Leseprobe

Unvergessene Weihnachten. Band 4
Zeitzeugen-Erinnerungen 1922 - 1988

Originalausgabe
192 Seiten mit vielen Abbildungen
und Ortsregister, Taschenbuch.
ISBN 978-3-86614-135-3
4,90 EUR

Leserstimmen »


„Det Christkind is der Palast-Maxe“, Hans Döpping
Der Weihnachtshase, Hilde Flex
Für kurze Zeit dem Krieg entflohen, Waldemar Siesing



Heiligabend 1944 bei den Großeltern von Felicitas Schulz (die Kleine im karierten Kleid). Glücklich über die Geschenke sitzen die Enkelkinder vor dem Tannenbaum und lauschen aufmerksam der Erzählung des Großvaters.


[Berlin; 1954]

„Det Christkind is der Palast-Maxe“
Hans Döpping

Es war in Berlin, wo ich für einige Monate im Außendienst meiner Firma tätig war. Ich hatte ein Zimmer in der Pension von Elisabeth Kopmann, einer resoluten und sehr patenten Frau. Ihr Lieblingsausdruck war: „Ach, Jotte ooch!“, und das drückte ihr großes Erbarmen für alle Welt aus.

Neben mir wohnte Frau Bräutigam, eine junge Lehrerin, die noch auf der Suche nach einer geeigneten Wohnung war. Mit beiden Frauen wechselte ich oft heitere Worte.

In der Zeit vor Weihnachten klopfte Frau Bräutigam an meine Tür. Sie wollte mir etwas zeigen, und so gab sie mir wortlos und lächelnd ein aufgeschlagenes Schulheft und tippte mit dem Finger auf einige Zeilen. Sie waren sauber geschrieben, und so las ich: „Det Christkind is schon älter, hat een Bauch, eene Jlatze, eene joldne Brille un heeßt Palast-Maxe!“

Frau Bräutigam hatte die Kinder ihrer 3. Klasse aufschreiben lassen, wie sie sich das Christkind vorstellen. Dafür durften sie schreiben, wie der Schnabel gewachsen war. So las ich die Zeilen mehrmals, und mein Mund wurde dabei immer breiter. Ich rezitierte gar den Text und lachte Frau Bräutigam an. Dann klappte ich das Heft zu und las den Namen des Besitzers „Willi Stange, Klasse 3“ auf dem Umschlag.

In dem Moment klopfte Frau Kopmann, brachte meine Post und fragte, ob sie mitlachen könnte. So kam es, daß wir bei einer Tasse Kaffee saßen und Frau Bräutigam die Christkindgeschichte erzählte, die sie durch Willis Mutter Liesbeth Stange erfahren hatte:

„Palast-Maxe“ war der ehrenwerte Maurermeister Maximilian Jahne. Er hatte ein arbeitsreiches Leben hinter sich und es zu einigem Wohlstand gebracht. Jedenfalls gehörte ihm ein vierstöckiges Mietshaus. „Un det is mein Juwehl“, pflegte er zu sagen.

So kümmerte er sich auch um dieses gute Stück und hielt Ordnung in allem. An jedem Ersten im Monat klingelte er bei seinen Mietern, kassierte die fälligen Abgaben und quittierte das jedem im Mietbuch. Auch kontrollierte er, ob die Treppe gebohnert und der Flur naß gewischt worden war.
„Un Fahrräder jehörn in’n Keller!“ hatte er angeordnet, „un nich in’n Flur, wa!“ Und weil Jahne auch seinen Stolz über sein Haus zeigte und die Ordnung darin pries, brachte ihm das den Beinamen „Palast-Maxe“ ein.

