Leseprobe |
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Larissa Dyck, Heinrich
Mehl (Hg.) 33 Zeitzeugen-Erinnerungen |
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Andreas
Weigandt, Enteignet und verbannt [Geboren 1922 in Kutter an der Wolga] Andreas
Weigandt Um die
weiten, wenig bewohnten Landstriche Russlands im 18. Jahrhundert zu
erschließen, warb das russische Zarenreich Fachleute aus Deutschland
an. Wie alle Auswanderer erhofften sich auch meine Vorfahren in der
neuen Heimat ein besseres Leben und reisten von 1764 bis 1767 aus
der hessischen Grafschaft Isenburg-Büdingen an die Wolga aus,
genauer gesagt: in die Kolonie Kutter, ein Dorf an der Bergseite der
Wolga. Ursprünglich nannte sich der Ort Brenning nach dem ersten
Vorsitzenden der Kolonie, Christoph Brenning. Unser Bauernhof Durch viel Fleiß und handwerkliches Geschick kamen meine Vorfahren in Kutter zu etwas Wohlstand. Der Bauernhof unserer Familie umfasste etwa 60 bis 70 Hektar Land. Hinter Bobrowka, sechs Kilometer von unserem Hof entfernt, lagen Ackerland und Heuwiesen. Entlang des Flusses Karamysch zogen sich unsere zwei Hektar großen Obst- und Gemüsegärten. Zur Bewässerung trieben zwei Pferde am Fluss ein acht Meter großes Wasserrad an. Damit die Früchte kurz vor der Ernte nicht noch gestohlen wurden, musste jedes Jahr jemand aus unserer Familie zur Überwachung im Gartenhaus übernachten. Auch unser Haus war umgeben von einem großen Garten, zu dessen Bewässerung ein zehn Meter tiefer Brunnen und vier Regenfässer dienten. Nicht weit vom Brunnen stand ein langer Trog als Viehtränke, und in der Nähe des Eingangstores war die Hütte für unseren Hund »Sowas«. Unser Hof lag an der Hauptstraße und war zur Straße hin 34 Meter breit und 68 Meter tief. Wir wohnten in einem Holzhaus mit einem Blechdach und einem steinernen Gewölbekeller. Die Wirtschaftsgebäude waren aus Holzstämmen und Brettern gezimmert. Auf dem Hof standen außerdem die Ställe, zwei Speicher, ein Backhaus aus Stein und der Brunnen, den wir gemeinsam mit unserem Nachbarn nutzten. Unter einem Wetterdach waren vier Pferdewagen, der Strohschneider, die Kornschwinge, eine Getreidemaschine, Eggen und Pflüge untergebracht. In den Ställen übernachteten vier bis sechs Pferde, vier Arbeitsochsen, zehn bis zwölf Schafe, sechs Ziegen und einige Schweine. In den zwanziger Jahren wohnten auf diesem Hof drei Familien: meine Großeltern, meine Eltern mit uns vier Kindern und die Familie unseres Onkels. Im Sommer nahmen wir unsere Mahlzeiten in einem der beiden Räume des Backhauses ein. Meine Großeltern schliefen im kleinen Zimmer, die beiden anderen Familien im großen. In der Regel arbeiteten die Männer auf dem Feld, die Frauen im Haus. Wenn es an die Aussaat oder Ernte ging, halfen aber auch die Frauen und Kinder mit auf dem Feld. Konnten wir viel ernten, holten wir Verwandte hinzu oder stellten Erntearbeiter ein, die mit Geld, öfter aber auch mit Naturalien bezahlt wurden. Manchmal gingen auch mein Cousin Friedrich und ich mit aufs Feld, vor allem, um in der Mittagszeit auf die Ochsen und Pferde aufzupassen. Jeden Sonntag besuchten wir die Kirche. Im Sommer fuhren die Erwachsenen bereits am Sonntagabend mit zwei oder drei Wagen, die mit Ochsen oder Pferden bespannt waren, aufs Feld hinaus und verbrachten die ganze Woche dort. Dann übernachteten sie in den überdachten Wagen oder auch gleich darunter. Am Freitagabend kehrten alle wieder nach Hause zurück. Im Winter erledigte mein Vater die Schusterarbeiten, Opa und Onkel Adam reparierten das Pferdegeschirr und die Pferdewagen. Onkel Adam betrieb eine Schmiede, in der er die Pferde beschlug und Leiterwagen baute. ... Bettelpfennige »Kollektivierung«
und »Entkulakisierung« waren die Schlagworte in der Landwirtschaft
Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Die Bauernhöfe
wurden zu Kollektiven zusammengelegt, die Bauern enteignet, die stolzen
Großbauern, die »Kulaken«, entrechtet und verfolgt.
