Leseprobe


Dorothea F. Voigtländer (Hg.)
Mein Bonn

288 Seiten mit vielen Abbildungen, Stadt-Chronologie.
Klappenbroschur
ISBN:
3-86614-131-9
12,90 Euro


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Bonn; um 1950

Unter der Laterne
Clemens Kugelmeier

Im Rheinland sind die Martinszüge ein schöner alter Brauch – erst recht in jener Metropole Bonn, deren Münsterkirche Sankt Martin geweiht ist. Diese Veranstaltungen bieten insbesondere den Schulen Gelegenheit, ihr „Image“ zu zeigen, und zwar mit allerlei Dekor, der im Martinsgang mitgeführt wird: bunten Laternen, kunstvoll gebastelten Figuren, prachtvollen Ornamenten. Das Prunkstück des Martinszuges in Bonn war in diesem Jahr ein von vier Schülern getragenes, aus Pappe gefertigtes und von innen beleuchtetes Bonner Münster.

Natürlich rechneten es sich die Schulleiter und Lehrer zur Ehre an, im Zug mitzumarschieren. So auch der Leiter des renommierten Bonner Beethoven-Gymnasiums, Oberstudiendirektor Schümmer. Stolz schritt er seinen Schülern voran, eskortiert von seinem Stellvertreter und einigen Studienräten. Hinter ihm gingen als erste seine Primaner, alle gestandene Pennäler.

Nun zeichnete den Herrn Oberstudiendirektor Schümmer eine Gewohnheit aus, die Aufmerksamkeit erregte: Er hatte einen vorwärtsgebeugten, fast trottenden Gang, wobei er bei jedem Schritt jeweils ein Bein nachzog. Diese Gangart nun ahmten seine Schüler nach. Da er ihnen voranschritt, bemerkte er es nicht. Solche Imitation war nicht von der feinen Art, doch die Bonner Bürger standen auf den Gehwegen und lächelten. Sie empfanden die Demonstration durchaus nicht als respektlos, vielmehr zeigte sie ihnen, bis in welche Tiefen das große Vorbild Schümmer auf seine Schüler gewirkt hatte – und zwar auf eine sympathische Weise. Es war auch eine Form des rheinischen Humors.
Der krönende „Glanzpunkt“ dieser Parade war jedoch ein Gag, den sich die Pennäler zusätzlich ausgedacht hatten. Einer von ihnen, der in der ersten Reihe ging, hielt eine lange Angelrute, und an dieser Gerte hing ein kleines Lämpchen, batteriebetrieben. Diese Laterne hielt der Jüngling so, daß sie über dem Haupt des Direx schaukelte.

Auch dies bemerkte der Schulmonarch nicht, der ahnungslos unter der Laterne trottete. Doch die Bonner tuschelten mit Respekt: „Seht mal da: eine so kleine Lampe über einem so großen Licht!“

Oberstudiendirektor Carl Schümmer „regierte“ das Beethoven-Gymnasium von 1945 bis 1952.


"... dat möt eijentlich klappen"
Hannelore Siegel

Sprachschwierigkeiten hatte ich mit meinem neuen Chef keine, denn Bundeskanzler Konrad Adenauer kam genau wie ich aus Köln. Er war ein Mensch, der mit rheinischer Fröhlichkeit und dem ihm eigenen Humor vieles locker nahm. Als im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes eine Sekretariatsstelle frei geworden war, ergriff ich die einmalige Chance und bewarb mich. Und ich sollte es nicht bereuen. Ich war 29 Jahre jung und hatte bis dahin im Auswärtigen Amt gearbeitet.

Die Verständigung zwischen meinem neuen Chef und mir klappte auf Anhieb. "Ich bin ne kölsche Jung, und Sie sin a kölsch Mädchen, dat möt eijentlich klappen", sagte Adenauer schmunzelnd zu mir, als ich mich vorstellte. Ich solle mich nicht einschüchtern lassen, wenn ein "hohes Tier" aus Politik, Wirtschaft oder Kirche ins Kanzleramt käme, was häufig der Fall sein würde. "Lassen Sie sich nicht verrückt machen, bei uns bleibt es immer ruhig!" riet er mir.


Ich freute mich sehr, als mir Konrad Adenauer beim Abschied
aus seinem Amt als Bundeskanzler im Oktober 1963 eine
persönliche Widmung schenkte.

