Leseprobe

Wo ist Gandhi?
Wahre Geschichten 1944-1945
von Gerhard Pordzik

112 Seiten, Abbildungen, Broschur.
Sammlung der Zeitzeugen Band 43,
ISBN: 3-933336-92-7
EURO 10,90

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Unserer Wohnhausreihe »Am Schäfersee 29 und 31« nach dem Bombenangriff vom 24. März 1945. Der dunkle Bereich im Vordergrund ist der tiefe Krater einer Luftmine. Die Turmaufbauten oben gehören zur Schokoladenfabrik Neetzelli. Im Keller unseres Hauses haben wir den Bombenangriff knapp überlebt, fast wären wir dabei ertrunken.


Kriegsende

Aus nördlicher Richtung sind heute, am 23. April 1945, Kampfgeräusche zu hören, weit können die Russen nun nicht mehr sein. Ihre Flugzeuge werfen kleine Bomben ab, die hier und da explodieren, auch bei uns am Schäfersee. Die Piloten mit ihrer PO-2, einem langsam fliegenden Doppeldecker, tun dies von Hand, das kann ich deutlich erkennen, so tief fliegen sie.

Jemand ruft bei Bekannten in Tegel an und hört, dass sich dort schon die Russen befinden, knapp zehn Kilometer von uns entfernt. Es ist schon verrückt. Da wird in dieser Stadt heftig gekämpft, aber die Telefone funktionieren noch durch die Fronten hindurch. Zehn Kilometer, vielleicht sind es inzwischen nur noch acht oder sieben Kilometer bis zur Kampflinie! Wir sollten eigentlich den Keller nicht mehr verlassen.

Dennoch schleiche ich mit meinen Brüdern in der Gegend herum. Wir brauchen Luft und Auslauf, sind vor allem jedoch neugierig auf jede Veränderung um uns herum. Das Leben im Keller über so viele Wochen ist eine Qual. Kein Strom, kein Wasser, es muss von Straßenpumpen per Eimer geholt werden. Alles ist primitiv und staubig. Zum Kochen wird Trümmerholz verbrannt. Wir haben kaum noch etwas zum Essen. Also raus!

Die Oberfläche des Schäfersees schäumt hin und wieder fontänenhaft auf. Seltsam sieht das aus, wie bei Wasserspielen inszeniert. Ein begleitendes Pfeifen und Rollen in der Luft lässt Gandhi »Vorsicht, das sind Artilleriegeschosse!« rufen. Geduckt laufen wir weiter.

Auf der Kreuzung Residenz-/Markstraße ist ein Flakgeschütz in Stellung gegangen. Die dortigen Soldaten, unter ihnen jugendliche Flakhelfer, üben hektisch an ihrer Kanone und drehen sie immerzu in alle Himmelsrichtungen. Ihre Hauptrichtung scheint dabei die Residenzstraße zu sein, auf der sie russische Panzer im direkten Beschuss am Weiterkommen hindern sollen, wie uns ein Flakhelfer erzählt.

Wir gehen schnell weiter, denn der Kommandant der Truppe fängt an, sich für Uli zu interessieren. In Wedding, an der Schulstraße und der Schwedenstraße, ist Schluss. Der Weg zur Innenstadt ist gesperrt. Überall sind Panzersperren errichtet, die Straßen von Häuserwand zu Häuserwand meterdick überwiegend mit Trümmerschutt geschlossen. Dahinter befinden sich Volkssturmleute mit Panzerfäusten, um ein zügiges Vordringen der Russen zum Stadtkern zu verhindern.

Unter ihnen sind auch einige Jungen in meinem Alter, denen der Stahlhelm, den sie auf dem Kopf tragen, viel zu groß ist. Sie schaffen es kaum, über die Sperren zu gucken. Kinder im Kampfeinsatz! Ein Bild, das ich öfters sehe.
Ob die das freiwillig machen? Wir alle sind durch die Ereignisse und persönlichen Erlebnisse der Vergangenheit hart geworden und abgestumpft, aber freiwillig würde ich mich so einer aussichtslosen Sache nicht zur Verfügung stellen. Und die Eltern, meistens die Mütter, was sagen die dazu? Sie sind entweder tot oder verzweifelt und haben kaum noch die Kraft, auf das Geschehen einzuwirken.

