Leseprobe


Rüdiger Stüwe
Von Gummibriketts und Heidjern
Geschichten aus der Nachkriegszeit in der Lüneburger Heide (1945-1955)

160 Seiten mit 44 s/w-Fotos, broschiert
Sammlung der Zeitzeugen (69)
Zeitgut Verlag, Berlin
ISBN 978-3-86614-157-5
EURO 12,90



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Geleitwort von Arno Surminski

Je älter wir werden, desto näher rückt die Vergangenheit, tauchen neue Einzelheiten auf, die uns bewegen und die ausgesprochen werden wollen. So ist es kein Wunder, daß Rüdiger Stüwe noch etwas eingefallen ist, was in der neuen Auflage seiner Erinnerungen eines Flüchtlingskindes seinen Niederschlag gefunden hat. Die Anfänge des Heideblütenfestes, Konfirmation in Schneverdingen und die Schulzeit im Hermannsburger Schülerheim sind Ereignisse, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen, aber nun in anrührenden Geschichten wieder auftauchen. Damit ist das Buch über die Nachkriegszeit in der Lüneburger Heide noch etwas umfangreicher geworden.
Rüdiger Stüwe hat ein Kaleidoskop jener Jahre erstellt, die nun allmählich hinter dem Horizont der Geschichte verschwinden. Gut, daß sie auf diese Weise festgehalten werden.
Januar 2009

Flucht und Ankunft in Schneverdingen

Als wir am 12. Februar 1945, dem fünften Geburtstag meines jüngeren Bruders, in Braunsberg (Ostpreußen) plötzlich unsere Sachen packen mußten, ahnten wir nicht, daß unsere Flucht erst 1000 Kilometer westlich, in der Lüneburger Heide zu Ende sein würde und daß zwei von uns dreien erst nach 45 Jahren als Touristen wiederkommen würden. Bei uns einquartierte Soldaten halfen meiner Mutter, die wie ein aufgeregtes Huhn hin- und herlief und in der Aufregung die unsinnigsten Sachen mitnehmen wollte, beim Packen ihres Rucksacks. Wir wurden auf einen Lastwagen verfrachtet, und ab ging es nach Heiligenbeil, wo wir ausgeladen wurden und unser Marsch über das Eis des Frischen Haffs begann. Ich erinnere mich noch, wie ich aufmerksam und ohne zu verstehen zusah, als ein Parteimensch vorne am Eisrand von einem Leiterwagen Kleiderbündel, Stühle, Kisten sowie Wäscheleinen aufs Eis warf. Das geschah, wie ich heute weiß, damit genug Menschen auf den Wagen Platz hatten. So brauchten wir Kinder zum Beispiel nicht die ganze Zeit zu laufen – es waren immerhin rund 20 Kilometer zurückzulegen, sondern durften uns ab und zu in einen der von Pferden gezogenen Wagen setzen.

Als wir das Eis glücklich überwunden hatten, zogen wir über die Frische Nehrung nach der Hafenstadt Pillau. Wir übernachteten in einem der vielen leerstehenden Häuser. Am nächsten Morgen schaffte meine Mutter es, uns trotz des furchtbaren Gedränges an den Kais, bei dem auch Menschen zu Tode kamen, auf einen Frachter namens Rostock zu bringen. Der nahm Kurs auf Dänemark. Dänemark wollte jedoch keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, so daß wir Warnemünde anlaufen mußten. Buchstäblich mit ihren Ellenbogen erkämpfte uns meine Mutter hier den Einstieg in einen Zug nach Hamburg. Bevor es von dort in Richtung Buchholz in der Nordheide weiterging, mußten wir wegen neuer Fliegerangriffe noch einige Stunden in einem Bunker in der Nähe des Bahnhofs ausharren.

Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit setzte sich der mit Flüchtlingen voll besetzte Zug endlich in Richtung Buchholz in Bewegung. Er hielt erst in Soltau. Dort mußten wir aussteigen und auf dem Bahnhof warten, obwohl meine Mutter gerne mit uns in Soltau geblieben wäre. Sie konnte sich in diesem Fall jedoch nicht durchsetzen. Schließlich kam ein Zug, der uns mit den anderen Flüchtlingen nach Schneverdingen brachte. Vom dortigen Bahnhof trotteten wir müde mit unseren Rucksäcken in den »Schneverdinger Hof«. Das war eine Gaststätte nahe des Ortskerns mit einem rückwärtig gelegenen Saal, in dem es gelegentliche Filmvorführungen gab. Dort saßen wir nun, abgespannt und doch hellwach. Alles war gut organisiert. Nach einer Tasse Kaffee für die Erwachsenen, Kakao und Brotschnitten für die Kinder, wurden die Flüchtlinge auf Schneverdingen und die umliegenden Dörfer verteilt. Jede Familie erhielt einen Zettel mit der genauen Angabe ihres neuen Quartiers, wurde von einem Pimpf aus Schneverdingen nach draußen geführt und zu der vorgesehenen Wohnung in Schneverdingen oder zu einem mit Pferd und Wagen bereitstehenden Bauern gebracht.

Zum Schluß saß nur noch meine Mutter mit meinem Bruder und mir in dem großen Saal. Sie hatte sich geweigert, sich auf den für uns bereitstehenden Leiterwagen zu setzen und nach dem Flecken Lünzen bringen zu lassen. Wir kamen aus einer Kleinstadt, und meine Mutter wollte auf keinen Fall aufs Land. Außerdem hatte ich mal wieder Fieber, und hier wäre es sicher einfacher, einen Arzt zu erreichen. Schließlich kam ein Schneverdinger Schuljunge, der uns auf Anweisung des Bürgermeisters zu dessen Großeltern in die Ottostraße in Schneverdingen geleitete. Als wir vor dem Haus standen, ging auch schon die Haustür auf. Heraus kam Großmutter Lührs, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend: »Drei Personen, wie soll das angehen!« Sie brachte uns in einen hinten gelegenen etwa zwölf Quadratmeter großen Raum neben der Küche, mit Blick auf den Hühnerhof. Der Hühnerhof erinnert meine Mutter noch heute an eine Geschichte, die sie immer wieder gern erzählt. Ganz aufgeregt hätte ich eines Tages zu ihr gesagt: »Mutti, Mutti kuck mal, was der Hahn da mit der Henne macht!« Nach einer Denkpause habe sie mir die Antwort gegeben: »Die spielen nur.«

Wir hatten nun also endlich wieder eine Wohnung, mit einem richtigen Bett mit Sprungfedermatratze, die ihrem Namen alle Ehre machte, wenn auch nicht mehr in dem vorgesehenen Sinne; einige Sprungfedern waren hochgekommen, so daß man sich schon halb verrenken mußte, um eine von ihnen unbedrängte Lage einnehmen zu können. Meine Mutter verbrachte die ersten Nächte teilweise sitzend im Bett. Zu unserem Zimmer gehörten außerdem ein Bettrahmen mit Strohsack, eine ausgediente Nähmaschine, die gut als Tisch geeignet war und in Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten beim Essen vor ein Bett geschoben wurde, und ein Kanonenofen. Die Wände waren mit Ölfarbe angestrichen, den oberen Rand verzierte eine Rosenborte, deren Rosen meine Mutter zählte, wenn wir schon eingeschlafen waren und sie traurig dalag. Bei Feuchtigkeit ließen sich gut mit den Fingern Figuren auf die Wände malen.

Unsere Wirtsleute betrieben als Nebenerwerb, wie manche andere Einheimische Schneverdingens, eine kleine Landwirtschaft. Dazu gehörte eine Ackerfläche außerhalb des Ortes, auf der sie Buchweizen und Stoppelrüben anbauten. Diese Rübchen schmeckten nicht schlecht, wie wir bald auf einem Feld unserer Wohnungsgeber feststellten. Wir rieben sie an unseren Hosen blank und nagten uns in sie hinein. Im Stall hielten Lührs eine Kuh und Schweine. Beruflich war Herr Lührs als Heimarbeiter tätig. In seinem häuslichen Arbeitsraum, der Scheune, stellte er Schuhteile für die Schuhfabrik Röhrs her.