Und so war es auch. Typisch für Konrad Adenauer war, daß er seine Leute gerne neckte. So meinte er zu mir:
"Frollein Siegel, Sie können schreiben, wat Se wollen, bevor Sie aber den Sinn ändern, fragen Sie mich!"

Seine philosophischen Lebensweisheiten, von denen er viele auf Lager hatte, höre ich noch heute. Wie zum Beispiel: "Man muß de Lück nemme, wie sie sind, et jit keen andere." Als ein bekannter Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet verstorben war und ich davon ausging, daß wegen der Beerdigung der Terminplan des Bundeskanzlers geändert werden müsse, sah mich Adenauer nachdenklich an und meinte: "Och nee, der kommt auch nicht zu meiner."
Ich war schon gar nicht mehr überrascht, das war typisch für ihn.

Ferien ohne Arbeit gab es bei Konrad Adenauer nicht. Das ganze Team, so auch Chefsekretärin Anneliese Poppinga und natürlich auch ich, begleitete ihn in sein italienisches Domizil, die Villa La Collina in Cadenabbia am Comer See. Eine angenehme Unterbrechung der Arbeitsstunden war sein geliebtes Bocciaspiel. Wir bildeten zwei Parteien, ich spielte mit einer der Adenauer-Töchter gegen den Vater und gegen Anneliese Poppinga. Allerdings gab es immer ein Problem: Der Bundeskanzler, Erfolg in der Politik gewohnt, verlor beim Bocciaspiel höchst ungern. Er war richtig sauer, wenn "seine Partei" unterlag. Hatte sie gewonnen, war er bester Stimmung. Deswegen ließen wir ihn so gut wie immer gewinnen, das war unser aller Vorteil.


Beim Bocciaspiel überlegte ich immer, wie die Kugel laufen sollte,
damit die "Partei" des Kanzlers gewann.

Den Feierabend in Cadenabbia verbrachten wir in der "Gruft", einem dunklen, kühlen Raum. Bonn war weit weg und der Kanzler konnte sich seinen Kriminalromanen, die er so liebte, besonders die der englischen Schriftstellerin Agatha Christie, widmen. Ich mußte ihm daraus vorlesen.
Irgendwann nickte er dann ein, oder er sagte: "Jut, jut Frollein Siegel, hjör'n Sie auf."
Ich arbeitete bis zu seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Oktober 1963 mit Konrad Adenauer zusammen. Danach ging ich zurück ins Auswärtige Amt.
Im Mai 1966 begegnete ich Adenauer während seines privaten, aber hochpolitischen Israelbesuches noch einmal. Ich war für das Auswärtige Amt in der Deutschen Botschaft unter dem ersten deutschen Botschafter, Rolf Pauls, in Tel Aviv tätig und durfte Adenauer während seiner gesamten Israelreise begleiten. Das sollte das letzte Mal gewesen sein, daß ich mit ihm zusammengearbeitet habe. Für mich sind das unvergessene Erinnerungen an einen bedeutenden Mann und großen Politiker

 

Als das ZDF in Bonn laufen lernte
Fides Krause-Brewer

Wir hatten alle keinerlei Erfahrung, wie man als Journalist "Fernsehen macht", damals im Sommer 1962, als das "neugeborene" Zweite Deutsche Fernsehen mit Hauptsitz in Mainz eine ganze Reihe von Kollegen vom Rundfunk, von Zeitungen und Zeitschriften abwarb - so auch hier für das Studio Bonn in der damaligen Bundeshauptstadt. Vielleicht erinnert sich noch so mancher an Gerhard Dambmann, Wolf Dietrich, Rudolf Woller und auch an mich, die ich bis dahin zehn Jahre als Freie für mehrere Rundfunkanstalten gearbeitet hatte.

Vom Fernsehen hatten wir alle nicht die blasseste Ahnung, und meine Bitte an Herrn Westermann, der die Einstellungen vornahm, doch wenigstens mal eine Kameraprobe zu machen - "Sie wissen doch gar nicht, wie ich auf dem Bildschirm aussehe!" wischte er souverän beiseite: "Ihr macht das schon!"
So begann im Herbst 1962 meine TV-Karriere.