In den
Unterrichtspausen teilten die Lehrer oft Brote an die hungernden Kinder
aus. Eine Schulbank vor mir saß ein Junge, dessen Eltern bis
zur Enteignung durch die Kommunisten ein eigenes Geschäft hatten.
Sein Vater war verhaftet worden, die Mutter lebte mit drei Kindern
bei Bekannten. Als dem Jungen in der Klasse ein Stück Brot angeboten
wurde, lehnte er ab: Daraufhin
bestellte der Schulleiter seine Mutter in die Schule und warf ihr
vor, dass sie ihren Sohn gegen die Sowjetmacht stelle. Zu Hause sagte
sie zu ihren Kindern: Bald wurde in Kutter mit dem Aufbau der Kolchose begonnen. Zuerst traten die Bauern ein, die kaum eigenen Besitz hatten, die wohlhabenden Bauern wollten in der Regel nicht Mitglied der Kolchose werden. Da begannen die Bolschewiki mit ihrer gewaltsamen Agitation, der Reihe nach wurden die Grundeigentümer zum Eintritt gezwungen. Wer sich widersetzte, dem wurde zunächst das Wahlrecht entzogen; verweigerte er den Eintritt weiter, wurde er verhaftet, enteignet und zuletzt aus dem eigenen Haus gewiesen. Die Ausgewiesenen mussten in Erdhütten hinter dem Dorf wohnen, die sie selbst ausgruben. Die Bolschewiki
riefen die Bauern immer in der Nacht in ihr Kontor. Für die Kollektivierung
in Kutter sorgte eine Kommission mit deutschen Landsleuten; aus Saratow
und Engels waren zwei Juden dazugekommen. Wir werden enteignet 1929
wurden Großvater und Onkel Friedrich aus unserem Haus in Kutter
vertrieben und in die Erdhütten gebracht. Erdhütten waren
kuppelförmige und etwas in den Boden eingetiefte provisorische
Häuser, deren Gewölbegerüst mit Weidezweigen, Gras
und Erde abgedeckt war. Im Winter 1930/1931 startete die zweite Welle der »Entkulakisierung«. Die Kommission ging nachts mit einer Namensliste durchs Dorf und brachte die Bauern mit Leiterwagen oder Schlitten zu den Erdhütten. In den
frühen Morgenstunden wurden auch wir unsanft geweckt. Die Männer
von der Kommission sagten, dass wir alles anziehen sollten, was wir
nur könnten, der Rest würde konfisziert. Wir vier Kinder
froren und weinten, unsere Eltern auch. Der Kommissions- und Dorfratsvorsitzende,
Andrei Hoffmann, zeigte auf Opas Standuhr in der Sommerküche
und sagte: ...
Mit 60 Kilo Gepäck in die Deportation Am 22.
Juni 1941, ich war gerade auf dem Weg zur technischen Bibliothek in
Sabuntschi, erfuhr ich vom Kriegsbeginn. Gegenüber dem Bahnhof
stand ein Telegraphenmast, an dem ein großer Lautsprecher hing.
