Leseprobe

Kai von Westerman
Letzte Bilder von der Mauer
Reportage 1989
Berichte aus zwei verschwundenen Ländern
368 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-86614-170-4

Euro 12,90


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23. Oktober 1989 – Leipzig

Es ist dunkel. Das Sucherbild ist nur schemenhaft. Ich öffne mein linkes Auge und peile am Kameraobjektiv vorbei auf den Mann vor mir. Zwischen uns ist ein knapper Meter Abstand. Ich korrigiere die Entfernungseinstellung. Links von mir steht Wilhelm. Er beobachtet die zappelnden Zeiger auf der gelblich glimmenden Tonpegelanzeige am Kameragehäuse. Rechts von mir steht Bertrand. Wir sind mittendrin in der Menschenmasse. Es ist eng. Ich muss aufpassen, dass ich das Hinterteil der schweren Kamera auf meiner Schulter niemandem vor den Kopf knalle.

Bertrand fragt den Mann aus der Menge: „Okay dann, können Sie uns erklären, warum Sie sind hier heut’ abend?“

Spätestens Bertrands französischer Akzent verrät, dass wir aus dem Westen sind. Die Umstehenden drängen sich an uns heran. Alle wollen hören, was der Mann antwortet. Bertrand beugt sich nervös nach vorne. Sein Schatten fällt auf das Gesicht des Mannes und nimmt mir das letzte Licht! Nur weil eine Straßenlaterne in der Nähe leuchtet, drehen wir das Interview an dieser Stelle.

„Bertrand! Du stehst im Licht! Kopf weg!“

Die Leute um uns herum sind gut. Sie ziehen Feuerzeuge aus den Taschen und leuchten mir damit. Einige haben Kerzen. Immer, wenn eine Flamme erlischt, zündet ein anderer eine neue an. Die denken mit. Wir sind Komplizen. Wir verstoßen gegen die Gesetze der DDR.

„Wie lang, glauben Sie, es wird weitergehen?“ fragt Bertrand den Mann aus der Menge.

Es kann doch nicht sein, dass die uns nicht bemerkt haben. Oben auf einem der Hausdächer, an der Ecke, steht eine schwere Kamera mit riesigem Objektiv und späht auf den Platz herab. Die Kamera schwenkt und neigt sich ferngesteuert. Das habe ich gesehen. Ihre riesige Frontlinse lässt ein lichtstarkes Objektiv vermuten. Damit kann man in längster Teleeinstellung mühelos vom sechsten Stock aus ein Gesicht in Großaufnahme aus der Menge fischen.

Ich habe einmal eine Übung der Bereitschaftspolizei in Unna gedreht. Da stoßen drei Mann als Greiftrupp mitten in die dicht gedrängt stehenden Demonstranten hinein und holen eine bestimmte Person heraus. Das geht Ruckzuck. So schnell kann man gar nicht gucken. Innerhalb von Sekunden ist die Person gefesselt und abgeführt. Das können die hier bestimmt auch.
Ich höre Bertrands nächste Frage an den Mann vor uns: „Und vertrauen Sie diese neue Regierung?“

Wenn die uns verhaften, holt mich die Bundesregierung bestimmt hier raus... – oder die französische Regierung. Schließlich bin ich für das französische Fernsehen hier.

Bertrand fragt: „Aber seit einer Woche – sagen wir – es gibt schon Fortschritte, oder?“

Der Mann antwortet besonnen. Er spricht ruhig. Die Leute nahebei lauschen konzentriert. Tausende drängen sich auf dem Platz vor der Nicolaikirche und demonstrieren, obwohl das verboten ist. Warum sollten ausgerechnet wir verhaftet werden? Sie würden uns aus dem Land werfen. Das war’s dann. Ende der Geschichte. Auftrag nicht erfüllt. Nein, die dürfen uns nicht erwischen.

„Okay, fragen wir noch jemand“, sagt Bertrand.

Wir schieben uns zwischen den Demonstranten hindurch in den Lichtkegel der nächsten Straßenlaterne.

„Eh, seid ihr aus’m Westen?“, ruft einer sächselnd.

„Französisches Fernsehen“, brummt Wilhelms Bass.

„Barläh wuh frongsäh?“, johlt ein Leipziger.

Die haben keine Angst. Die haben einfach keine Angst.Wahrscheinlich hat das Hotel unseren Ost-Berliner Mietwagen mit Typ, Farbe und Kennzeichen sofort der Staatssicherheit gemeldet. Vielleicht wartet neben unserem Parkplatz schon die Volkspolizei?

Das Ganze hat völlig harmlos angefangen, aber jetzt ziehen sich die Geschehnisse zusammen.

***

Wir fahren durch die Nacht zurück nach Ost-Berlin. Bertrand hat gesagt, wir sollen Bescheid geben, wenn wir fünfzig Kilometer hinter Leipzig sind. Seitdem sagt er nichts mehr. Wilhelm sitzt am Steuer unseres gemieteten VW-Golf. Noch hundertsechzig Kilometer. Ist er nicht müde?
Wir kennen uns kaum. Wir arbeiten zum ersten Mal zusammen.

„Unglaublich“, sage ich.

„Was?“, fragt Wilhelm. Er ist hellwach, zum Glück.

„Diese ganze Geschichte.“


 

Kai von Westerman,
geb. 1960 in Tübingen.
Die Eltern - der Vater war Offizier, die Mutter Werbegrafikerin - mussten mit ihrem Sohn und seinen Geschwistern oft umziehen. Kai von Westerman besuchte das Vinzenz-Pallotti-Kolleg in Rheinbach bis zum Abitur. Seit 1988 arbeitet er als freiberuflicher Kameramann. Mit Frau und Sohn lebt er in Bonn.