Unser "Studio" im Regierungsviertel lag in der Oelbergstraße, nur ein Fußweg entfernt vom Bundeshaus. Aus einer gemütlichen Villa mit anderthalb Stockwerken wurde ein Studio. Sie mußte zunächst total unterminiert werden, um die Technik im neuen Kellergeschoß unterzubringen. Im Parterre hatte man aus den ehemaligen Wohnräumen alle entbehrlichen tragenden Wände herausgerissen, und so wurde Anno 1962 ein Studio daraus, rückblickend ein echtes Pionierstudio. Im Dachgeschoß mit lauter Schrägen residierten unser Studioleiter Rudolf Woller und sein Stellvertreter Gerd Schoers in je einem kleinen Büro und Karl-Heinz Schwab im sogenannten Dichterstübchen, dem ehemaligen Bad. In einem geräumigen Dachzimmer waren die Redakteure Klaus Altmann, Robert Stengl, unsere Redaktionsassistentin Ria Ley und ich untergebracht. In der ehemaligen Vorratskammer tickerte der Fernschreiber, die Türe mußte geöffnet bleiben, weil es hier kein Fenster gab.

So zu arbeiten war zwar ungemein kommunikativ, doch man mußte schon ein Meister der Konzentration sein, um unter diesen Umständen etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen. Doch wir fühlten uns als echte Pioniere, lernten den TV-Journalismus mit Bild im "on" und "off", übten, wie man spricht, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Hinzu kam für uns die neue Technik, denn in einem Schneideraum hatte noch niemand von uns gearbeitet. Dort hat uns unsere liebe Frau Elfriede Manns mit ihrer großen Erfahrung den Umgang mit Filmmaterial beigebracht, sie hatte ihren Beruf als Cutterin von der Pike auf gelernt. Doch sie saß in der Parallelstraße, der Langenbachstraße, wo die ehemaligen Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer in einem ehemaligen Einfamilienhaus zu Schneideräumen avanciert waren, das Wohnzimmer mit Kamin den Kameraleuten als Aufenthaltsraum diente, in der fertiginstallierten Küche noch abends spät eifrig gebrutzelt wurde.

Unser Grafiker, Werner Götzinger, zeichnete im Dachstübchen Bilder für Erklärstücke, und unser Archiv im Speicherraum leitete Egon Ludwig. Das Kopierwerk befand sich jenseits der Straßenbahnschienen in der Adenauerallee, so daß die Produktionszeit oft ziemlich lang war. Eilige Fußmärsche zwischen Oelberg- und Langenbachstraße und dem Kopierwerk bei Wind und Wetter förderten die Gesundheit aller.
Ab Herbst 1962 wurde zunächst nur geprobt, denn die meisten von uns hatten noch nie vor einer Kamera gestanden, geschweige denn wußten wir, wie ein Drehbuch geschrieben wird. Um Interviews zu üben, luden wir möglichst unbekannte Hinterbänkler aus dem Bundestag ein und machten mit ihnen für die "Blindenanstalt", wie wir das nannten, Interviews unter der Vorspiegelung, sie würden, wenn wir erst einmal senden, bevorzugt auf den Schirm kommen - was natürlich nie geschah.


Ich bin auf Sendung im neuen Hauptstadtstudio. Vieles
war bei unserem Start Anfang der 60er Jahre noch
provisorisch im Fernsehstudio Bonn des ZDF in der
Oelbergstraße, unweit vom Bundeshaus.

Provisorium war in jeder Hinsicht großgeschrieben. Echte Kulissen oder auch gar einen Hintergrund hatten wir nicht. Als der Sendebetrieb am 1. April 1963 begann, wurden Kommentare und Gespräche im Studio vor einer Wand aus einer Art Butterbrotpapier, das mit je einem Besenstil oben und unten befestigt war, gedreht.

Besonders nervenaufreibend war es, wenn es zum Beispiel um ein Ereignis am Nachmittag im Bundeswirtschaftsministerium ging. Der Rush-Hour-Stau reichte von der Kaserne in Duisdorf bis zum Studio. Studioleiter Woller mietete dann furchtlose Motorradfahrer im roten Lederoutfit, die das Film- und Tonmaterial durch alle Staus ins Kopierwerk transportieren mußten. Kein Wunder, daß Pannen nicht ausblieben. Denn vom Kopierwerk mußte das Material in die Schneideräume, wieder ein Weg über die Straßenbahngleise auf die andere Straßenseite, gebracht werden.

