Leseprobe

Barfuß übers Stoppelfeld
Unvergessene Dorfgeschichten 1918-1968
Band 3 und Band 4

Zeitgut Auswahl, Zeitzeugen-Erinnerungen,
384 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, gebunden.
Jubiläumsausgabe, Doppelband
ISBN 978-3-86614-148-3
Euro 9,95

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Leseproben aus dem Buch
Helga Amelung, Ferien bei Tante Marie
Georg Hörmann, Der Korb des Hausierers
Bernadette Schnüttgen, "Die Klara brennt!"
Heinrich Mehl, Kindheitsparadies Bauernhof


Osthofen, nahe Worms, Herbst 1959

Ferien bei Tante Marie (Auszug)
Helga Amelung

...Am nächsten Morgen wurden wir in aller Frühe durch Hahnengeschrei geweckt und Tante Marie wuselte schon eifrig in der Küche, als wir die Treppe herunterkamen.

„Heut’ geh’n wir nauf in den Weinberg“, verkündete sie. Es war ein strahlender Herbsttag und die Terrassen der Weinberge lagen im ersten Morgenlicht. Die Lese hatte begonnen und zwischen den Reihen der Rebstöcke waren bereits etliche Menschen beschäftigt, die die Trauben mit einer großen Weinschere vom Weinstock abschnitten und in Eimer warfen. Einige Männer gingen zwischen den Reihen mit einer großen Kiepe auf dem Rücken auf und ab, und der Inhalt der Eimer wurde in diese Behältnisse entleert. Die Kiepen wiederum wurden auf Anhänger, die von einem Traktor gezogen wurden, entladen. Der Traktor stand am Fuße des Weinberges und die Kiepenträger marschierten den ganzen Tag mit ihrer schweren Last die Berge hinauf und hinunter. In Anbetracht der Obstmassen nahm ich mir auch eine Traube und zupfte nun eine Frucht nach der anderen ab und steckte sie mir in den Mund. Tante Marie beobachtete mich eine Weile und dann herrschte sie mich an: „Ei, was mascht den doa? In e’ Traub’ beischt ma nei.“


Foto: Argast, Weinlese am Rhein

Was sollte ich sagen, in Hamburg gab es nur Trauben vom Gemüsehändler und die hat man eben Traube für Traube gegessen. Pünktlich um 12 Uhr erscholl das Glockengeläute der Dorfkirche. Das war das Zeichen zur Vesperpause. In Hamburg nannte man so etwas Mittagessen, das aus Vorsuppe, Hauptgang und Nachtisch bestand. Man saß an einem Tisch und durfte nicht sprechen. Die Vesper in den Weinbergen fand ich schöner. Mädchen in weißen Schürzen und weißen Kopftüchern kamen singend die Berge hinauf; beladen mit Henkelkörben in der einen Armbeuge und großen Steinkrügen in der anderen Hand. Alle Leute saßen fröhlich zusammen, schwatzten, und jeder bediente sich aus den Henkelkörben, in denen große Scheiben Brot und Fleischwurst lagen. Die Steinkrüge, gefüllt mit kühlem Wein, gingen von Hand zu Hand und jeder nahm einen großen Schluck daraus. In einer der unteren Etagen der Weinbergterrassen entdeckte ich eine große hölzerne Tür. Tante Marie erklärte mir, daß dort der Weinkeller sei, in dem der Traubensaft in großen Fässern gärte bis er reif zum Verkauf sei. Dort würden wir morgen nachmittag hingehen, aber erst mußte Zwetschgenmus gemacht werden. Die Leute warteten bestimmt schon auf dem Hof, damit das Kochen beginnen konnte.

Als wir von den Weinbergen zurückkamen, hatte ich endlich Muße, mir Tante Maries Haus näher zu betrachten. Es war ein großer, grauer Backsteinbau mit einem Torbogen, der mit einer Holztür verschlossen werden konnte. Über dem Torbogen befand sich ein Zimmer mit einem winzigen Fensterchen. Das war das Gesindezimmer. Vom Fenster aus konnte man die Straße sehen und auf der gegenüberliegenden Seite Häuser in der gleichen Bauweise: alle mit Torbogen und Torzimmern. Wenn man nicht auf die Hausnummer geachtet hätte, könnte man die Häuser leicht verwechseln. Der Torweg führte auf den Innenhof, der mit Kopfstein gepflastert war. In der Mitte befand sich eine große gemauerte Feuerstelle und darüber hing an Ketten ein riesiger Topf, der bereits mit Pflaumen gefüllt war. Etliche Menschen hatten sich auf dem Hof versammelt und ein Holzfeuer wurde unter dem Kessel entfacht. Schon bald roch die ganze Gegend nach bruzelnden Pflaumen. Es herrschte eine ausgelassene Fröhlichkeit, wie ich sie nie in Hamburg erlebt habe.