Wenn Oma Lührs morgens vom Melken kam, klopfte sie an unsere Tür. Das war für meine Mutter das Zeichen, die Waschschüssel zu nehmen und sich Wasser von der Pumpe in der Küche neben dem Handstein zu holen. Von der Oma bekam sie noch etwas warmes Wasser dazu. Anschließend wuschen wir uns in unserem Zimmer.
Mein Bruder und ich erkundeten die Gegend, oder wir begleiteten meine Mutter bei ihren Bittgängen nach Milch und anderen Nahrungsmitteln in die umliegenden Flecken. Die stereotype Frage der meisten Bauern, wenn sich ihnen Flüchtlinge bittend näherten, lautete: »Wat hebbt ji?« Darauf wußte meine Mutter in der Regel keine andere Antwort als ein bittendes Gesicht zu machen und einen demonstrativen Blick auf die beiden Kinder an ihrer Seite zu werfen. Das nützte, wie auch wir schnell merkten, zum Beispiel in Insel weniger als in Zahrensen.

In den ersten Tagen schlachtete die Oma einmal ein wunderschönes braunes Huhn, wie meine Mutter noch gut erinnert. Das zeigte sie ihr und sagte: »Nun sehen Sie mal, damit müssen mein Mann und ich uns jetzt die ganze Woche quälen.« Meine Mutter schwieg beeindruckt. In unserem Zimmer roch es morgens manchmal verlockend aus der Küche nach gebackenen Buchweizenpfannkuchen, die der Opa gerne aß. Einmal klopfte es, die Oma kam herein und brachte uns einen Pfannkuchen. Der Opa habe Kopfschmerzen und könne heute nicht essen. Wir waren darüber nicht traurig und teilten uns den Pfannkuchen. Einige Tage später fragte ich: »Mutti, wann hat der Opa wieder Kopfschmerzen?«

Eine andere, sicherere Möglichkeit, unsere Nahrung zu ergänzen, bestand manchmal sonntags. Frau Lührs ging jeden Sonntag zur Kirche, während ihr Mann in der guten Stube saß und in der Küche ein Huhn im Kochtopf vor sich hinköchelte. Meine Mutter benutzte dann die Gelegenheit, heimlich etwas Brühe für uns abzuschöpfen...


Otto Baden und Erna Baden an ihrem Milchwagen, vor dem Haus von August Grünhagen und seiner Frau Mariechen in der Ottostraße. Aufgenommen 1945 von Lina Baden, der Schwester Otto Badens. Foto Heinz-Otto Baden

Kibbel-Kabbel, Räuber und Gendarm und Drachenfliegen

Wir konnten damals ungestört auf der breiten Schulstraße spielen und mußten höchstens ab und zu einem Pferdefuhrwerk Platz machen. Bei unseren Spielen kamen wir zwei Kindern der Villenbesitzer näher. Den Jungen, der Arnold hieß und auswärts bei Verwandten lebte, und die älteste Schwester, Erika, die an unseren Spielen nicht interessiert war, lernten wir nicht so gut kennen. Dafür Ilse, die andere große Schwester, umso mehr. Sie rang die meisten von uns nieder und kämpfte bei unseren Spielen, auch beim Fußball, am wildesten, wie ein richtiger Junge. Wenn wir Soldatenspiele spielten, war sie unser Kommandeur und ich einer ihrer Soldaten. »Angetreten«, »Hände an die Hosennaht« und »marsch« hieß es da. Ihre jüngere Schwester, Anneliese, tat mit, wenn auch nur als »Mädchen«. Ein anderes Mädchen, das sich oft an unseren Spielen beteiligte, war Renate aus der Schlüterstraße. Mit ihr verstand ich mich besonders gut. Ich kann mich erinnern, wie sie einmal Fieber bei mir maß. Ich legte mich auf den schneebedeckten Rasen des Hauses gegenüber der Villa, und sie versuchte unter meine Jacke und meine Hemden zu kommen, bis wir durch eine Nachbarin aufgescheucht wurden. Nicht selten saßen wir beide in dem kleinen Häuschen auf dem Horstmannschen Grundstück und erzählten uns was über den Krieg und über unsere Väter. Ich stellte mir oft vor, wie es sein würde, stünde mein Vater plötzlich in der Tür.

Eine der uns verbotenen Lieblingsbeschäftigungen war das Zusehen beim Schlachten von Schweinen und Rindern in der Schlachterei B. schräg gegenüber der Villa. Wir kletterten auf an der Wand gestapelte Zementsäcke und sahen mit einem zwiespältigen Gefühl durch die kleinen vergitterten Scheiben. Ich mußte dem grausamen Tun einfach zuschauen, wobei sich mein Bauch besonders dann abwehrend zusammenzog, wenn ein Rind den Schlag vor den Kopf erhalten hatte, auf den Rücken fiel und mit den Beinen zappelte, während der Schlachter die Halsschlagader durchschnitt und das Blut in einen vom Gehilfen gehaltenen Eimer schoß.