So hatte ich einmal mit dem damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Karl Blessing, ein langes Interview gemacht - mit zwei Kameras. Das ergab zwei Filmrollen. Das Unglück wollte es, daß einer Cutterin der gesamte Film von einer der Rollen durch die Hände bis auf den Boden fiel. Jeder, der einmal in einem Schneideraum gesessen hat, weiß um diese Katastrophe. Mit vereinten Kräften machten wir uns daran, zusammenzuflicken, was vertretbar war, denn wir konnten ja ein 10-Minuten-Interview nicht nur mit der Totale senden. Weil wir bei der Notflickerei Negativ und Positiv mischen mußten, hatte der Präsident den Scheitel einmal rechts, einmal links.

Die Pionierzeit ging erst zu Ende, als das ZDF mit allen Abteilungen ein neues Gebäude am Langen Grabenweg zwischen Bonn und Bad Godesberg im Ortsteil Friesdorf erhielt. Das Richtfest war am 18. Juli 1967, und am 5. April 1968 übergab der damalige Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmaier das neue ZDF-Gebäude seiner Bestimmung. Wegen der langgezogenen Fenster und der imposanten Fassade bekam es den Spitznamen "Reiches Kanzlei", frei nach dem damals neuen Studioleiter Hans Joachim Reiche. Die schönen alten Zeiten mit ihren Provisorien und riskanten Produktionsbedingungen, die im Grunde bei aller Angst, es könne etwas schiefgehen, aufregend, anregend und kreativ waren, wandelten sich zu einer neuen Ära.


Eine schwarze Zugfahrt
Dorothea F. Voigtländer

Die Zinkwanne war 1947 fast das wichtigste Utensil in einer kinderreichen Familie. Wie sollte man sechs Kinder baden, wie den Kartoffelsalat für 14 Personen vorbereiten, womit sollte man die Eierkohlen klauen?

Ja, klauen. Denn immer, wenn die Züge mit den Eierkohlen kamen, heulte die Zugsirene schon von weitem. Wir wohnten in der Nähe des Bonner Bahnhofes, in der Niebuhrstraße, unsere Bahnschranke war - und ist dort heute noch - an der Arndtstraße. Der Zug, damals von einer Dampflok betrieben, hatte noch keine Einfahrt in den Bonner Hauptbahnhof. Sobald die Zugsirene heulte, sah man sie rennen: aus allen Haustüren und Kellerlöchern kamen sie, die Alten und die Jungen, die Frauen mit ihren nach oben gebundenen Kopftüchern gegen den ewigen Staub, die Kinder in ausgewachsenen oder viel zu großen Kleidungsstücken, alle mit Eimern und die meisten mit eben jenen Zinkwannen. Ohne sie ging nichts.

Die Kinder wurden auf die stehenden Züge an der Bahnschranke hinaufgehoben, fest krallten sich die kleinen Hände in die Eierkohlen, mit den Füßen hangelten sie sich in den Kohlen fest. Die jungen Erwachsenen versuchten sogar, auf die Trittbretter der langsam fahrenden Züge zu springen. Die Bahnschranken waren geschlossen, doch das war kein Hindernis. Die Besatzer, in Bonn waren es die Briten, sahen weg, denn der Januar 1947 war der härteste Winter seit Jahrzehnten. Der Rhein war zugefroren, Wärme war fast noch wichtiger als Essen. Von beidem gab es zu wenig.

Zwischen den Bäumen im Hofgarten, im Gestrüpp auf dem Venusberg, im nahen Wald, genannt Kottenforst und Siebengebirge, zogen ganze Familien mit Kindern umher, um Holz für die Öfen zu ergattern. Das war zwar verboten, aber es mußte sein. Später erfuhr man, daß zwischen dem 19. Dezember 1946 und dem 11. Januar 1947 allein auf dem Werftgelände in Graurheindorf 784 Tonnen Briketts aus Eisenbahnwaggons gestohlen worden waren. Die Bonner Parkanlagen nannte man später "entholzt".

Beim ersten Pfeifen eines Zuges trieb es auch unsere Familie hinaus an die Bahnschranke an der Arndtstraße. Nur rasch hinauf auf die Kohlenwagen!
Kräftige Arme hievten uns Kinder hinauf auf die wackeligen Eierkohlen. Eiligst warfen wir dann die Kohlen hinunter, die von den Großen in die Zinkwannen gefüllt wurden. Schnell, schnell, denn der Zug fuhr gleich weiter!
Schwarzer Rauch legte sich über die Kaiserstraße, wenn die Dampflokomotive wieder anfuhr. Ein leichter Ruck - doch diesmal fuhr der Zug nicht Richtung Bonner Bahnhof wie sonst, sondern zurück!