Liesbeth Stange aber war mit der Miete seit einigen Monaten in Verzug geraten. Sie wohnte mit ihren drei Kindern Horsti, Hildchen und Willichen schon einige Jahre im vierten Stock von Maximilian Jahnes Haus und hatte stets pünktlich bezahlt, was Herrn Jahne zustand. Jetzt aber konnte Liesbeth nicht mehr zahlen, denn das Geld fehlte, weil Berti Stange, Liesbeths Mann und der Vater der drei Kinder, im Kittchen saß. Da konnte er „keene Piepen“ mehr nach Hause bringen. Der „Blödmann“ hatte sich doch „in sein Suffkopp“ zum Mausen verleiten lassen und war dabei erwischt worden. „Denn war er det heulende Elend. Awer da war ’t zu spät.“

Liesbeth bemühte sich nach Kräften, mit den Kindern über die Runden zu kommen, aber das, was sie als Aushilfe beim Pferdemetzger gleich um die Ecke und durch Putzarbeiten verdiente, reichte nicht. – So ein schönes und weites Sozialnetz, wie wir es heute haben, gab es noch nicht. Und Berti hatte noch länger zu brummen. – Nun war Liesbeth schon vier Monate mit der Miete im Rückstand. Der Erste des Monats stand wie ein drohender Riese vor ihr, und das so kurz vor Weihnachten. Jahne würde bald an ihre Tür klopfen, ach du liewer Jott ...

Und dann stand Jahne wirklich in der Tür: ein breiter Kerl mit straffem Bauche, der seine Melone nur in den Nacken schob. Er begrüßte Liesbeth und nickte den Kindern zu. Liesbeth wischte mit der Schürze über einen Stuhl.
Jahne nahm den Hut ab und legte ihn auf den Stuhl. „Ne, lassen Se man, bei Ihn’ n kick ick ma jerne um, ham allens propper. Nu ja, Se wissen ja, weswejen ick jekomm’n bin.“
Natürlich wußte Liesbeth das und sie entgegnete, daß ihr deswegen schon seit drei Tagen schlecht sei.

Nun nahm Jahne doch Platz. Die Kinder standen schüchtern im Zimmer, auf einen Wink der Mutter sollten sie sich verdrücken. Aber Jahne meinte, die sollten auch wissen, was los sei, und er bat Liesbeth, das Mietbuch zu holen. Die junge Frau ging zum Küchenschrank und kramte hinter den Tellern. Jahne wandte sich an die Kinder und versuchte zu ergründen, wer von den Zwillingen Horst und wer Willichen sei. Mit zitternder Hand reichte Liesbeth Jahne das Mietbuch.

Dieser blätterte darin und nickte. „Is ja allet in de Reihe bis dahin, wo Papa uff Reisen jejang’n is. Awer denne is Leere in’t Weltall! Wat mach’n ma nu? – Da schtehn ma nu alle Finfe un ham von Tuten un Blasen kee’n Dunst. Un Schterndaler pinkelt det ooch keene.“

Jahne stand auf und ging einige Schritte auf und ab. „Nu setzen Se sich ooch ma hin, Frau Stange, des beruhicht!“
Dann zückte er kurzentschlossen seinen Füller, setzte sich an den Tisch und quittierte im Mietbuch die rückständige Miete: „Aujust – erhalten, September – erhalten, Oktower – erhalten, November – erhalten, Dezember – ooch erhalten. Na ja, kommt ja bald der Januar – da quittier ick ma eene Vorauszahlung. So, muß noch trocknen, det Märchenbuch.“
Jahne blies auf die Tinte und reichte Liesbeth das Mietbuch zurück. Die starrte auf die Quittungen und war fassungslos: „Herr Jahne, aber Herr Jahne, awer det kann doch nich allens ...“
„Oh, doch“, Jahne putzte seine Brille und hauchte sie an. Er wolle Stanges als Mieter behalten, denn da wußte er, was er hatte. „Eene bessere Mieterin als wie Sie kann sich een Hauswirt jar nich denken. Ick seh det wohl, wie Se Ihre Treppe bohnern. Da jlänzt mir ja de Seele mit, un wenn Se den Flur jemachd ham, denn sin sojar de Bazilln uff Völkerwanderung jejang’n. Det seh ick allens. Und wenn ick de Aborte nachgucke uff de halbe Treppe, denn riech icke förmlich, det Se hier Hand anjeleecht ham. Da kann sojar een Kaiser druffjehn oder ’ne Subrette. Der Herr Berti hat ooch ohne Federlesen zujepackt, wo ’t nötisch war.“ Er lobte auch die Kinder, die immer höflich „Guten Tag“ sagten.
„Also, det is det Eene. Nu ha ick noch wat for euch.“