Die vielen Leute, hauptsächlich junge Mädchen und Burschen, sangen und rührten dabei mit einem Holzlöffel in der Größe eines mittleren Baumstammes ununterbrochen die Früchte. Man wechselte sich ab, weil das Zwetschgenmus unter dauerndem Rühren zwölf Stunden kochen mußte. Das Ergebnis war eine Köstlichkeit, wie ich sie später nie wieder gegessen habe. Wir verzogen uns in unsere Federberge und wurden von alten Küchenliedern in den Schlaf gesungen.

Als wir am nächsten Morgen in die Küche kamen, fiel das Frühstück aus Platzmangel aus. Der lange, weißgescheuerte Eichentisch war bedeckt mit Einkochgläsern, die mit schwarzbraunem Zwetschgenmus gefüllt waren. Tante Marie hatte große Bogen von Cellophanpapier vor sich und schnitt diese in kleine Vierecke, die dann in Rum getaucht wurden und auf die gefüllten Gläser wanderten, um diese zu verschließen. Statt Frühstück wurde uns ein großer Weidenhenkelkorb in die Hand gedrückt und ein rostiger Eisenschlüssel in der Größe eines Rinderknochens. An dem Schlüssel hing an einer Schnur noch ein gewichtiger Holzklotz. Wahrscheinlich, um sicher zu gehen, daß das gute Stück nicht verlorengeht. Die Tante sagte, daß wir schon mal zum Weinkeller vorgehen sollten, sie würde dann später nachkommen, wenn das Mus versorgt wäre. Den Weg würden wir ja kennen. Außerdem drückte sie uns eine Kerze in die Hand, da im Keller kein elektrisches Licht wäre und erklärte, daß wir sofort den Keller verlassen sollen, wenn die Kerze ausgeht. Der gärende Wein entzieht der Luft Sauerstoff und man könnte ohnmächtig umkippen. Die erlöschende Kerze würde den Sauerstoffmangel rechtzeitig anzeigen.

Frohgemut zogen wir dem Weinberg entgegen. Papa schleppte den Henkelkorb und den Schlüssel. Endlich erreichten wir die hölzerne Tür in den Weinterrassen. Der Schlüssel drehte sich trotz Rost und Größe sehr leicht im Schloß und quietschend öffnete sich die Tür. Ein betäubender Weingeruch schlug uns entgegen, und wir stiegen die steinernen Stufen in den Keller hinab. Alles war feucht und leicht glitschig. Wir zündeten die Kerze an und sahen nun im Dämmerlicht lange Reihen von großen Eichenfässern. Auf den Fässern klebten Kerzenreste und der eingetrocknete Wachs war zu beiden Seiten heruntergelaufen. Der Alkoholgeruch machte uns leicht schwummerig, zumal wir noch nicht gefrühstückt hatten. Im Henkelkorb fanden wir Brotkanten, Wurstenden und geschälte Zwiebeln. Wir bissen abwechselnd vom Brot und von der Wurst ab. Die Zwiebeln haben wir wie Äpfel gegessen.

Bald kam Tante Marie und fand uns fröhlich schmausend im Keller. Sie kletterte auf ein großes Faß, setzte sich rittlings darauf und steckte einen Schlauch ins Spundloch. Nun durften wir jeder daran ziehen und den köstlichen jungen Wein, der auch Federweißer genannt wird, schmecken. Leicht beschwipst erreichten wir nach einiger Zeit wieder das Tageslicht. Die Sonne blendete uns und wir hatten weiche Knie. Den Nachmittag haben wir im verdunkelten, saalartigem Schlafzimmer verbracht.


Neuburg/Kammel, Bayern;1947

Der Korb des Hausiereres
Georg Hörmann

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kamen oft Hausierer ins Dorf, die von Haus zu Haus zogen und in Rucksäcken, Koffern und großen Taschen die Dinge des täglichen Bedarfs zum Kauf anboten: Socken, Strümpfe, Hemden, Pullis, Schuhbändel, Knöpfe, Gummibänder, Reißverschlüsse, Feinseife, Bürsten ...