Dort versammelte sich eine große Menschenmenge und hörte
einer Radiosendung zu. Ich fragte die Leute, was passiert sei, und
erfuhr, dass der Krieg begonnen habe. Später entstand darüber
ein Lied: Anfang Oktober kamen zwei Männer und eröffneten uns, dass wir Deutsche nach Osten umgesiedelt würden. Jeder dürfe Gepäck mit einem Gewicht von höchstens 60 Kilogramm mitnehmen; den Rest könnten wir verkaufen oder in der Wohnung lassen, da wir in drei bis vier Wochen wieder zurückkommen würden. Erst begriffen wir nicht, was das zu bedeuten hatte, doch bald merkten wir, dass der Vorgang der gleiche war wie bei der »Entkulakisierung« von 1931. Damals gelang es uns noch, nach Baku zu fliehen, doch diesmal konnte niemand entkommen alle Deutschen wurden deportiert. Unsere
Wohnung verkauften, besser gesagt, verschenkten wir für 300 Rubel.
Meine Schulbücher gab ich Mitschülern, die keine Bücher
hatten. Am Vorabend zum 15. Oktober organisierten die Mitschüler
meinen Abschied von der Schule. Wir standen vor der Landkarte, und
mein Klassenlehrer zeigte mir, wohin wir verschickt werden sollten:
nach Zentral-Kasachstan. In Stadtschuhen durch den tiefen Schnee Nachdem wir in Krasnowodsk angekommen waren, fuhren wir in einem Zug mit den berüchtigten »Stolypin«-Waggons. Auf beiden Seiten der Waggons waren breite Türen. Auf den Längsseiten befanden sich Liegen, doch der Platz für die eingepferchten Leute reichte bei Weitem nicht aus. Die gesamte Wagenfläche war belegt, niemand konnte durchlaufen. Wir fuhren mit 50 Personen im 28. von etwa 50 Waggons; so konnten wir uns ausrechnen, wie viele »Helfer« für Kasachstan in diesem Zug transportiert wurden. Der Zug fuhr durch ganz Zentralasien in Richtung Karaganda. Es war schwül und heiß. Auf den Bahnsteigen liefen die Leute am Zug entlang, um abgekochtes Wasser zu holen. Meist hielt der Zug zwischen Güterzügen, weit weg von den Personenzügen, damit wir keine Kontakte zur Bevölkerung aufnehmen konnten. Als wir Orenburg an der Grenze zu Kasachstan erreichten, wurde es kalt, und man stellte Öfen in die Waggons. Für Kleinkinder gab es Töpfchen, doch die Erwachsenen mussten ihre Notdurft draußen verrichten, wenn der Zug hielt, Mann und Frau oft nebeneinander. Oft fuhren die Züge ohne Ankündigung wieder los, wobei es auch zu Unfällen kam. An der Zugstrecke entstanden nicht wenige Gräber deportierter Deutscher, doch niemand ihrer Verwandten konnte sie später je wieder aufsuchen. Bei Osakarowka, in der kahlen Steppe, mussten wir aussteigen. Nach einiger Zeit kamen Pferdewagen, die uns in verschiedene Ortschaften brachten. Meine Familie wurde in das Dorf Skobelewka gefahren und vorübergehend in Erdhäusern der einheimischen Russen untergebracht. Die Neuangekommenen wurden der Reihe nach zum Kolchosekontor gerufen, wo NKWD-Leute in unsere Pässe einen Stempel druckten mit dem Vermerk: Wohnen nur im Rayon Nurinskij des Gebietes Karaganda erlaubt. Wir waren Leibeigene der Sowjets geworden! Am nächsten Tag holten einige Kasachen unser Gepäck mit Schlittenwagen ab, hinter denen wir hergehen mussten. Wir trugen die dünnen Mäntel aus Baku, wo es noch 20 Grad warm gewesen war hier herrschten Temperaturen von 20 Grad minus, und wir gingen in leichten Stadtschuhen durch den Schnee. Ab und zu gab uns Vater einen Schluck Schnaps zu trinken, damit wir nicht so froren. Aber das half wenig. Wir übernachteten im kasachischen Aul, wo uns die Bewohner freundlich mit Tee empfingen. Sie wohnten in niedrigen Lehmhäusern und mahlten den Weizen noch mit der Handmühle. ... [Geboren 1973 in Schtschutschinsk, Nordkasachstan] Oleg