Jetzt erfuhr Liesbeth, daß Nuschke aus dem Parterre, der so eine Art „Hausknecht“ oder wie die Franzen sagen „Konzieersche“ gewesen war, ausziehe. Da könnten sie einziehen und Frau Stange könne das Regiment übernehmen. Die Miete sei nicht höher als oben und es gäbe noch einen gehörigen Abschlag für die Arbeit. „Bis der Papa von de Montaasche kommt, mogeln mer uns schon durch.“ Auch in seiner Wohnung müsse zweimal in der Woche reinegemacht werden. Sie solle sich das überlegen. Dann wünschte er eine gute Vorweihnachtszeit und verschwand.

Liesbeth Stange saß und starrte vor sich auf den Tisch. Dann verfiel sie in Lachen und Weinen zugleich. Sie drückte die Kinder nacheinander und wischte die Tränen mit ihren Händen in die Schürze. Und dabei soll sie geflüstert haben: „Det war det Christkind, det Christkind war det.“
Wie immer nun das „der kleene Willi“ verstanden hatte, er schrieb es auf: „Det Christkind is schon älter, hat een Bauch, eene Jlatze, eene joldne Brille un heeßt Palast-Maxe.“



Die Familie von Margarete Pinsker (auf dem Schoß des Vaters).
1937 bekam sie einen Puppenwagen geschenkt.

 

 

 

 

 


bei Reichenau, Niederschlesien, heute Polen; Anfang der 40er Jahre

Der Weihnachtshase
Hilde Flex

Es war an einem Heiligabend, als Großmutter nörgelte: „Heute wird’s wieder mal überhaupt nicht Tag. Alles grau in grau.“ Sie war ärgerlich. Zweimal schon hatte sie Großvater zum Frühstück gerufen.
„Ja, ja, ist gut!“ sagte er und ließ sie warten. Es blieb unklar, ob er seine Frau beschwichtigen wollte oder den Hund, den er eben gefüttert hatte. Er strich dem Hund noch einmal über das Fell und band ihm das Halsband um. Die Stubentür klinkte der Hund alleine auf, das konnte er gut. Er war rein närrisch vor Freude, daß es nach draußen ging. Großmutter hörte, wie ihr Mann die Haustür aufschloß. Der Hund schoß in den Garten, drehte sich ein paarmal um sich selbst, lief zum Haus zurück in der Erwartung, Großvater würde ihm folgen. Der winkte ab. Das verstand der Hund. Er verschwand im Nebel.

Da Großmutter einmal beim Nörgeln war, konnte sie nicht aufhören: „Mußt du den Hund dauernd stromern lassen!“
Großvater rückte sich umständlich auf der Ofenbank zurecht, wartete, bis Großmutter Kaffee eingegossen hatte und sagte: „Der geht nicht weit.“

Großmutter bezweifelte das. Als sie vor Jahren beschlossen hatten, einen Hund zu kaufen, hatte Großmutter zur Bedingung gemacht: einen kleinen. Sie hatte dabei so in etwa an einen Zwergrehpinscher gedacht. Dann schleppte Großvater den drei Monate alten Schäferhundwelpen an. Sie hatte sich dagegen verwahrt. Einem kleinen Hund habe sie zugestimmt. Großvater belehrte sie: „Das ist noch ein ganz kleiner. Du wirst dich wundern, wenn der ins Wachsen kommt.“
Das tat sie denn auch.