Der Bedarf war vorhanden, denn die Leute auf dem Lande hatten noch kein Auto, um diese Waren in der Stadt im Haushaltswaren- oder Textilgeschäft einzukaufen. Im Dorf gab es meistens nur kleine Lebensmittelläden, Kolonialwarenhandlung genannt, und vielleicht noch einen Bäcker und einen Metzger.

Als ich etwa sieben Jahre alt war, kam auch zu uns ein Hausierer, schwer beladen mit Umhängetasche und Koffer. Auf dem Rücken trug er einen großen Weidenkorb, den er im Hausgang abstellte. Vorher hatte er so nebenbei gefragt, ob wir – wie die meisten Bauern – auch einen Hund hätten, was Mutter verneinte. Nachdem der Hausierer das Geschäftliche erledigt hatte, bat dieser meine Mutter, ob er den schweren Korb mit Verkaufsartikeln, die er heute nicht mehr benötigte, bei uns stehenlassen dürfe. Er würde ihn dann am nächsten Tag wieder abholen. Hilfsbereit willigte meine Mutter ein und schob den oben mit einem festen Zelttuch verschlossenen Korb unter die Treppe, die zum Obergeschoß führte.

Während unsere Eltern an diesem Novemberabend die Stallarbeit verrichteten, spielte ich mit meinen Geschwistern Verstecken. Erdgeschoß, oberes Stockwerk und sogar der Dachboden dienten als Versteck. Stockdunkel waren Gänge und Zimmer, denn in dieser Jahreszeit bricht die Dunkelheit früh herein und beim Versteckspiel galt die eiserne Regel, daß kein Licht angemacht werden durfte.
Gerade war ich dabei, ein gutes Versteck für mich zu suchen, denn ich freute mich kindisch, wenn es sehr lange dauerte, bis ich gefunden wurde. Die meisten Möglichkeiten waren schon bekannt: unter dem Schreibtisch im Büro meines Vaters, auf dem Fensterbrett hinter den Vorhängen, hinter dem Klavier im Wohnzimmer, in einem alten Kleiderschrank auf dem Dachboden ...
Da erinnerte ich mich an den Korb des Hausierers unter der Schräge der Hausgangtreppe. Das wäre ein Superversteck! Niemand würde darin nach mir suchen, weil Mutter uns extra ermahnt hatte, den Korb in Ruhe zu lassen, da er dem fremden Hausierer gehöre.

Ich versuchte also, das Decktuch des Korbes zu öffnen, indem ich die Verschlußkordel aus den Ösen am Rand des Korbes zog und das Tuch etwas zurückschlug. Damit ich im Korb Platz haben würde, wollte ich einige Utensilien herausholen und hinter dem Korb auf den Boden legen. Also faßte ich hinein ... und hielt plötzlich etwas in der Hand, das sich meinem Griff zu entziehen versuchte. War es vielleicht ein Hase oder ein Hund?

Meine Neugierde war geweckt, ich packte fester zu, beugte mich über den Korb und – oh Schreck – eine menschliche Gestalt erhob sich ruckartig in dem dunklen Korb, sprang heraus, suchte die Haustür und riß mit aller Kraft an dieser, denn sie war verschlossen. Ich war zunächst fast gelähmt vor Angst, sprang dann aber laut schreiend in den Kuhstall zu meinen Eltern: „Vater, Hilfe, Hilfe! Ein fremder Mann ist im Korb, im Hausgang ...!“

Mein Vater lief, schnell nach einem Besenstiel greifend, in Richtung Hausgang, wo ihm die fremde Person, die einen Fluchtweg aus dem Haus suchte, bereits entgegenkam. Vater überwältigte den Fremden und fesselte ihn mit einem Kälberstrick. Es war ein schmächtiger etwa 16jähriger Junge, der gut in dem Korb Platz gehabt hatte. Ich lief sofort über den Kammelsteg zur nahen Polizeistation, um polizeilichen Beistand zu holen.

Wenige Minuten später gestand der verängstigte fremde Junge alles: In der Nacht, wenn alle geschlafen hätten, wäre er aus dem Korb gestiegen, hätte die Hausgang- oder Stalltür von innen geöffnet, um seinen Onkel, den Hausierer, der ab Mitternacht draußen gewartet hätte, hereinzulassen. Dann hätten sie versucht, Geld- und Wertsachen mitzunehmen, denn der Hausierer hätte ja entsprechende Erfahrung, wo die Hausfrauen meistens ihr Geld deponierten. Der junge Dieb wurde in die Arrestzelle der Polizeistation gebracht.