Eines unserer liebsten Spiele, als wir schon in der Gartenstraße wohnten, hieß »Räuber und Gendarm«. Als besonders reizvoll erwies sich dieses Spiel, wenn es langsam dunkel wurde. Die Versteckmöglichkeiten erhöhten sich mit der Dunkelheit drastisch. Sogar der alte Friedhof wurde als Versteck entweiht, umso lieber, weil das mit einem wohligen Gruselgefühl verbunden war. Noch heute, wenn ich die Ost-, die Berg- oder Gartenstraße entlangkomme, fällt mir ein, wie ich mit klopfendem Herzen hinter dieser oder jener Hecke gelegen habe. Einmal lag ich noch lange nach Spielende dort, weil ich nicht mitgekriegt hatte, daß die anderen längst nach Hause gegangen waren. Das Räuber- und Gendarmspiel machte auch deshalb besonderen Spaß, weil wir es mit den Mädchen zusammen spielten.

Das traf seltener beim Kibbel-Kabbel-Spiel zu. Der Kibbel war ein an beiden Seiten von uns angespitztes, etwa zehn Zentimeter langes Holzstück. Der Kibbel wurde zunächst quer über eine in die Erde geritzte Vertiefung gelegt. Dann schleuderte einer den Kibbel mit einem Stock möglichst weit fort. Gelang es einem anderen, den Kibbel aufzufangen, erhielt er dafür 50, 100 oder 150 Punkte, je nachdem, ob er mit beiden Händen, mit rechts oder mit links gefangen hatte. Die weitere Kunst bestand nun darin, den Kibbel, wenn er wieder auf der Erde lag, mit einem breiten Stock oder schmalen Schlagbrett so geschickt an einem Ende zu treffen, daß er ein wenig hochsprang. In diesem Augenblick galt es, mit dem Schlaginstrument wuchtig dagegen zu schlagen, so daß er möglichst weit fortflog. Auch hierbei gab es wieder eine Punktwertung.. Das Spiel fand nicht immer den Beifall der Erwachsenen. In der schmalen Gartenstraße flog durch manchen Fehlschlag der Kibbel in die angrenzenden Gärten. Im Grambeckschen Garten mit den schönen Birnbäumen suchten wir ihn besonders im Spätsommer gern und ausdauernd.

Große Aktivität entwickelten wir auch bei einem der beliebten Versteckspiele. Eins davon löste sicher bei manchem gerade vorübergehenden Erwachsenen bedenkliches Kopfschütteln aus. Zwei von uns blieben am Mal. Der eine nahm den Kopf des anderen zwischen die Beine, so daß der nicht sehen konnte, was um ihn herum vorging, und rieb mit der Faust Kreise auf seinen Rücken. Gleichzeitig mit dem Reiben sagte er feierlich betonend und immer schneller werdend: ”NSDAP – rumbumm.” Bei “rumbumm” bekam das sich bückende Kind eins mit der Faust auf den Rücken. Manchmal tat das ganz schön weh, je nachdem, wer einem gerade im Kreuz saß. Während der ganzen, mehrmals durchgezogenen Prozedur versteckten sich die anderen. Das gebückte Kind mußte sie suchen, und das andere blieb zum Freischlagen am Mal. In manche Gespräche und Spiele von uns hatte sich auch die allgemeine Furcht vor den Russen eingeschlichen.
Ein Spiel begann damit, daß jemand plötzlich rief: »Die Russen kommen!« Nun stob alles in wilder Flucht mit Gekreische auseinander. »Landverteilung« oder so ähnlich hieß ein anderes Spiel, das wir Jungen oft auf dem Schulhof spielten. Ein Viereck wurde auf die Erde gezeichnet. Jeder Mitspieler erhielt davon ein gleich großes Stück. Wer an der Reihe war, mußte einen Fuß in sein Land stellen und gleichzeitig rufen: »Ich erkläre den Krieg gegen (zum Beispiel England).« Wenn er dann mit einem gezielten Messerwurf in das »Land« eines anderen traf, durfte er sich davon ein Stück abschneiden. Die Lage und Größe des abzuschneidenden Stücks hing davon ab, in welche Richtung das Messer wies. Manchmal hatte man nur noch ein so kleines Eckchen Erde, daß man kaum die Fußspitze darin unterbringen konnte. Wer kein Land mehr besaß, war draußen.