Klatt Wer sich Kasachstan als eine endlose Steppe vorstellt, täuscht sich gründlich. Meine Frau Irina und ich erinnern uns gern an die Landschaft unserer Kindheit: viele Seen, Kiefern- und Birkenwälder und sanft gewellte Berge, meist nur 350 bis 400 Meter hoch. Meine Kindheit verbrachte ich in Stepnogorsk, später zog ich in meine Geburtsstadt Schtschutschinsk zurück, wo ich Irina kennenlernte. Beide Städte liegen im nördlichen Kasachstan, in der Nähe von Kokschetau, nicht weit von Sibirien. Diese
Gegend ist so reizend und für Kasachstan so ungewöhnlich,
dass die Bewohner sogar eine Legende darüber dichteten: Da entschloss sich der pfiffige Aldar-Kose, seinen Landsleuten zu helfen, und schlug Allah vor, mit ihm Verstecken zu spielen. Er bat Allah, einen kleinen Hügel in der Steppe aufzuschütten, damit man sich verstecken konnte. Allah willigte ein und ging an die Arbeit. Bei diesem Ablenkungsmanöver gelang es Aldar-Kose, ein kleines Loch in seinen Sack zu stechen. Als sie zu spielen begannen, hob Allah den Sack hoch, und in die Steppe fielen malerische Berge, bizarre Felsen, smaragdgrüne Wiesen, sprudelnde Bäche und azurblaue Seen. Dichte grüne Wälder bedeckten die Berghänge. Die Wälder füllten sich mit Tieren und Vögeln, die Seen mit Fischen und die Wiesen mit Schmetterlingen, die es sonst in der Steppe nicht gab. So entstand der Legende nach die Gegend Kokschetau, das »Land der blauen Berge«.
Die Sommer waren mit bis zu 37 Grad sehr heiß, ab Juni konnten wir im kristallklaren Wasser der Seen baden und am Strand liegen wie auf der Krim. In sowjetischer Zeit entstanden hier einige Luft- und Schlammkurorte, und auch sogenannte Kumys-Kuren für Herz-Kreislauf-Patienten waren populär. Weniger beliebt waren dagegen die heißen Steppenwinde, die öfter durch Kokschetau fegten. Ihnen sind andererseits auch Naturwunder zu verdanken wie der »tanzende Birkenhain« oder markante Felsen, die an ein Kamel, einen Elefanten oder eine Sphinx erinnern und auch danach benannt wurden. An der Sportschule Die Winter in Nordkasachstan dauerten sechs Monate; meist war die Landschaft herrlich verschneit. Schon als Kind lief ich Ski, wie die meisten Jungen in Stepnogorsk. Ich besuchte eine Sportschule, wo wir von zwei Trainern, die einst selbst erfolgreiche Sportler waren, betreut wurden. Beide Trainer waren große Vorbilder für uns meist streng, aber von fast väterlichem Wohlwollen. Sie formten aus uns eine Mannschaft und sorgten auch dafür, dass die Schule trotz vieler Trainingslager und Wettkämpfe nicht zu kurz kam. Nach der sechsten Klasse zogen wir nach Schtschutschinsk zurück, und ich kam in die Juniorenmannschaft »Freundschaft« der dortigen Sportschule. Skilanglauf und Biathlon bestimmten nun über Jahre mein Leben. Wir trainierten hart zweimal am Tag, das ganze Jahr hindurch. Eine Trainingseinheit auszulassen, kam