Nun galt es, noch den zweiten Mann dingfest zu machen.
Meine Eltern, der Polizist und ich warteten ruhig in unserem Hausgang bis Mitternacht. Da bewegte sich der Griff der Haustür, der offensichtlich von außen betätigt wurde, und wir hörten ein leises Klopfen. Der Polizist öffnete von innen langsam und leise die Tür – wie es wohl der Junge im Korb getan hätte – und der besagte Hausierer stand davor und ließ sich vor Überraschung sofort widerstandslos festnehmen.

Es stellte sich heraus, daß meine Suche nach dem Superversteck zu einem Diebespärchen geführt hatte, das durch den beschriebenen Trick schon manche Häuser im Schwäbischen und im nahen Württemberg heimgesucht hatte.
Als Belohnung bekam ich vom Neuburger Polizeichef eine ausgediente Dienstmütze, die ich als kleiner Junge jahrelang mit Stolz zu besonderen Anlässen trug.


Alzen bei Morsbach, Oberbergischer Kreis, Nordrhein-Westfalen;
1935

Herbstfeuer
Bernadette Schnüttgen

Die Herbstferien wurden zu meiner Zeit Kartoffelferien genannt. Auch dauerten sie länger, dafür waren die Sommerferien kürzer als heute. Eigentlich waren es für uns Kinder keine Ferien in dem Sinne, denn ich wuchs auf dem Lande auf und da waren die Kinder für die Großen eine willkommene Hilfe. Doch empfanden wir es schon als Freiheit, daß wir nicht in die Schule mußten.

Es gab auch in den Ferien kein längeres Schlafen, früh um 8 Uhr stand auch ich achtjähriges Mädchen mit auf dem Kartoffelacker, wo der große Kastenwagen, von zwei Kühen gezogen, mitten auf dem Feld abgestellt wurde. Wir hatten eine kleine Landwirtschaft, besaßen aber keine Pferde oder ein Ochsengespann wie die Großbauern. Bei uns mußten die Kühe arbeiten, Milch geben und für ihren Nachwuchs sorgen. Ein Allroundvieh. Trotz der vielen Arbeit, die uns Kindern zugeteilt wurde, blieb immer auch Zeit für ein kurzes Spiel. So nahmen wir die Kartoffeln, um festzustellen, wer sie wohl am weitesten werfen konnte, bis die mahnende Stimme des Vaters ertönte und wir die Kartoffeln wieder einsammeln mußten.

Einen gewissen Ehrgeiz hatten wir Kindern auch. So waren wir bestrebt, mit der Ernte früher fertig zu sein als unsere Feldnachbarn. Es stand ja noch die große Herbstkirmes in Aussicht, und wer bis dahin nicht mit seiner Kartoffel- und Rübenernte fertig war, galt als „typisch faul“. Auch spornte uns das zu erwartende Kirmesgeld zu Fleiß und Ausdauer an.

Der große Kastenwagen war mitten auf das Kartoffelfeld gefahren worden. Um ihn dorthin zu bekommen, waren vorher einige Furchen Frühsorten mit der Hand ausgehackt worden. Drahtkörbe und Jutesäcke wurden in Abständen auf dem Feld verteilt. Nun wurde eine Kuh vor einen Holzpflug mit Eisenscharte gespannt. Der jüngste Bruder mußte sie am Zaum leiten, während der Vater den Pflug durch die Furche führte. Die drei großen Brüder nahmen nun den Drei- oder Vierzahn zur Hand und harkten die Kartoffeln geschwind aus der Furche. So ging es ohne Pause, die eine Seite hin, die andere zurück, bis zum Mittag. Nur die Kuh durfte pausieren und wurde ausgewechselt. Die zuerst auf der Weide fressen durfte, kam in der zweiten Hälfte des Morgens vor den Pflug.