„Eines Tages fängt er noch an zu wildern“, äußerte Großmutter ihre Bedenken.
Großvater schnitt bedächtig mit dem Taschenmesser die Flechtsemmel in Stücke, die Kruste splitterte. „Mein Hund Mali wildert nicht!“

Großmutter hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. Ihr kam gelegen, daß vor dem Gartentor ein Motorrad hielt. „Der Nachbar bringt die Schlüssel.“ Großmutter war aufgestanden. Über den Gartenzaun hinweg nahm sie dem Nachbarn die Schlüssel ab. „Du hast dich also doch entschlossen, zu den Kindern zu fahren. Das machst du recht.“

„Wenn’s Wetter gerade noch so ist“, meinte der Nachbar, „es kann jeden Tag schneien. Morgen vormittag bin ich zurück. Ich habe am Kaninchenstall die äußere Tür einen Spalt offengelassen, sei so gut und schließ abends ab.“
„Mach ich.“ Großmutter sah ihm nach, bis er hinter der Waldecke verschwunden war.

Während sie in der Küche schaffte, versuchte Großvater im Keller, die krumme Fichte hinzubiegen, damit sie ihm als Weihnachtsbaum keine Schande mache.
„So ein Krüppel“, murmelte er, „wäre ich nur bei Tage in den Busch gegangen oder hätte besser hingesehen.“

Großmutter stand wie erstarrt am Fenster: „Der Hund ...“
Da sah auch Großvater das Unheil. Im Vorgarten tobte der Hund mit einem Fellbündel umher, er beutelte es, schlug es sich um die Ohren, verbiß sich darin. „Jesses!“
Großvater hatte erkannt, daß das verdreckte Bündel, mit dem der Hund sich vergnügte, ein Kaninchen war.
„Von wegen, der wildert nicht“, schlußfolgerte Großmutter.
Großvater sperrte den Hund in den Schuppen. Das tote Kaninchen wollte er auf den Küchentisch legen.
„Um Himmelswillen!“ entsetzte sich Großmutter. „Es kann doch tollwütig sein!“ Sie packte alle greifbaren Zeitungen darunter.
„Nee“, behauptete Großvater, „tollwütig ist das nicht. Es ist der Zuchtrammler vom Nachbarn.“

Er hatte die Tätowierung im Ohr erkannt. Da war guter Rat teuer. Stumm saßen sie zu beiden Seiten des Tisches, zwischen ihnen – ebenso stumm – lag der Weihnachtshase. Da hatte ihnen der Nachbar Hab und Gut anvertraut und ausgerechnet durch sie kam er um seinen besten Blauen Wiener. Wie sollten sie ihm das nur beibringen?

Sie konnten sich ja mit dem Hund herausreden, aber das machte den Kaninchenmord nur noch komplizierter. Inzwischen hatten sie sich überzeugt, daß am Kaninchenstall außer der äußeren Tür auch die Tür zur Box offenstand. Die Box war leer. Wie denn auch nicht!
„Was mußtest du dem Hund beibringen, Türen zu öffnen“, warf Großmutter ihrem Mann vor.
„Hab’ ich nicht, da ist er von ganz allein drauf gekommen“, verteidigte sich Großvater.
„Mit meinem Rehpinscher wäre uns das jedenfalls nicht passiert!“ Diese kleine Genugtuung gönnte sich Großmutter.

Dann hatte sie eine Idee. Sie gingen ans Werk. Sie wuschen und putzten und striegelten das verschmutzte Kaninchen, das unter der derben Behandlung des Hundes arg gelitten hatte. Es war eine üble Tätigkeit, die Großmutter zweimal unterbrechen mußte.
Es begann zu dunkeln, als sie den Stallhasen zurücktrugen und ihn vorsichtig in seine Box setzten. An die hintere Wand gelehnt, den Kopf manierlich auf den Vorderpfoten, schien es, als blicke er dem Betrachter entgegen.