Uwe und Heiner Fricke beim Wasserholen, um 1952 in der Harburger Straße, im Hintergrund das Café Maack. Foto Maria Fricke

Ein Spiel, das die Jungen gerne in der Schule spielten, hieß »Judern«. Die Beteiligten stellten sich in zwei Meter Abstand vor eine Wand, und jeder versuchte, einen Pfennig oder Fünfer so geschickt zu werfen, daß er direkt an der Wand lag oder ganz kurz davor. Wer mit seinem Geldstück am dichtesten an der Wand dran war, durfte alles Geld aufsammeln und in seine Hand legen. Dann warf er die Geldstücke in die Luft und bemühte sich, möglichst viele davon mit dem Handrücken aufzufangen. Die dort liegengebliebenen gehörten ihm aber noch nicht endgültig. Er mußte sie nun in die Luft werfen oder von der Hand gleiten lassen, um sie mit einem blitzschnellen Griff, »Ribbel die Katz« würde meine Großmutter dazu gesagt haben, wieder einzufangen. Erst die mit diesem Kunstgriff ergatterten Pfennige gehörten ihm wirklich. Um die bei diesen Aktionen auf den Boden gefallenen Geldstücke durfte sich der zweite Sieger des Spiels in der oben beschriebenen Weise kümmern.

Wenn der Herbst nahte, sahen wir immer häufiger zum Himmel und achteten auf den Wind. Die Zeit des Drachenbaus stand unmittelbar bevor. Jeder machte eine Bestandsaufnahme über sein Taschengeld, und dann ging es los: Holzleisten vom Tischler Meier oder Maack, große Bogen Pergamentpapier und eine Rolle starken Bindfaden von Kolthammer. Zu Hause schlugen wir kurze Nägel so in die Enden der Längs- und der Querleiste, daß die Köpfe noch etwas herausguckten. Sodann wurden die beiden Leisten zu einem Drachenkreuz zusammengenagelt. Anschließend umrahmten wir das Kreuz mit dem Bindfaden, wobei wir uns der vier herausstehenden Nagelköpfe als Fixpunkte bedienten. Am unteren Ende des Rahmens ließen wir natürlich einige Meter Band für den später zu fertigenden Schwanz nach. Nun legten wir den Rahmen mit der Längsseite nach unten auf einen Pergamentbogen, den wir so zurechtschnitten, daß wir die Ränder um den Bindfaden schlagen konnten. Als Klebe diente mit Wasser angerührtes Mehl, das wir unserem Haushaltsvorstand abgehandelt hatten. Jetzt kam die kniffligste Arbeit, die Verbindung des Drachens mit der Bandrolle durch ein an zwei Stellen der Längsseite zu befestigendes ca. 40cm langes Bandstück. Das Band mußte über dem Papier einen Winkel von 90° bilden. Die Spitze dieses Winkels wurde dann mit dem Anfang der Bandrolle verknüpft. War die Arbeit an diesem Haltedreieck beendet, blieb nur noch die Fertigung des Schwanzes. Gleichgroße Zeitungsstücke wurden in regelmäßigen Abständen mit dem herabhängenden Band umwickelt. Wie gut der Schwanz gelungen war, erwies sich erst auf dem Drachenfeld. War er zu kurz und leicht, zog der Drachen unruhig hin und her, war er zu lang und schwer, kam er erst gar nicht richtig hoch.

Nach den spannenden Vorbereitungen warteten wir ungeduldig auf das richtige Wetter. Ein kräftiger Wind hielt uns nicht ab, wenn es nur nicht regnete. Endlich war der große Tag gekommen. Ein neues Abenteuer stand uns bevor. Wir nahmen unseren Drachen an die Kandare und zogen durch das Dorf auf die vor der Bahn in Richtung Osterwald liegenden Stoppelfelder. Ich entsinne mich noch genau an einen dieser Tage. Der Wind blies recht frisch und fegte die Wolken so zusammen, daß genügend Blau zu sehen war. Wir machten uns Gedanken darüber, ob das Band halten würde. Doch die fest in der Hand liegende Rolle und die Erinnerung an die Versicherung des Verkäufers, dies sei wirklich das für unseren Zweck am besten geeignete Material, zerstreuten unsere Zweifel. Der starke Wind hatte übrigens auch einen Vorteil, unsere Drachenpost würde ankommen.