Mittags brachte die Tante das Essen auf das Feld. Ihre Tochter, die zwei Jahre älter war als ich, half ihr beim Tragen. Die Tante war eine frühverwitwete Schwester meiner Mutter und uns in den Herbstferien eine große Hilfe. Da konnten sich ihre beiden Kinder dann mal so richtig satt essen, wie mein Vater zu sagen pflegte. Es gab immer Erbsensuppe mit kleingeschnittener Mettwurst darin, weil wir auf dem Feld nur Teller und Löffel benutzen konnten. Für den Nachmittag brachten die beiden je eine Blechkanne mit Kaffee für die Großen und eine mit Milch für uns Kinder mit. In einem Extrakorb lag ein großer Stoß frischgebackener Waffeln, die so herrlich dufteten. So in der freien Natur zu schmausen war immer wieder schön und alles hat prima geschmeckt. Wir saßen in einem kleinen Kreis zusammen, in der Mitte brannte ein kleines Feuer. Der Vater saß mit dem Rücken an ein Wagenrad gelehnt und rauchte noch seine Pfeife. Kaffee und Milch wurden am Feuer warm gehalten. Das Brennholz brachen wir aus dem trockenen Gebüsch, das am Feldrand gewachsen war.

Der Nachmittag war zum Auflesen der Kartoffeln vorgesehen, die dabei gleich sortiert wurden. Auch wir vier jüngeren Kinder mußten dabei helfen. Jeder von uns hatte einen Henkelkorb, in den wir die kleinen Kartoffeln, die uns die Erwachsenen liegengelassen hatten, hineinsammelten. Sie waren für die Schweinemast vorgesehen und für eine Kinderhand nicht zu groß. Die Weidenkörbchen entleerten wir gleich in den Kastenwagen. Zwischendurch legten wir uns Kartoffeln in das Feuer zum Garen und holten sie später mit einem angespitzten Holzstäbchen wieder heraus.

Einmal hatten wir alle einen großen Spaß. Der Sohn von Tante Minna, Klein-Albert, so genannt, weil er für seine sieben Jahre sehr dünn und mager war, hatte statt einer Kartoffel ein Mausenest aufgehoben. Er fand die Tierchen mit ihren kleinen schwarzen Augen sehr lustig. Vor Angst hüpften sie auf dem Feld umher und Klein-Albert immer hinterher. Er hatte Glück, daß er welche fangen konnte, denn er war sehr flink. So steckte er die Mäuschen in die Hosentasche. Aber meistens war das eine Mäuschen längst wieder aus der Tasche herausgesprungen, wenn er das nächste hineinsteckte. Doch einmal hatte er mit jeder Hand eine gefangen. In seinem Eifer steckte er in jede Hosentasche eine Maus und hielt beide Taschen fest zu, denn er wollte partout unserer Katze ein Mäuschen zum Spielen mitbringen. Plötzlich fing er einen Teufelstanz an, er schrie und schlug die Beine wie wild hin und her, machte einen Purzelbaum, blieb flach liegen und spreizte die Beine in die Luft. Ich stellte mir vor, daß nur Rumpelstilzchen so getanzt haben konnte. Mein Bruder kam ihm zu Hilfe. Aber ihm fiel es wahrlich schwer, den zappelnden kleinen Kerl einzufangen oder gar festzuhalten.

Eine Maus war durch eine kaputte Innentasche in das Hosenbein gefallen. Weil die Hosenbeine wegen des Staubes über den Schnürschuhen mit einer Kordel zugebunden waren, konnte die ängstliche Maus nicht entweichen. So wie das Tierchen nun an dem nackten Bein rauf oder runter krabbelte, so führte Klein-Albert seinen Veitstanz auf. Nun, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Doch für uns war es eine lustige Abwechslung.


Die Bäuerin Bertha Westphal und die Nachbarstochter Käthe bei der Kartoffelernte im Kreis Schlawe in Pommern 1941. Mit der Grepe – einer riesigen Gabel mit drei oder vier „Zähnen“ wurden die Kartoffeln gerodet und anschließend in Weidenkörben gesammelt.

Wir Kinder mußten nicht nur die kleinen Kartoffeln auflesen, wir hatten auch die Aufgabe, das trockene Kartoffelstroh zusammenzuharken. Es wurde beim Dunkelwerden am Abend verbrannt als Zeichen, dem Feldnachbarn zu zeigen, daß die Arbeit für den Tag beendet war. So liefen wir drei Kinder mit einer Heuharke auf dem Feld hin und her und zogen damit das Kartoffelstroh zusammen. Der jüngste Bruder tat alles auf einen oder mehrere kleine Haufen. Wir, seine zweibeinigen Pferdchen, wurden ab und zu mit einem Waffelherzchen belohnt und gestärkt.
Aber bei all unserem Fleiß waren an diesem Tag unsere Feldnachbarn früher fertig. Die Kinder hatten dort bereits das Kartoffelstroh angezündet, und wir schauten neidisch hinüber.