Am Abend hielt Großmutter dem Hund einen längeren Vortrag. Da sie dabei aber mit seiner Heilig-Abend-Leberwurst fuchtelte, wedelte er freudig mit dem Schwanz. Seine Welt war in Ordnung.
Über Nacht hatte es geschneit. Gegen Mittag sah Großmutter den Nachbarn kommen, hörte, wie er vor der Haustür den Schnee von den Füßen trat. „Karl!“ rief sie und dieser kam auch sofort. Er ließ sich in der Küche auf einen Stuhl fallen.

„Ich brauch’ einen Schnaps!“ stöhnte er. Nach dem dritten war er endlich in der Lage, über das zu sprechen, was ihn hergetrieben hatte. „Ihr werdet es nicht glauben, das kann auch kein Mensch verstehen! Gestern ist mir mein Zuchtrammler eingegangen, und ich habe ihn, ehe ich weggefahren bin, schnell noch vergraben. Unter den Johannisbeerbüschen. Und heute morgen – ja, bin ich denn noch normal?! – heute morgen sitzt er wieder im Stall!“

Jetzt brauchten auch Großvater und Großmutter einen Schnaps. Ihnen wurde schlagartig klar, daß der Hund das tote Kaninchen ausgebuddelt hatte und daß sie beide den schon begraben gewesenen Blauen Wiener geputzt und gestriegelt hatten. Großmutter mußte sich zurückziehen. Ihr wurde übel.

Als der Nachbar zwischen Korn und Bier Luft holen konnte, fuhr er fort: „Aber das ist ja noch nicht das Schlimmste! Der Kerl hat auch noch abgeschlossen hinter sich! Die Box war zu.“
„Na ja“, meinte Großvater bedächtig, „wir sind in den Zwölfnächten, da geschieht schon manchmal Wunderliches, aber ...“ Er kam an diesem Weihnachtsfeiertag nicht mehr dazu, weitere Erklärungen zu geben. Die Flasche mit dem Korn war leer und der Nachbar voll.


südlich von Leningrad, Rußland– Obornik, Kreis Posen,
Dezember 1942

Für kurze Zeit dem Krieg entflohen
Waldemar Siesing

...Ab Ostern 1942 war ich Panzergrenadier in einer Panzerdivision am Mittelabschnitt der Ostfront, bei der ich bis zum Ende des Krieges diente. Bis Dezember 1942 wurde ich dreimal leicht verwundet. Ein sogenannter Heimatschuß war nicht dabei. Ich blieb jedesmal bis zur Genesung beim Kompanietroß.

Doch an jenem 11. Dezember 1942 war alles anders. Ich gehörte zu einem Spähtrupp, der bei anbrechender Dunkelheit einen speziellen Auftrag zu erfüllen hatte: ein zwischen den Hauptkampflinien liegendes flaches, langgestrecktes Gebäude, das vor dem Krieg wahrscheinlich eine Kolchose gewesen war, für einen vorgeschobenen Posten der Artillerie zu erkunden. Es herrschte eisige Kälte. Wir waren bereits auf dem Rückmarsch, als wir entdeckt wurden und ich einen Schußbruch des rechten Unterarmes erlitt. Im Kompaniegefechtsstand wurde ich von den Sanitätern notdürftig verbunden und von dort mit zwei anderen Leichtverletzten auf einem großen Schlitten, der von Panjepferden gezogen wurde, zum Verbandsplatz in Marsch gesetzt. Wir hatten wenigstens fünf Kilometer zurückzulegen, und es herrschte ein kräftiger Schneesturm. Zum Glück besaßen wir genügend Decken zum Wärmen. Während der Fahrt wurde kaum ein Wort gewechselt, jeder hing seinen Gedanken nach. Wir hatten sicher auch ein wenig Angst, daß sich der Fahrer des Schlittens in der Dunkelheit verirren könnte. Schmerzen spürte ich nicht, die Anspannung war wohl noch zu groß. Ununterbrochen zogen pfeifend Granaten über uns hinweg, während das Maschinengewehrfeuer der Russen langsam nachließ und bald völlig verstummte.