Auf dem Feld angekommen, stellten wir die Windrichtung fest, mein Bruder packte den Drachen an seiner empfindlichen Stelle und schritt mit dem Wind rückwärts, wobei sich die ersten 20 Meter der Rolle, die ich fest umklammerte, abwickelten. Kaum hatte mein Bruder losgelassen, schoß der Drachen hoch, und ich mußte ihm schleunigst mehr Band geben. Dabei tat ich des Guten zuviel, er sackte weg und schaukelte nach unten. Zog ich jedoch wieder etwas Band ein, stieg er hoch und zerrte wütend an seiner Leine. Also gab ich ihm vorsichtig mehr Band, bis schließlich nichts mehr da war in meiner Hand außer dem Holzstück, an dem ich das Band befestigt und dann kunstvoll in Form einer acht darauf aufgewickelt hatte.

Sorgenvoll sah ich auf diese Befestigung und wickelte sicherheitshalber wieder etwas Band auf. Das war nicht einfach, denn der Drachen zog mächtig. Er stand jetzt fast direkt über uns, mindestens so hoch wie der Schneverdinger Kirchturm, zwar nicht wild hin- und herjagend, aber unheimlich ziehend, mit teilweise ruckartigen Bewegungen, als wollte er mir das Ende aus der Hand reißen. Erschreckt rief ich meinen Bruder, der den Griff einen Augenblick mit festhielt und ebenso wie ich von der Kraft dieses Drachens beeindruckt war. Trotzdem wollte er ihn auch mal alleine halten. Zögernd übergab ich ihm das Holz. Kaum hatte ich meine Hände gelöst und mich neben ihn gestellt, da wurde er schon mit einem Ruck nach vorne gezogen und konnte sich trotz allen Stemmens in den Boden nicht halten. Schritt für Schritt nahm ihm der Drachen ab. Mein Bruder befand sich nun schon in einer gefährlichen Rücklage. Das Ganze spielte sich in Sekunden ab. Im letzten Augenblick gelang es mir zuzugreifen und ihn zu unterstützen. Dieser Satan von einem Drachen! Ich übernahm die Verantwortung nun wieder alleine, und mein Bruder stand für alle Fälle bereit, falls das Untier sogar mich ins Wanken bringen sollte.
Wir beschlossen nach einiger Zeit, den Drachen wegen des starken Windes herunterzuholen, bevor er uns abhauen würde. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Mühsam mußten wir ihm Zentimeter um Zentimeter abringen und hatten dabei das ungute Gefühl als würde das Band immer straffer. Zwischendurch gab ich ab und zu wieder etwas Leine, um mich selbst zu entlasten und ihn zu besänftigen. Aber nach solchen Augenblicken erschien es doppelt so schwer, wieder Leine einzuziehen. Trotz aller Mühe hatte ich kaum 20 Meter von dem 80 Meter langen Band geschafft. Wieder zog ich einige Zentimeter mit der rechten Hand herein und begann, mit der linken aufzuwickeln...

Das Weihnachtssingen

Einen sehr wichtigen Platz in unserem Weihnachtsprogramm nahm traditionsgemäß der Weihnachtsbaum ein. Mein Bruder und ich mußten ihn besorgen und am Heiligen Abend aufstellen. 1949 erledigten wir das «Besorgen» auf unsere eigene Art, von der meine Mutter, die uns drei Mark für den Baum mitgegeben hatte, nichts wissen durfte.

«Du kennst doch den Apotheker Krahn», sagte ich kurz vor Weihnachten zu meinem jüngeren Bruder Hartmut. Er nickte. Hermann Krahn hatte in seinem Garten eine kleine Tannenbaumpflanzung, und jedes Jahr vor Weihnachten eröffnete er dort ein kleines Nebengeschäft, das er seinem Sohn Jochen anvertraute. Jochen ging mit mir in die 4. Volksschulklasse. Er war gut in Raumlehre, konnte sehr gut rechnen und lieh mir ab und zu einen Indianerroman oder Tom Prox- und Billy Jenkins–Hefte. Ich wußte, daß Jochen die abgeschlagenen und noch nicht verkauften Weihnachtsbäume abends in einen Gartenschuppen brachte – der nicht abgeschlossen war. Damals war es noch nicht notwendig, überall Schlösser anzubringen. Wir warteten also die Dunkelheit ab, einer stellte sich zur Sicherheit ans Hinterhaus der Apotheke, und der andere holte den Baum.