Man hatte vorne umrangiert. Keiner von uns hatte das bemerkt. In Windeseile sprangen die kleinen und größeren Kohlendiebe von den hohen Waggons hinunter. Doch der Zug hatte schon zuviel Geschwindigkeit, als daß ich noch hinunterrutschen konnte. Ich hatte Angst. Darum legte ich mich flach auf die Kohlen, doch zu meinem Entsetzen rutschte ich noch weiter an den Rand des Waggons. Dann lag ich endlich fest.

Der Zug fuhr weiter, unter der Reuterbrücke hindurch, am Südfriedhof vorbei. Jetzt kam der Bad Godesberger Bahnhof, dann der Bahnhof Mehlem, und immer noch hielt der Zug nicht an. Weiter ging die unfreiwillige Reise am Rhein entlang bis zum Bahnhof Rolandseck. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Die Luft war frostkalt. Meine Hände auch, meine Zöpfe waren aufgegangen, und die Haare wehten mir wirr um den Kopf.

Endlich hielt der Zug an, doch ich krallte mich angsterstarrt weiter fest. Plötzlich stand auf dem Bahnsteig vom Bahnhof Rolandseck ein Soldat vor mir und schrie: "Mais c'est une petite fille!" (Aber das ist ja ein kleines Mädchen!)
Ich war in der französischen Zone gelandet.

Die französischen Soldaten holten mich lachend vom Zug, nannten mich "la petite noire", die "kleine Schwarze", denn die Kohlen hatten meine Kleider und mein Gesicht dunkel verfärbt. Die französischen Soldaten waren sehr freundlich zu mir, sie trugen mich ins Bahnhofgebäude und fütterten mich mit weißem Brot. Ein Genuß. Der heiße Kaffee mit Milch war herrlich. Der erste in meinem Leben. Guter Bohnenkaffee, hätte Oma gesagt. Die Franzosen steckten mir eine große Tüte Kaffeebohnen in die Schürzentasche. Dann wurde ich mit einem Jeep zurück in Richtung Bonn in die nahe englische Zone gefahren. Umsteigen in einen britischen Jeep. Es war mir völlig egal, als die englischen Soldaten angewidert von dem kleinen schwarzen Ungeheuer wegrutschten.

Endlich zu Hause in der Niebuhrstraße angekommen, atmeten alle Familienmitglieder und Nachbarn auf, denn alle hatten gesehen, wie ich mit dem Zug in Richtung Süden davongefahren war. Trotzdem bekam ich eine saftige Ohrfeige für die Aufregung in der Familie. Dann umarmten und küßten mich alle vor Erleichterung. Ein glückliches Aufseufzen von Oma, als sie die Kaffeebohnen in meiner Schürzentasche zählte. Nun wurde die mittlerweile blankgescheuerte Zinkwanne mit heißem Wasser gefüllt. Wasser und Kernseife zauberten wieder ein halbwegs normales Kind hervor. Die nächsten Tage waren gerettet. Mit Kohle und Kaffee.

Es war die abenteuerlichste Zugfahrt meines Lebens. Wenn ich sie gegenüber meinen Enkelkindern erwähne, johlen sie immer vor Vergnügen. "Oma, erzähl doch nochmal von deiner Kohlenfahrt!" oder "Wie war das eigentlich früher?"
Und dann kommen die Erinnerungen wieder.

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A u t o r i n

 

Dorothea F. Voigtländer ist 1943 in Bonn geboren. Nach langjährigem Frankreichaufenthalt und Studium an der Universität Sorbonne in Paris, wohnt sie heute südlich von Bonn am Siebengebirge. Sie arbeitet als Journalistin für Hörfunk und Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften und interessiert sich besonders für die Einzelschicksale der Menschen im großen Strom der Geschichte. Neben ihrer Tätigkeit beim Zweiten Deutschen Fernsehen und Redakteurin des Bonner General-Anzeiger schrieb sie verschiedene Bücher und veröffentlichte viele historische Reportagen und Kurzgeschichten. Bekannt wurde sie durch ihre eigenwillig geschriebene Porträtserie berühmter und weniger berühmter Persönlichkeiten. "Die Gegenwart kann nur aus der Vergangenheit verstanden werden" so gibt sie es an ihre Kinder und Enkelkinder weiter.
Dorothea F. Voigtländer ist verheiratet, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.