Zurück am Schäfersee saust ein deutsches Jagdflugzeug schießend über unsere Köpfe. Es brennt dabei und verschwindet mit einer starken Rauchfahne in Richtung Wedding.
»Da sind Russen drin, unsere fliegen längst nicht mehr!«, meint ein Soldat, der mit anderen zu den Panzersperren im Wedding will. Überhaupt sehen wir bei uns wenig deutsche Soldaten. Alle ziehen sich, soweit wir es erkennen können, Richtung Innenstadt zurück. Nur die Flakbesatzung an der Kreuzung bleibt. Gewiss hat sie eine verdeckte Seitensicherung.

Überleben ist alles
Wir brauchen Lebensmittel, egal was. Frau Reschke, die Inhaberin unseres Tante-Emma-Ladens in der Holländerstraße, verkauft beziehungsweise verschenkt alles, was nur nach Essen riecht. Egon hört davon und geht mit mir hin. Eine lange Schlange von Menschen steht geordnet vor dem Geschäft und nimmt uns die Hoffnung auf etwas Essbares. Ehe wir dran sind, ist der Laden bestimmt leer.

Gerade wollen wir kehrtmachen, als eine russsische »Ratta« im Tiefflug die Straße entlangfliegt und fast die Häuser berührt. Der Kopf des Piloten ist deutlich zu erkennen. Er sieht unsere Schlange und fliegt eine Kehre. Dann kommt er von der Brienzer Straße her sehr niedrig zurück und schießt in die Holländerstraße hinein. Die wartenden Leute rennen Schutz suchend auseinander.

Egon und ich drücken uns fest an die Häuserwand, während die Geschosse durch die Gegend pfeifen. Einem Luftwaffensoldaten wird direkt vor der Einfahrt zu Neetzelli sein Fahrrad unter dem Gesäß weggeschossen. Er fällt leicht verletzt zu Boden, das Rad wirbelt durch die Luft und rutscht den Gehweg entlang.

So schnell, wie er begann, ist der Angriff vorbei. Im Nu rennen wir in den Laden und bekommen doch noch einige Esswaren, die wir dringend benötigen. Ein Stück Margarine, etwas Kunsthonig, ein bisschen Käse, Mehl und Salz sind nicht mit Gold aufzuwiegen. Frau Reschke verteilt gerecht. Wir gehen zufrieden nach Hause.

Am Nachmittag treibe ich mich auf der Residenzstraße herum. Die Flakbatterie wirkt wie ein Anziehungspunkt. Ich beobachte die meist jungen Soldaten aus gebührendem Abstand und sehe sie um sich herum hinter Sandsäcken Granaten aufstapeln. Wenn die getroffen werden, bleibt von Geschütz und Bedienungsmannschaft nichts mehr übrig, da bin ich sicher. Als ich was sage, jagen sie mich fort.

Wie kann man nur so dumm sein, denke ich, werde aber gleich wieder abgelenkt. Gegenüber dem Polizeirevier 296, vor dem Eisenwarengeschäft Kirchner, werfen Soldaten der Wehrmacht von einem Kübelwagen Flugblätter, wie schon zuvor an anderen Stellen der Residenzstraße. Es ist eine neue Frontzeitung mit Namen »Panzerbär«, in der üble Drohungen an »Verräter« und Durchhalteparolen enthalten sein sollen sowie die Meldung, dass es im Norden Berlins einzelnen Feindverbänden gelungen sei, in das Gebiet der Reichshauptstadt einzudringen.