Unsere Mutter war hocherfreut, obwohl der Baum nicht ganz gerade gewachsen war. Besonders freute sie jedoch, daß wir ihr eine von den drei Mark wiedergaben, weil der Baum nur zwei Mark gekostet habe. Für den Rest hatten wir uns schon mal einen kleinen Vorgeschmack auf den unter dem Weihnachtsbaum zu erwartenden Bunten Teller geleistet.

Mit dem Baum hatten wir leider nicht viel Glück. Trotz aller Bemühungen blieb er etwas wacklig auf dem Fuß. Das wirkte sich sehr ungünstig auf die Weihnachtsstimmung der Familie aus: Mutter hatte uns nach draußen geschickt, weil sie ungestört den Weihnachtsbaum schmücken und die übrigen Vorbereitungen treffen wollte. Als wir erwartungsfroh zurückkehrten, empfing sie uns mit ernsthaften Vorwürfen, die den ganzen Abend über immer wieder aufflackern sollten. Sie hatte bei ihren Vorbereitungen sehr bald bemerkt, daß der Baum gefährlich schwankte und ihn deshalb sicherheitshalber an einen vom Baum verdeckten Schrankschlüssel angebunden. Unglücklicherweise war aber der Schlüssel herausgerutscht, während sie den Baum schmückte. Der Baum fiel um, begrub sie unter sich, wie sie händeringend beklagte.
Hartmut und ich hatten Mühe, uns das Lachen zu verbeißen: Unsere Mutter, den Kopf halb mit Lametta bedeckt, den Weihnachtsbaum mit Weihnachtskugeln und Kerzen auf dem Rücken, verzweifelt unter dem Weihnachtsbaum strampelnd!

Wie immer gingen wir auch an diesem Heiligabend alle gemeinsam in den Gottesdienst. Die Kirche war gerammelt voll und die Weihnachtsstimmung mit den Händen zu greifen. Mutter setzte sich zwischen uns. Nachdem der Gottesdienst begonnen hatte und die üblichen Kirchen- und Weihnachtslieder gesungen wurden, stieß sie mich regelmäßig an und raunte mir zu: «Hartmut singt wieder nicht mit!»
Nun beugte ich mich vor und versuchte, seinen Blick auf mich zu ziehen und ihn durch allerlei Grimassen zum Mitsingen aufzufordern. Nach einer Weile nahm Hartmut meine Bemühungen wahr und tat endlich seinen Mund auf. Doch heraus kam ein derart unmelodisches Geräusch, daß meine Mutter zusammenzuckte und ihn vorwurfsvoll von der Seite ansah. Das genügte, um meinen Bruder den weiteren Gottesdienst über verstummen zu lassen. – Er neigte damals dazu, schnell bockig zu werden, wie unsere Mutter das nannte. – Sie würdigte ihn keines Blickes mehr und schien in ihrem Ärger statuenhaft erstarrt. Ich hatte das Gefühl, als sei sie innerlich auch von mir ein Stück abgerückt.

Mir war das alles sehr peinlich. Ich dachte, jeder in der Kirche hätte unsere Unstimmigkeiten mitbekommen und sähe nun mißbilligend zu uns her. Ich fing an, unter meinem Wolldeckenmantel zu schwitzen, und mir war gar nicht mehr so weihnachtlich zumute. Meine Gedanken und Blicke schweiften umher, und ich begann, die auf einer Tafel vorgegebenen Strophenziffern der zu singenden Kirchenlieder zu addieren.

Endlich war das «O du Fröhliche» verklungen, und auch wir drängten inmitten des großen Besucherstroms aus der Kirche hinaus. Mit unserer Fröhlichkeit war es allerdings nicht weit her. Durch das Verhalten Hartmuts gekränkt, schwieg unsere Mutter auf dem Nachhauseweg beharrlich und wies all unsere Versuche, sie durch freundliche Fragen oder Hinweise zum Reden zu bringen, kurz ab. Ich glaube kaum, daß mein Bruder während des uns lang werdenden Heimwegs gedanklich in so etwas wie einem schlechten Gewissen herumstocherte. Immerhin bemühte er sich, beim Gehen weniger zu schlurfen als sonst.

