[im
Westen, 9. März 1945]
Mein
Goldschatz,
jetzt
habe ich Dich mal einige Tage warten lassen. Aber mach Dir keine Gedanken,
jetzt habe ich wieder Zeit [...] Ich möchte Dir ja immer und
immer wieder sagen, mach Dir um mich keine Gedanken. Ich habe Dir
das oft genug gesagt und auch vieles erklärt. Aber kannst Du
mich verstehen, wenn ich mich um Euch sorge. Ihr wohnt so dicht am
Bahnhof. Und denen, diesen Gangstern, ist ja der kleinste Bahnhof
nicht mehr heilig genug. Ich grüße Dich Irene, auch wenn
Berlin fällt, brauchen wir niemals ein schreckliches Ende zu
erwarten. Das hat gar nichts zu sagen. Nach dem Siegestaumel der anderen
wird eines Tages der Sieg, der heute schier unglaublich geworden ist,
von uns ins Land getragen werden. Es gilt jetzt erst mal die Flut
aufzuhalten. Und das andere ist bereits im Rollen. Es wird weiter
rollen, der Sommer und der Herbst wird uns die Ernte bringen. Mein
Schatz, Kopf hoch, jeden Pfennig gespart und glaube mir, ich tue es
ja auch. So wie ich an Dich glaube, so glaube ich an unseren Sieg,
an unsere Zukunft und an unser Glück. So wie die anderen uns
jetzt zu überfluten gedenken, da werden sie eines Tages feststellen
müssen, daß sie überrannt worden sind. Glaubst Du
Irene, ich würde so zuversichtlich sein, wenn ich nicht wüßte,
nicht ich allein, daß in unseren höchsten Stellen noch
eine Waffe ruht, die im entscheidenden Moment entgegengesetzt wird.
Es scheint etwas ganz Neues zu sein. Vielleicht eine Wunderwaffe.
Auf jeden Fall wäre es ein Wunder, wenn sie noch zur rechten
Zeit eingesetzt würde. Und wir wären aus allem Schlamassel
heraus. Das ist meine und das ist unsere Hoffnung.
Mein
Schatz, machs gut, ich küsse Dich und ich umarme Dich und
ich behalte Dich immer lieb.
[Lauterbach, 24. März 1945]
Mein
lieber Schatz,
werde
ich morgen noch an Dich schreiben können? Von Stunde zu Stunde
wird es trostloser um uns. Wir haben unseren guten Glauben aufgegeben,
daß es zu einer Gegenoffensive kommt. Der Anglo-Amerikaner ist
schon zu tief in Deutschland eingedrungen. Weißt Du, wir alle
hoffen und wünschen uns, daß bloß kein Gegenangriff
unsererseits erfolgt, dann hätten wir den totalen Krieg. Nicht
nur aus der Luft, noch viel schlimmer würde der Kampf im deutschen
Land ausgetragen werden.
Nein,
sage ich, unsere Soldaten mögen sich ergeben. Laßt die
Feinde einmarschieren, um dem Schrecken einen Riegel vorzuschieben,
es ist aus. Mein lieber Mann, wie denkst Du, wo wirst Du sein? Das
ist die einzige Frage, die in meinem Kopf hin und her schwirrt. Papa
geht noch aufs Amt. Gestern wurde er in der Höhe von Villa Dürbek
gezwungen, hinter einem der dicken Mauerpfosten Schutz zu suchen.
Er kam gerade von zu Hause und wollte zum Südbahnhof aufs Amt.
Mit Bomben griffen sie den Güterbahnhof an. Die Fingersche Papiermühle,
dort eine Tote, ein Blindgänger, genau über der Straße
in den Straßengraben. Papa kam mit dem Schrecken davon. Wäre
dieser Blindgänger krepiert, nicht auszudenken.
Ich schreibe
Dir im Glauben, daß Dich die Feldpost noch erreicht. Ich will
und kann noch nicht aufgeben. Wir denken viel an Hildegard. Wo wird
sie sein? Gelnhausen ist bestimmt von den Amerikanern schon besetzt,
oder sie stehen dicht vor der Stadt. Wir sind ganz durcheinander.