für uns Sportschüler nicht infrage, die Disziplin im Internat war eisern. Um meine Willenskraft weiter zu festigen, hatte ich ursprünglich vor, an eine »Suworowschule« zu gehen, wo Schüler auf eine spätere Offizierslaufbahn vorbereitet wurden. An der Sportschule merkte ich aber bald, dass mir auch der Sport bei meiner persönlichen Entwicklung half. Auch wenn aus mir kein Spitzensportler wurde, habe ich diesen Schritt doch nie bereut. Während dieser Zeit fuhren wir auch zu vielen Wettkämpfen in verschiedene Teile der Sowjetunion. 1990 kam ich mit der Mannschaft nach Estland und staunte über diese wunderbare geschichtsträchtige Region obwohl ich dorthin ja nicht gerade »aus der Steppe einfiel«: Die Stadt meiner Kindheit, Stepnogorsk, war mit Geldern aus Moskau gebaut und bevorzugt versorgt worden, denn in der Nähe wurde Uran abgebaut. Die Häuser waren modern, die Infrastruktur durchdacht es gab genügend Kindergärten, Schulen oder Krankenhäuser. In den Geschäften konnten wir problemlos Lebensmittel, Elektrogeräte und sogar Kleidung und Schuhe aus Osteuropa kaufen. Für sowjetische Verhältnisse hatten wir einen gehobenen Lebensstandard. Was mich an Estland jedoch verwunderte, war der individuelle Charakter der Region; in jedem Haus, in jeder Straße konnten wir den Atem der Geschichte spüren. In Stepnogorsk dagegen standen die Häuser in Reih und Glied wie aufgestellte Streichholzschachteln. Andererseits empfanden wir die Atmosphäre in Estland auch als frostig und fühlten uns fremd. So etwas waren wir nicht gewohnt: Wir kamen aus einer Stadt, in der Russen, Deutsche, Kasachen, Ukrainer, Polen, Griechen, Koreaner, Tschetschenen und auch Esten zusammenlebten; in Schtschutschinsk stand die Persönlichkeit der Menschen im Vordergrund, nicht die Nationalität. Unsere Mannschaft hieß »Freundschaft«, aber im Estland des Jahres 1990 waren wir nicht mehr willkommen. ... 1990 schloss ich die Schule ab. Ein Jahr später erlangte Kasachstan die Souveränität, womit sich unser Leben vollkommen verändern sollte. Das Wirtschaftssystem der riesigen Sowjetunion erlitt beinahe einen Kollaps. Jeder hatte ums Überleben zu kämpfen, an Skisport war nicht mehr zu denken. Ein Paar Skier kostete jetzt 300 bis 400 US-Dollar, dazu kam die Sportbekleidung und die Ausrüstung. Dieses Geld konnte ich nicht aufbringen; ich musste meine Sportsachen verkaufen und den Sport aufgeben. Immerhin machte ich noch meinen Trainerschein. Meine Eltern hatten sich 1979 scheiden lassen, mein Vater lebte seit 1990 mit seiner zweiten Familie in Deutschland. Als ich wieder Kontakt zu ihm aufnahm, riet er mir dazu, ebenfalls einen Ausreiseantrag zu stellen. Zunächst entschied ich mich aber anders und heiratete 1994 Irina. Unsere Hochzeitsreise führte uns auch nach Deutschland, wo Irinas Verwandte wohnten. Die Reise gefiel uns sehr, eine prächtige Stadt löste die andere ab Alma-Ata, Moskau, Hannover, Hamburg. Trotzdem wollten wir zurück, zu Irinas Familie. Irina hatte drei Geschwister; ihr Vater wollte schon in der Sowjetunion beweisen, dass eine kinderreiche Familie nicht unbedingt eine arme Familie sein musste. Schon in den achtziger Jahren wurden die Unterschiede im Lebensstandard deutlich, bei den