uch machten sie sich ein Vergnügen daraus, über das Feuer zu springen. Sie lachten und hatten ihren Spaß dabei. Das Feld gehörte einem Großbauer, der ein Pferdegespann und andere Geräte zur Verfügung hatte, auch beschäftigte er Leute und Kinder, denen er Lohn zahlen konnte. Klara, die Tochter des Bauern, war auch auf dem Kartoffelacker. Sie war wohl erst später dazugekommen, denn sie trug ein hübsches, wadenlanges, mit Rüschen besetztes Kleid. So richtig vornehm. Auch sie hüpfte über das Feuer. Ich dagegen wurde von meinen Eltern in eine Jungenhose gesteckt, davon gab es bei vier großen Brüdern genug im Hause. Wenn die Hose zu lang war, wurde sie mit einer Kordel kurzgebunden. Meine Eltern waren praktisch eingestellt, für sie gab es da keine Probleme. Aber ich war neidisch auf Klara und erst recht auf die anderen Kinder dort, weil sie über das Feuer hüpfen durften.

Auch unsere Arbeit wurde mit dem Anzünden des Strohs beendet. Es war immer ein schönes Bild – der fast dunkle Abendhimmel und dazu überall auf den Feldern kleine glühende Feuerhaufen und die vollgefüllten Säcke, die wie kleine Männchen in einer Reihe standen und durch den Feuerschein große und kleine Gestalten wurden. Auch wir hätten zu gerne einen Sprung übers Feuer gewagt, wenn nur die Tante ein Stück weiter weggegangen wäre. Aber nein, sie blieb stehen!

Während die drei großen Brüder mit dem Vater die Kühe einspannten und die gefüllten Säcke auf den Wagen luden, blieben wir am Feuer stehen, um uns zu wärmen. Zum Schluß durften wir dann bei der Fahrt nach Hause auf dem gefüllten Wagen sitzen.
Wir standen noch am Feuer und schauten in die Glut. Die Tante räumte das Geschirr in einen großen Korb. Geblendet vom Feuerschein, konnten wir nicht gleich erkennen, was auf dem Nachbarfeld passiert war. Wir hörten die Kinder dort schreien: „Die Klara brennt!“

Wir sahen, wie unser Vater, mit einer Decke in der Hand, die er einer Kuh vom Rücken abgezogen hatte, in Windeseile und mit großen Schritten zu den schreienden Nachbarskindern lief. Mein Vater war ein großer schlanker Mann. Vom Schreck gebannt, sahen wir, wie er bei der am Kleid brennenden Klara ankam, sich mit ihr zu Boden warf und Klara auf der Erde hin- und herrollte. Dabei warf er ihr immer wieder den lockeren Erdboden über Haare und Hände. Dann packte er sie in die alte Kuhdecke. Für Sekunden hielt er sie fest eingewickelt, bis ihr Vater kam, der am anderen Ende des Feldes mit seinem Knecht beim Aufladen gewesen war, und die weinende und verstörte Klara in seine Arme nahm.
Klara hat großes Glück gehabt. Sie hatte keinen Schaden genommen, vielleicht auch, weil es zu der Zeit noch keine Polyesterstoffe gegeben hat. Was war geschehen?

Klara war nicht weit genug über das Feuer hinweggesprungen und mit ihrem Po in dem nicht mehr so stark brennenden Feuerrand gelandet. Sie ist später nie mehr über ein Herbstfeuer gesprungen. Doch zur Herbstkirmes ist sie mitgegangen, sie hatte noch einen leichten Verband um ihre Hände. Klara und ich sind später sogar Spielkameradinnen geworden. Unser Nachbar, der Großbauer ließ am folgenden Tag seinen Knecht mit dem Pferdegespann unser Feld mit winterfertig machen und spendierte sogar die Saat. Und zur Herbstkirmes hatten wir Kinder jeder einen Taler in unserem Portemonnaie, damit konnten wir schon etwas anfangen.

Die Herbstfeuer sind noch lange bei uns Brauch gewesen, da dachte noch keiner an Umweltverschmutzung. Die Asche wurde wieder auf den Feldern ausgestreut und diente zur Düngung. Erst zu Anfang des Zweiten Weltkrieges, als es Fliegeralarme gab, wurde das offene Feuermachen in den ländlichen Gebieten verboten. Danach ist dieser Brauch nicht wieder aufgelebt.
Es hatte eine neue Zeit angefangen, eine bessere Zeit?