Mutti und den Kindern geht es gut. Kein Schnupfen, kein Husten, nur
Deine Mui kämpft mit der Erkältung. Wenn ich nicht den guten
Hustensaft hätte, oh weh, arme Mui. Aber auch heiße Kartoffeln
müssen mithelfen. Mein lieber, mein guter Schatz, ich sage Dir
heute Lebewohl, wir müssen uns wiedersehen, uns darf doch die
Vorsehung nicht auseinanderreißen. Wir haben uns doch so lieb.
Deine
Irene mit den Kindern
Herbst
1944: Irene Gucking mit ihren beiden Kindern, die während des
Krieges geboren wurden.
[Lauterbach,
16. November 1999]
Mein
lieber Schatz,
ich muß
Dir wieder einmal schreiben. Es ist Mitternacht, schlafen kann ich
nicht. Orpheus müßte schon längst hier gewesen sein.
Du siehst, auf die Götter ist auch kein Verlaß.
Ja, mein
lieber Schatz, wie sehr wünschte ich mir, Du könntest sehen,
was ich mit unseren Briefen gemacht habe. Etwa 1600 Briefe lagen in
der großen Schublade, weißt Du, in Omas Kommode. Es könnten
noch etwa 200 mehr sein, wenn sie nicht durch Feindeinwirkung verlorengegangen
wären. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du mich verstanden hättest,
als ich mit dieser Arbeit begonnen habe. Aber ich konnte nicht anders.
Ganz spontan durchzuckten Gedanken meinen Kopf. Es waren Gedanken,
die mich nicht mehr losließen. Aus diesen Briefen mußte
und wollte ich etwas machen. Dir, mein Schatz, wollte ich ein geistiges
Denkmal setzen. Und das ist mir während der letzten dreieinhalb
Jahre gelungen. Jeder Brief war ein Baustein aus unserer jungen Zeit,
Stein auf Stein. Ich habe es aber geschafft, dieses Werk, so nenne
ich es. Es beschrieb das Auf und Ab unseres gemeinsamen Lebensweges,
und wie oft hatten wir das Glück auf unserer Seite, und wir waren
immer glücklich. Weißt Du, Glück und glücklich
sein ist nicht ein und dasselbe. Du weißt, mein Schatz, was
ich damit sagen will.
Mein
Lieber, in meinen Gedanken bin ich immer bei Dir. Ganz besonders vor
dem Schlafengehen oder wenn ich einschlafen möchte. Ich erlebe
unsere gemeinsame Zeit. Ich bin so nahe bei Dir. Wir sind beide so
jung. Ich kann es nicht glauben. Waren wir die Darsteller in diesem
Werk? Waren wir so jung? Waren wir das, was aus unseren Briefen heute
zu uns spricht? Hatten wir zwei so kleine Kinder, die immer im Mittelpunkt
unseres jungen Lebens standen? Die gesund und lebensfroh in ihr Leben
schritten. Waren wir die Eltern unserer beiden goldigen Kinder?
Wenn
ich dann aus meinen Jugendträumen erwache, dann ist es mir, ein
ganz, ganz kleiner Augenblick ist es nur, und die Wirklichkeit hat
mich wieder eingeholt und mir wird sehr deutlich, daß ich 84
Jahre habe. Die kurze Zeit, die mich in der Vergangenheit leben ließ,
war so schön, so beglückend, das wollte ich mit diesem Brief
sagen. Mit wem könnte ich auch reden, nur mit Dir, gell, mein
Schatz, Du verstehst mich. Schau mal, eben oben das Fragezeichen.
Es verwässerte sich, ich mußte mal eine Pause machen, sonst
wären mehr Kleckse aufs Papier gefallen. Ich will, ich weiß,
ich muß tapfer bleiben, ich will doch das Werk fertig erleben,
und jetzt klingelt das Telefon. Wer will aber mit mir sprechen? Wer
könnte das sein? Also, ganz schnell ein Küßchen auf
Deinen Mund, ich bin nur bei Dir. Ich schreibe Dir bald wieder.
Deine
immerzu an Dich denkende Irene
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