Wohnverhältnissen, in der Kleidung und in der Freizeitgestaltung. Im nun unabhängigen Kasachstan der neunziger Jahre schlugen wir uns durch, so gut es ging. Einmal hatten wir 40 Tage lang keinen Strom, Arbeit war rar geworden, der Anblick der heruntergekommenen Menschen, hungernd und schlecht gekleidet, schmerzte uns. Wir betrieben einen kleinen Arzneimittelkiosk auf dem Markt, alle in unsere Familie zogen an einem Strang. Aber als sich unsere Situation auch nach Jahren nicht verbesserte, beschlossen wir doch auszuwandern. Sehnsucht nach glücklichen Tagen Der Beamte im Übergangslager blätterte unsere Papiere durch in meinen stand »Skilehrer« als Beruf und bot uns an, den Wohnort frei zu wählen, ein Privileg. Blitzschnell schoss mir durch den Kopf, nach Süddeutschland zu ziehen. Vor meinen Augen erschienen bereits die verschneiten Alpen, aber gleichzeitig sah ich auch eine Träne an Irinas Wange herunterkullern, denn ihre Familie war ja nach Schleswig-Holstein verteilt worden. Seit 2002 leben wir nun in Eckernförde, einem Kurort, der uns ein bisschen an unsere Heimat erinnert. Hier geht es uns gut, die deutsche Sprache haben wir inzwischen gelernt. Während ich anfangs als Fernfahrer arbeitete, absolvierte meine Frau ihre Ausbildung als Krankenschwester. Nun ist sie berufstätig, und ich beginne eine Ausbildung als Speditionskaufmann. Unsere kleine Tochter Emilie wurde nach wiederholten Tests und erstaunlichen Ergebnissen mit fünf Jahren eingeschult und fühlt sich pudelwohl in ihrer Klasse. Sie liebt das Meer und versucht hartnäckig, schwimmen zu lernen. Mit dem Schnee kann sie allerdings weniger anfangen. Einmal fuhren wir zu Freunden nach Bad Tölz. Beim Aussteigen aus dem Auto rutschte sie im Schnee aus und bemerkte: »Was für ein glitschiger Sand!« Sie ist eben ein Seepferdchen und kein Eisbärchen. In Deutschland könnten wir noch glücklicher leben, wenn die Menschen herzlicher, offener und freigebiger wären; ich finde, dass sie mehr vom Kopf als vom Herzen gesteuert sind. Irina und ich vermissen das südliche sonnige Temperament, das bunte Treiben auf den Straßen, fröhliche Zurufe der Nachbarn, Lächeln, Scherzen, Schenken ohne Anlass. Uns ärgert, dass viele Deutsche das Wort »Russe« automatisch mit »Wodka« verbinden. Weder in unseren Familien noch in unserer Heimatstadt stand das Alkoholproblem je auf der Tagesordnung. Manche Erfahrungen schmerzen so, dass wir an eine Rückkehr denken. Aber auch in der alten Heimat hat sich vieles geändert, wir selbst haben uns verändert. Vielleicht sehnen wir uns aber auch nicht nach einem »glücklichen Ort«, sondern vielmehr nach einer »glücklichen Zeit«. Inhalt Zu diesem
Buch, Erinnerungen an vergessene Schicksale Russlanddeutsche aus dem Wolgagebiet Andreas
Weigandt, Enteignet und verbannt Russlanddeutsche aus der Ukraine Jakob
Klassen, Mit Gottvertrauen durch den Krieg Russlanddeutsche aus dem Uralgebiet Schanna
Hochstetter, Banja, Landhaus und Toyota Russlanddeutsche aus Sibirien Otto
Schall, In der Hölle von Magadan Russlanddeutsche aus Kasachstan und Zentralasien Gertrud
Weigandt, geb. Schall, Die Wölfe heulten Chronologie,
Karten, Kleines Lexikon, Orte, Literatur |
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