Auf dem Divisionsverbandsplatz nahm sich in einem großen Zelt ein junger Arzt unserer Wunden an. Wir wurden neu verbunden, wonach ich einem LKW zugeteilt wurde, der Verwundete zum Hauptverbandsplatz brachte. Die zwei anderen, die mit mir gekommen waren, blieben bei der Division. Langsam stellten sich bei mir auch Schmerzen ein.

Noch vor dem Morgengrauen ging die Fahrt mit dem LKW weiter...
Auf dem Hauptverbandsplatz angekommen, wurden wir dem Arzt vorgestellt. Nach einer warmen Mahlzeit ging es gleich zum nahegelegenen Bahnhof, wo schon ein Lazarettzug bereit stand. Nach einer Tagesreise wurden wir in Posen ausgeladen und mit Lastwagen in die umliegenden Lazarette gebracht. Ich kam ins Schloß Obornik. Rot-Kreuz-Schwestern führten uns zum Duschen und übergaben uns saubere Tagesbekleidung und Schlafanzüge für die Nacht.

Mein Krankenzimmer empfing mich mit einem kleinen Tannenbaum auf einem der beiden Tische. Große Fenster ließen viel Licht herein, und alles wirkte sehr hell und freundlich. An der Fensterseite standen sechs Betten, dazwischen je ein Stuhl und eine kleine Kommode. Das Bett am äußersten Fenster war frei, denn es hing kein Namensschild am Fußende. Kurz nachdem ich das Zimmer betreten hatte, kamen auch die Kameraden. Alle hatten einen Arm verbunden, also war kein Schwerverletzter unter ihnen.

Nach der Begrüßung wurde ich von einer Schwester zum Stabsarzt begleitet. Jeder Neuankömmling mußte sich einer nervenstrapazierenden Befragung durch den Arzt unterziehen, wobei ein Soldat fast alles, was gesagt wurde, mitschrieb. Zum Schluß behandelte der Arzt meine Wunde, und mein Arm kam in Gips. Dann durfte ich gehen.

Der Verbandsraum lag im Parterre, mein Zimmer aber im zweiten Stock. Später stellte ich fest, daß die gehbehinderten Soldaten im Parterre und im ersten Stock untergebracht waren, während alle anderen im zweiten Stock ihre Bleibe hatten. Auf dem Weg durch die langen Flure sah ich mehrere festlich geschmückte Tannenbäume stehen, die dafür sorgten, daß allmählich weihnachtliche Stimmung aufkam.

Die Kameraden nahmen mich sehr freundlich auf. Sie erklärten mir, wie ich mich zu verhalten hätte, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Als ich mich ins Bett legte, mußte ich feststellen, daß es durch das Fenster erbärmlich zog. Das war aber auch schon der einzige Negativpunkt meines Aufenthaltes im Lazarett Obornik. Weit weg von todbringenden Geschossen fand ich hier einige Zeit Ruhe und konnte dem Weihnachtsfest entgegenschlafen.

Ich erinnerte mich an die Weihnachtstage des vergangenen Jahres, die ich in Perwomeisk in der Ukraine verbracht hatte. Mal sehen, dachte ich, wie es hier werden wird. Noch waren zwei Tage Zeit, um in irgendeiner Form aktiv an der Gestaltung der Festtage mitzuwirken. Päckchen und Briefe waren schon eingegangen. Ich wußte, daß ich keine Nachricht von zu Hause erwarten könne, denn ich bekam erst am 23. Dezember die Möglichkeit, meiner Mutter zu schreiben und meinem Vater, der als Küchenfeldwebel in einem Fernaufklärungsgeschwader im Norden Rußlands stationiert war, meine neue Anschrift mitzuteilen. Da mir der Gipsverband einige Schwierigkeiten bereitete, half mir eine Rotkreuzschwester dabei.