Zu Hause hatten Großmutter und Großtante schon den Tisch gedeckt. Und jetzt gab es das Festessen, Kartoffelsalat und Würstchen. Ermuntert von unserer Großmutter, «nu iß ma scheen, Jungche», langten mein Bruder und ich kräftig zu und verdrängten dadurch ein aufkommendes mulmiges Gefühl. Vor der Bescherung lag nämlich noch das gemeinsame Absingen von mindestens einem halben Dutzend Weihnachtsliedern. Hartmut und ich – wir mußten damals Klavierstunde bei einem ältlichen Fräulein nehmen, das Gott sei Dank die Hälfte der Zeit über von seiner Katze erzählte – sollten vierhändig am Klavier spielen und möglichst auch dazu singen.

Nach dem Verteilen der Gesangbücher gab es erste Schwierigkeiten. Es war jedes Jahr dasselbe: Unsere Mutter: «Wir singen zuerst ,Süßer die Glocken nie klingen’ auf Seite 63.»
Hartmut: «Bei mir steht das nicht.»
Oma: «Bee mir ooch nich.»
Mutter: «Warum schlagt ihr denn nicht im Inhaltsverzeichnis nach?»
Endlich hatte jeder das Lied trotz der unterschiedlichen Liederbuchausgaben gefunden. Nun war aber noch ein anderes Problem zu klären. Meine Mutter: «Wir singen alle fünf Strophen.»
Meine Großtante: «Bei mir stehen aber nur drei.»
Ich: «Bei mir auch.»
Mutter: «Dann singen wir eben nur drei.»

Nun konnte es endlich losgehen. Bei der zweiten Strophe waren plötzlich unterschiedliche Texte zu hören. Aber auch diese Klippe konnte nach kurzem Disput genommen werden. Jetzt wurden eben die Anfänge der zweiten und dritten Strophe vorm Singen angesagt. Auf diese Weise legten wir unseren kleinen Dissens ganz friedlich und praktisch bei. – Welch ein Fortschritt in nur hundert Jahren, wenn man bedenkt, daß es vor der Wende zum 20. Jahrhundert im Gebiet der Hannoverschen Landeskirche, zu der auch Schneverdingen gehörte, 19 verschiedene Gesangbücher gab, was übrigens zu dem berüchtigten Gesangbuchstreit führte, der damals auch Schneverdingen erschütterte. In Schneverdingen wurde nach dem Bremer-Verdischen Gesangbuch gesungen. Als nun für das ganze Hannoversche Land ein einheitliches Gesangbuch eingeführt werden sollte, gab es erbitterte Kämpfe zwischen den beiden Parteien. In einer Nachbargemeinde Schneverdingens führte dieser Streit sogar soweit, daß sich beide Parteien in der Kirche beim Gesang zu überbrüllen versuchten. Dies ist heute Gott sei Dank nicht mehr die Art, wie man Konflikte löst.
Während des Singens hatten mein Bruder und ich mit einem unbesiegbaren Lachreiz zu kämpfen. Bei unserer Großmutter klang das Gebiß irgendwie metallen mit. Ich hatte immer das Gefühl, als ob dieser Klang meine eigenen Zähne und mein rechtes Ohr gleichzeitig berührte. Die Stimme meiner Großtante dagegen zitterte gemeinsam mit ihrem Unterkiefer. Beide trafen zudem nicht immer den richtigen Ton. Darüber lag ruhig und akzentuiert deutlich die Stimme meiner Mutter, die früher im Kirchenchor mitgesungen hatte und deren Qualifikation für dieses Weihnachtssingen über jeden Zweifel erhaben war. Sie achtete streng darauf, daß alles korrekt zuging und hielt die zu zerfließen drohenden musikalischen Bewegungen zusammen. Aber gerade ihre Ernsthaftigkeit, die in einem sonderbaren Gegensatz zu dem uns komisch erscheinenden Gesang stand, ließ es meinem Bruder und mir sauer werden, Haltung zu bewahren und nicht aus dem Takt zu kommen.
Erst nachdem wir das alles unbeschadet – ohne größere Tadel wegen Verspielens oder nicht genug versteckten Grinsens – überstanden hatten, ging es an die Bescherung und damit zum gemütlicheren Teil.