ließ den Dorfpolizisten rufen, damit er kraft seines Amtes die Tür aufbreche. Der aber zierte sich. In ein gräfliches Zimmer könne man nämlich nicht so ohne weiteres eindringen. Schließlich erinnerte er sich aber doch noch seiner Amtsautorität und öffnete gewaltsam die Tür. Weder Baron noch Baronin ...!

„Aich hun’s geweßt. Aich hun’s geweßt“, jammerte der Wirt vom „Goldenen Stern“. „Ausgeflue san se. Ausgeflue, dai Kanallje“, womit er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Zwei, drei Unterröcke lagen noch umher. Das war aber auch alles, was von der adligen Herrlichkeit zurückgeblieben war. Und die sahen auch nicht gerade gräflich aus.
„Mei Geld! Mei Geld!“ stöhnte der geprellte Wirt. „Fangt mer den Kerl! Gebt’s dann kaa Gerechtigkeit näit uff de Welt?!“
„Es wird getan, was getan werden kann“, tröstete die Staatsgewalt würdevoll.

Bei diesem Trost aber blieb es. Wochen, Monate vergingen. Baron und Baronin blieben verschollen. Die offene Rechnung für die Saufabende von über zweitausend Mark schrieb der Wirt vom „Goldenen Stern“ schließlich in den Schornstein.

Heute leben noch einige von jenen, die sich damals als junge Spritzer mit der Frau Baronin vergnügten. Fragt man sie, was das wohl für ein Baron gewesen sein mag, antworten sie übereinstimmend: „De Baron? Doas ess kaan Baron näit gewäst. Doas woar nur en verkrachte Student un Hochstapler. Und die Baronin, doas ess sei Schnepp gewäst. Mir hun doas gleich geweßt!


Machenau/Bober bei Sagan, Niederschlesien – Minkwitz bei Leisnig, Sachsen;
1945– 50er Jahre

Lotte
Klaus Pawka

Vor dem Stall stand unser Pferd Lotte. Das Tier war uralt; alles an ihm strebte nach unten: Die Mähne hing traurig herab, der ausgedünnte Schwanz schlug kraftlos nach Fliegen, der Hals beugte sich unter der Last des schweren Kopfes erdwärts.
Vater spähte nach dem Gaul, dann redete er auf Mutter ein, mißmutig und unsicher: „Der muß zum Abdecker! Man wird ihn einschläfern müssen oder erschießen. Zu nischt taugt er mehr und frißt bloß den Kühen das Heu weg!“
Die Bemerkung rief jemanden auf den Plan, für den sie nicht gedacht war, die Großmutter!
Sie fuhr den Vater an: „Dich wern se erschießen, mit Katzedreck wern se dich erschießen! Wehe, wenn jemand der Lotte was antut!“
Das entsprach zwar nicht der Logik bäuerlicher Vernunft, aber dafür kam es aus reinem Herzen. Die Oma trat schützend vor das Pferd, Vater grinste verlegen.

Ich stand abseits, innerlich ganz auf Omas Seite. Eine Szene aus naher Vergangenheit ging mir durch den Kopf. Sie zeigte mich, vor Lotte stehend, dem Pferd eine Kartoffel hinhaltend, in der flachen Hand, wie es Vater immer tat. Das Tier nahm sie vorsichtig mit weichen, spitzen Lippen auf, aber herunter bekam es sie nicht, die eiserne Trense im Maul behinderte das Zubeißen. Die Kartoffel fiel schließlich in Stücken auf die Erde. Mit Eisen im Maul muß das Pferd herumlaufen, hatte ich mich innerlich empört. Vaters Absicht, Lotte aus wirtschaftlichen Erwägungen töten zu lassen, ließ mich daran denken, wie dieses Pferd allzeit geknechtet und oft geschunden worden war und seinen Nutzern stets bedingungslos ausgeliefert, nie eine Chance auf schonende Behandlung und schon gar nicht auf artgerechte Haltung gehabt hatte.

Lotte stammte aus einem Reitstall im Schlesischen und wird einst seinem Besitzer als preisgekröntes Rennpferd gutes Geld gebracht haben. Fahnenflüchtige, die nicht noch in den letzten Kriegstagen ihr Leben einbüßen wollten, hatten Lotte und einen Schimmel im allgemeinen Durcheinander des Rückzugs im Stall losgebunden, vor einen klapprigen Kutschwagen gespannt und waren losgeprescht, in ständiger Angst vor der rasch vorrückenden Front und vor den überall lauernden Kettenhunden, wie die gefürchtete Feldgendarmerie genannt wurde. Immer wieder wild auf die überforderten Pferde einpeitschend, waren sie auf unserem Hof in Schlesien gelandet, wo sie das halbzusammengebrochene Fluchtgefährt und die erschöpften Tiere stehenließen, um sich zu Fuß weiter absetzen zu können.