[Ölschnitz bei Münchberg, Oberfranken; 1945–1947]

Kindheitsparadies Bauernhof
Heinrich Mehl

Im Frühjahr 1945 mußten meine Eltern mit drei Kindern, der Tante und ihrem kleinen Sohn aus Schlesien in Richtung Westen flüchten. Nach einer langen Fahrt auf einem Lastwagen mit Holzvergaser-Motor landeten wir in Oberfranken und wurden einer Bauernfamilie im Dorf Ölschnitz bei Münchberg zugeteilt. Für meine Brüder Wolf und Uli, für Vetter Klaus und für mich, vier Jahre alt, wurde der kleine Bauernhof in einem Ort mit nur wenigen Hofanlagen und umgeben von Feldern, Wiesen und Wald, unser Zuhause. Wenn meine Eltern auch alles verloren hatten, Mutter und Tante Hanne nun auf einem fremden Hof mithelfen mußten und mein Vater, von der Familie getrennt, neue Anstellungsmöglichkeiten suchte – für uns Kinder bedeutete das Leben im Bauernhaus, mitten unter Tieren, zwischen Bauerngarten und ungepflasterter Dorfstraße, auf Koppeln, am nahen Teich und auf den Hohlwegen zum großen Wald hin ein spannendes, mit wunderbaren Eindrücken gefülltes Leben. Wie es die menschliche Natur so einrichtet, ist mir nur ganz wenig Mühsal, schon gar nichts Schreckliches aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben, sondern nur Bereicherung aller Sinne.

Garanten dieser glücklichen Zeit direkt nach der Katastrophe gab es viele: die anständige Bauernfamilie Fraaß, die uns „Eindringlinge“ gut behandelte, das kleine Dorf ohne politische Nachwirkungen der Nazizeit und ohne Kriegsschäden, die heile Landschaft rund um uns. Wir mußten keinen Hunger leiden, wir waren alle gesund, und daß wir jeweils zu zweit in einem engen Bett schlafen, zu fünft oder sechst in einem kleinen, im Winter nicht heizbarem Raum leben mußten, war im Rückblick eine gute Schulung für uns, solidarisch miteinander auszukommen. Ausgeglichen wurden die Enge und das Fehlen von fließendem Wasser und WC durch die Weite von Hof und umgebender Natur; wir lebten auf einem natürlichen Abenteuer-Spielplatz, wie ihn sich Kinder von heute nicht mehr vorstellen können.


Der Bauernhof Fraaß im oberfränkischen Dorf Ölschnitz um 1945.
Er wurde für uns Flüchtlinge ein Zuhause.

Kleines Paradies für die Sinne eines Kindes

Besonders prägten die vielen Eindrücke auf unsere fünf Sinne – was wir sehen, fühlen, hören, riechen, schmecken konnten. Heute in einer städtisch strukturierten Welt lebend, mit einem alles verbindenden Geflecht aus Autostraßen, mit flächendeckender Versiegelung der Wohnsiedlungen, mit Technisierung fast aller Arbeitsprozesse, mit Automatisierung der einfachsten Handarbeit, mit perfekter Hygiene ist der Rückblick ein Blick in eine farbige, von unzähligen Gerüchen und Tönen erfüllte Welt, in ein Paradies für die Sinne eines vier- bis sechsjährigen Jungen. Fantasie und Kreativität, dies behaupte ich heute, konnten in solch einem Umfeld auf beste Weise entwickelt werden. Im entspannten Blick aus dem nun begonnenen Ruhestand heraus scheint es mir fast logisch, daß ich in meiner späteren Berufslaufbahn Leiter eines großen Freilandmuseums bäuerlicher Kultur in Süddeutschland und anschließend Dezernent für Volkskunde an einem Landesmuseum in Norddeutschland werden durfte.