Am Heiligabend wurde es dann doch sehr feierlich, als der Weihnachtsmann unser Zimmer betrat, sich ein Gedicht aufsagen ließ und danach kleine Päckchen verteilte. Im Radio gab es Grußsendungen aus der Heimat, und Wilhelm Strienz sang altvertraute Weihnachtslieder. Mein Bettnachbar, dessen Eltern in Rumänien zu Hause waren, hatte auch keine Post erhalten. Die vier anderen Kameraden gaben uns aus ihren Päckchen von den süßen Grüßen aus der Heimat selbstverständlich etwas ab. Vor dem Einschlafen erzählte jeder von seiner Familie, wie er die Weihnachtstage einst in friedlicher Zeit verbracht hatte. Manche Träne wurde unter der Bettdecke heimlich weggewischt. Es war eine besinnliche Nacht, eine tief im Herzen ruhende Stille, die ich nie vergessen werde.

Zwei Tage nach dem Fest geschah ein Wunder: Plötzlich stand ohne Voranmeldung meine Mutter im Zimmer. Erst glaubte ich zu träumen, denn von Tagträumen ließ ich mich oft und gern aus der rauhen Wirklichkeit entführen. Aber meine Mutter war tatsächlich hier, ich spürte ihre Hände und den Begrüßungskuß und hörte immer wieder ihre leisen Worte: „Mein Sohn, mein lieber Sohn!“

Neben ihr stand eine junge Nachbarin aus Magdeburg, die als Nachrichtenhelferin in Posen stationiert war. Nach dem Erhalt meiner Post hatte meine Mutter alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mich im Lazarett besuchen zu können. Die Nachbarin hatte ihr beim Auffinden des Lazaretts und bei der Quartierbeschaffung geholfen. Jetzt waren beide Frauen bei mir. Mein Herz wagte kaum zu schlagen vor Freude, ich war wie benebelt vor Glück, hatte ich doch plötzlich meinen Zimmerkameraden so vieles voraus.

Meine Mutter brachte Stollen, Strümpfe und Handschuhe mit und übergab mir Briefe von meinem Bruder, den Verwandten und den Freunden, die noch nicht eingezogen worden waren. Der lange Brief meiner Cousine ist mir bis heute in Erinnerung. Sie hatte von den vielen Kaspertheateraufführungen geschrieben, die wir besonders zu Weihnachten im Familienkreis veranstaltet hatten. Die Gegenwart verblaßte im Angesicht von so viel Freude.
Unter den Briefen war auch eine traurige Nachricht: Ein ehemaliger Klassenkamerad war gefallen. Schlagartig wurde ich daran erinnert, daß noch immer der Krieg tobte und ich nur für kurze Zeit der Front entkommen war. Als wir drei dann im Garten spazierengingen und den mit wenigen Kugeln geschmückten Tannenbaum am Toreingang bewunderten, waren alle Daheimgebliebenen in Gedanken bei uns.

Nach zwei Tagen hieß es Abschied nehmen. Lange Zeit stand ich noch am Tor dicht neben dem Tannenbaum und winkte meiner Mutter nach. Als sie schon um die Ecke gebogen war, kam sie noch einmal zurück, um ein letztes Mal zu winken. Sie war weit genug weg, um meine Tränen nicht sehen zu können. Oben im Zimmer schaute ich hinter dem Fenster noch lange den tanzenden Schneeflocken zu, wie sie Mutters Fußspuren nach und nach zudeckten. Damit hatte sich Weihnachten 1942 von mir verabschiedet.

Ende Januar 1943 wurde ich wieder kriegsverwendungsfähig geschrieben. Ich nahm meine inzwischen von den Schußlöchern ausgebesserte Uniform aus dem Schrank und fuhr Anfang Februar zu meinem Ersatztruppenteil. Es sollten noch etliche Weihnachten vergehen, bis ich im Dezember 1949 endlich aus russischer Gefangenschaft entlassen wurde und das Fest wieder mit meinen Lieben zu Hause feiern konnte.

zurück >>