Jedenfalls stand Mutter eines Morgens im Stall vor zwei fast zu Tode gehetzten, völlig erschöpften Pferden. Sie nahm die Tiere an wie ein Geschenk des Himmels. Die Zusammenstellung eines aus Pferdefuhrwerken bestehenden Flüchtlingstrecks war im Dorf bereits beschlossen, aber mit zwei Milchkühen an der Deichsel war schlecht flüchten vor einer schnell heranrückenden Armee. Unser kleiner Ackerwagen stand bereit, vollgepackt mit dem Nötigsten, obenauf kamen die gehunfähige Uroma und der einjährige Säugling. Überspannt war das Gefährt noch mit Teppichen auf sperrigem Holzgerüst. Die gesamte Konstruktion war vom Großvater erdacht und zusammengebaut worden. Großvater, angestellt bei der Bahn, folgte dann der Aufforderung seiner Chefs, die Station Sagan mit dem letzten Zug zu verlassen, zusammen mit anderen ausgesuchten Bahnangehörigen. Ziel war die Donaustadt Passau.

Am nächsten Tag kam das Signal zum Aufbruch. Mutter schirrte die Pferde an und reihte sich mit dem behelfsmäßigen Planwagen in den Treck der Flüchtenden ein. Großmutter weigerte sich aufzusitzen, aus Mitleid mit den geschundenen Pferden. Sie schob ihr Fahrrad hinter dem Wagen her. Mein Bruder und ich, er sechs, ich neun Jahre alt, wurden immer wieder aufgefordert, abzusteigen und nebenher zu laufen. Auf dem Wagen versuchte die Uroma, den schreienden Säugling zu beruhigen.

Nach dem ersten Tag nächtigten wir in einer Scheune, gemeinsam mit allen Zugtieren. Im Osten glühte der Himmel und der Feuerschein drang zusammen mit der Kälte der Februarnacht durch die Ritzen des Scheunentors. – Die flackernde Lohe hat mich ein Leben lang verfolgt. Noch zwanzig Jahre später stürzte mich ein harmloser Glanzrußbrand im Schornstein des Nachbargebäudes in Angstzustände. – Damals in der Scheune horchte ich furchtsam nach draußen, ob das Grollen der Granateinschläge näher käme.

Am nächsten Morgen flüsterte Mutter ratlos mit Großmutter: „Der Schimmel is tot. In der Nacht hat er sich gelegt und is nich mehr uffgestanden! Was nu?“
„Was nu?“ echote laut und aufgebracht die Großmutter, „zurückfahren wir, morgen fällt die Lotte um, sieh se dir doch an! Dann ziehen wir den Wagen alleene! Ich hab dir schunn immer gesagt, wir bleiben daheeme!“

Der Eigensinn verließ Großmutter nie, nicht einmal, wenn eine Front womöglich marodierender Soldaten heranrückte. Doch die Angst vor der Roten Armee saß tief in uns, letztlich auch in Großmutter. Wir blieben im Schutze des Trecks und hofften auf die Hilfe der anderen Bauern.

Vierzehn Tage lang mußte sich Lotte nun allein in die Stränge legen, um den schwerbeladenen Ackerwagen über Berg und Tal zu bringen, oft über sandige Waldwege, da die vorsichtigen Bauern auf der Landstraße Fliegerangriffe fürchteten. Vierzehn Nächte lang mußte sich Mutter an das müde Pferd lehnen, damit es sich nicht legte und dann, nach Eigenheit alter Pferde, nicht mehr würde aufstehen können. Die junge Frau und das alte Pferd schliefen gemeinsam im Stehen und wärmten einander. Mutter war damals zweiunddreißig, in der Blüte ihrer Jahre, gesund und kräftig. Auf ihr lastete die Verantwortung für die hinfällige Urgroßmutter und die drei Kinder, von denen das jüngste, der Säugling, gerade von einer gefährlichen Drüsenentzündung halbwegs genesen war und Pflege brauchte. Dazu bedrückte Mutter die ungewisse Zukunft, auch die Sorge um das in langen Jahren erschuftete kleine Besitztum im Heimatdorf. Zum Glück war wenigstens Oma noch rüstig und brauchte keine Hilfe.

Mutter hat durchgehalten, auch in anderen schweren Zeiten, und das Pferd hat durchgehalten. Die Schicksalsgemeinschaft Mensch-Pferd setzte sich auch in der neuen Heimat fort. Lotte wuchtete den Pflug im Gespann mit dem riesigen Wallach des Nachbarn durch den Lehmboden der beiden Neubauernstellen. Meine Eltern säten Luzerne und Hafer aus und Lotte hatte ihr nahrhaftes Futter. Das Pferd erholte sich und überbrückte mit seinen treuen Diensten die Zeit, bis die Maschinenausleihstationen (MTS) Traktoren zur Verfügung stellten.
Doch nun war Lotte am Ende ihrer Kraft. Großmutter, Mutter und Vater standen vor dem überflüssig gewordenen Pferd. Sie schwiegen, doch sicher gingen den Frauen Gedanken durch den Kopf, die meinen nicht unähnlich waren. Vater mochte es spüren. Er führte Lotte in den Stall und das Pferd bekam sein Gnadenbrot, bis es in einer Nacht umfiel und nicht mehr aufstand.