Nicht die optischen Eindrücke der frühen Kindheit auf dem oberfränkischen Bauernhof waren die prägendsten, sondern – die Gerüche. An jeder Stelle des Hofes roch es anders und immer so kräftig, daß man heute nur von „Stinken“ reden würde. Neben dem Kuhstall lag der Misthaufen, dessen fast trockenes, mit Stroh vermischtes Material ganz anders roch als die im benachbarten schmalen Graben fließende Jauche. Für uns Kinder war es selbstverständlich, über den Mist zu klettern, an ihm herunterzurutschen. Wir gingen auch nicht auf den im Freien stehenden Abort, auf das heute vielbelachte Pumpsklo, sondern stellten oder kauerten uns gleich an den Misthaufen. Viel schärfer rochen der Schweinestall und das kleine Geviert davor, in dem die Tiere im Schlamm wühlen durften. Und wieder ganz anders, milder und süßlicher, roch der Taubenmist, der unter dem Hausgiebel mit den Einfluglöchern lag.

Traumhafte Gerüche fanden sich im kleinen Garten. Ging man durch ihn mit geschlossenen Augen, so löste in ganz kurzen Abständen ein Erlebnis das andere ab, auf Blumenduft folgte die Vielfalt der Gewürze, Zwiebeln rochen natürlich ganz anders als Mangold, Johannisbeeren anders als Stachelbeeren. Ein Höhepunkt des Herbstes waren dunkelrote Mostbirnen, die überreif vom Baum fielen, am Boden dahinfaulten und einen süßen, fast alkoholischen Duft verströmten. Wir berauschten uns geradezu daran. Noch heute nehme ich, wie ein Jagdhund, eine solche Geruchsfährte auf, folge meiner Nase und stoße dann irgendwo auf einen Mostbirnenbaum mit reifen Früchten.

Aber es gab auch „schreckliche“ Gerüche. Unvergessen wird mir bleiben, wie schlechtgewordenes, eingewecktes Fleisch riecht: Wir entdeckten eines Tages ein in den Vorgarten geworfenes Einweckglas, von durchwandernden Zigeunern – so nannten wir sie damals – am Boden zerschmettert, wohl aus Wut über eine zu kleine Gabe der Bauern.

In der Rangfolge der eindringlichsten Empfindungen aus der Zeit in Ölschnitz stehen an zweiter Stelle die Geräusche des Dorfes. Unvergeßlich bleibt das Krähen der Hähne am Morgen, die „Putt, putt, putt“-Rufe der Oma, wenn sie vormittags die Hühner fütterte, das Dengeln der Sensen, das am Abend von allen Seiten durchs Dorf schallte. Noch heute zerbreche ich mir den Kopf über die Bedeutung der altertümlichen Befehle der Bauern, die sie den Zugtieren gaben. Ein alter Landmann zog mit seinem Kuhgespann fast täglich am Hof Fraaß vorbei, und aus seinem Mund ertönte ein ununterbrochenes „Hot, hot, hot, hot“, wenn er die Kuh rechts halten wollte, und ein dazwischen gestreutes „Wiesta“, was offensichtlich „links“ bedeutete. Folgten wir seinem Singsang, so durften wir an seinem Hof beim Abspannen noch ein kräftiges „Hulfa“ hören, was „Zurück“ bedeuten mußte.

Geräusche umgaben uns über den langen Tag und begleiteten auch unseren Schlaf. Wir lauschten dem Gurren der Tauben, wir hörten den Kuckuck vom Waldrand rufen, wir mochten das aufgeregte Grunzen der Schweine – und steigerten dies noch, indem wir mit Holzstäben auf den Zaun um den Schweineauslauf trommelten (und nannten es „dengeln“).

Da wir über dem Kuhstall schliefen, wurden unsere Nächte von den Geräuschen der Ketten und dem leisen Muhen der Tiere begleitet. Dies war nicht störend, sondern strahlte eher Geborgenheit aus und ließ uns beruhigt wieder einschlafen, waren wir einmal nach einem Alptraum in der Nacht aufgewacht.

Auch bei den Geräuschen aus dem Dorf gab es nur wenige Schreckerlebnisse: ein nächtliches Gewitter etwa, wenn die erwachsenen Frauen eine Kerze anzündeten und sich – warum auch immer – ängstlich in die Mitte des Raumes stellten. Oder ein abendlicher Brand im Nachbardorf, wenn der Sohn des Bauern im Hof hastig den Traktor anwarf, mit dessen Schwungscheibe am Brandort dann die Feuerwehrpumpe betrieben wurde. Unsere Mutter ließ uns aus dem Dachbodenfenster des Hauses auf den Horizont blicken, an dem sich – war es Wirklichkeit oder doch nur Einbildung? – ein roter Schimmer des Brandes abzeichnete.

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