Zu gern hätte ich ein Exemplar erwischt, jedoch schaffe ich es nicht; sie sind sofort vergriffen. Manche Leute haben mehrere, geben aber keines ab. Einer sagt mir wenigstens, was da geschrieben ist. Dann rennen alle davon. Granaten fliegen pfeifend durch die Luft und explodieren irgendwo in der Nähe. Der Kübelwagen wendet und rast mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Innenstadt. Kaum ist er weg, hört man das unverkennbare Geräusch von Panzern mit ihren Motoren und Fahrketten. Die Russen!

Ich sehe drei Panzer, die in Höhe Beba-Kino, an der Ecke Residenz/Amendestraße stoppen. Ihre Geschütztürme drehen sich bedrohlich hin und her. Keine 200 Meter sind das bis zu mir, und ich bemerke es erst jetzt! Mich erfasst Panik; ich laufe weg, ja sprinte, so schnell es geht. Nur zurück in den verhassten Keller.

Die Flakbatterie fängt zu schießen an. Ein ohrenbetäubendes Donnern ist zu hören. Bei jedem Abschuss erfasst mich eine Druckwelle, bis ich an der Druckerei Schemmel am Schäfersee vorbei bin. Offensichtlich läuft ein Geschützduell zwischen den Panzern und unserem Flakgeschütz, dort, wo ich noch vor wenigen Augenblicken gestanden habe. Granaten schlagen ein, Splitter fliegen durch die Luft, treffen mich aber nicht. Zu Hause angekommen, schließt mich meine Mutter in die Arme und drückt mich ganz fest.

»Mein Gott, die Medikamente für Frau Fuß. Ich habe vergessen, sie ihr zu bringen! Sie braucht sie dringend, hätte schon heute früh etwas einnehmen müssen!« Meine Mutter hält eine kleine Tüte in ihrer Hand und sieht verzweifelt aus. Frau Fuß, Am Schäfersee 49 wohnend, ist sehr krank. Sie lebt genau wie wir mit ihren Hausbewohnern im Keller des beschädigten Gebäudes und wartet gewiss schon seit Stunden auf das, was meine Mutter ihr besorgen wollte.

»Gib her«, sage ich und reiße die Tüte an mich. Mit schnellen Sprüngen versuche ich, die zwischen unseren Häusern liegende Kraterlandschaft zu überwinden. Weit komme ich nicht. Etwa auf der Hälfte des Weges schlägt eine Granate ein. Ich werfe mich zu Boden, Deckung suchend. Erneut krepiert dicht neben mir eine weitere Granate, deren Splitter zischend um mich herum in den Boden sausen.

Ich muss hier weg, aber wann aufspringen und losrennen? Eigenartig, warum höre ich die Granaten nicht anfliegen, sondern erst, wenn sie explodieren? Mein Kopf rauscht, es summt mir in den Ohren, ist das Ulis Stimme? »Hinlegen, auf, volle Deckung!«
Uli, der mich jetzt sieht und den Flug der Granaten nach dem Geräusch von seinem Standort aus besser einschätzen kann als ich, schreit sich die Lunge aus dem Leib. Ich befolge seine Anweisungen. Beim letzten Satz ins Haus von Frau Fuß schlägt erneut eine Granate in die Eingangstür und schleudert mich die Treppe hinab in den schützenden Keller, den dortigen Bewohnern vor die Füße. Bis auf kleinere Schrammen ist mir nichts passiert.

Frau Fuß geht es schlecht; sie nimmt sogleich die Medikamente. Als »meine« Beschießung beendet ist, schleiche ich mich vorsichtig nach Hause zurück. Dort erfahre ich, dass nicht ich, sondern der Turm von Neetzelli das Zielobjekt sich einschießender Panzer war.

Angst vor den Russen
Die Spannung steigt. Russische Panzer stehen etwa 400 Meter von uns entfernt, kommen aber nicht näher. Das Duell mit unserer Flakbatterie scheint beendet. Wir hören sie nicht mehr schießen. Wie mag es da jetzt aussehen? Wir trauen uns nicht mehr aus dem Keller. Lediglich jeweils zwei Mann schieben »Russenwache«, um uns zu warnen, wenn sie kommen. Wird das noch heute Abend sein oder erst morgen früh?

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