Leseprobe |
Ein
Hesse setzt sich durch Broschiert, 160
Seiten |
Leseproben aus »Ein Hesse setzt sich durch« Vorwort
Vorwort Dieses Buch soll weder eine spektakuläre Lebensbeschreibung noch ein spannender Roman sein. Ich habe die Erlebnisse niedergeschrieben, um mich noch einmal an die Zeit zu erinnern, in die ich hineingeboren wurde und die zunächst voller Erwartungen, Hoffnungen und Abenteuer schien. Doch die damaligen Ziele erwiesen sich als riesige Enttäuschung, als ein Irrtum voller Schrecken. Vielleicht habe ich auch erst jetzt den Mut gefunden, wieder in die Vergangenheit einzutauchen. Je mehr ich mich deshalb zurückversetzte, um so deutlicher traten die Bilder hervor. Mir wurde klar, wieviel Schreckliches und Unmenschliches ich als junger Mensch verkraften mußte. Zeitweise war wie für viele Millionen andere Menschen auch jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Ich
will meinen Nachkommen einen ungeschminkten Eindruck von der Zeit vermitteln,
die wir durchleben mußten. Sie sollen es nicht nur durch ihre
Lehrer vermittelt bekommen, die es wiederum auch nur durch ihre Lehrer
und durch Lektüre erfahren haben wenngleich ich deren Bemühen,
der Wahrheit nahezukommen, nicht in Abrede stellen möchte. Fritzlar,
im Juli 2004 Väterliche Strenge (...) In einer der Schubladen dieses Schränkchens bewahrte unsere Mutter ihr »Klimpergeld« auf. Daraus hatte ich einmal zwei Pfennig genommen und mir davon Himbeerbonbons gekauft. Nachdem ich sie gerade genüßlich gelutscht hatte, verlangte meine Mutter gebieterisch, ihr die Zunge herauszustrecken. Sofort stellte sie fest, daß sowohl die Farbe als auch der Geruch von Bonbons stammten. Als sie daraufhin fragte, woher ich dieselben hätte, versuchte ich es zunächst mit einer Notlüge und behauptete, Frau Wiegand, die ein Lebensmittelgeschäft besaß, hätte sie mir geschenkt. Davon kam ich jedoch schnell wieder ab, da meine Mutter sofort meine älteste Schwester Lilli aufforderte, mit dem Rad zu Wiegands Geschäft zu fahren und meine Aussage zu überprüfen. So kam der Tatbestand ans Licht. Mit der abschließenden Bemerkung meiner Mutter »das sage ich dem Vater, wenn er heute abend nach Hause kommt« war mein Schicksal für diesen Tag besiegelt. Meine Mutter hätte die Sache sofort mit dem Kochlöffel erledigen können, wie sie das bei kleineren Vergehen zu tun pflegte, aber bei diesem »Verbrechen« war sie dazu nicht bereit. Es folgte der längste Nachmittag meines Lebens. Mal wünschte ich mir, der Abend käme nie, dann wieder sehnte ich ihn herbei, damit die Sache überstanden war. Schließlich ertönte der markante Pfiff meines Vaters, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Nach der Tracht Prügel mußte ich ohne Abendbrot sofort ins Bett, aber das machte mir nach der vorangegangenen Tortur fast nichts mehr aus. Jener Pfiff unseres Vaters war immer das unbedingte Signal für uns Kinder, sofort nach Hause zu kommen. Befanden wir uns an hellen, lauen Sommerabenden auf unseren Lieblingsspielplätzen, dem Zimmerplatz oder dem Sägewerk Viereck direkt gegenüber unserem Haus zwischen den gestapelten Brettern, vor allem im Sägespänschuppen ließ sich herrlich Versteck spielen , und waren wir nach dem Pfiff nicht innerhalb von zwei Minuten zu Hause, mußten wir Prügel befürchten. Meistens riefen wir deshalb schon von weitem: »Wir kommen, wir kommen!« (...) Mein
Vater Hermann Müller auf dem Kutschbock des Wassertankwagens. Da
es auf dem Farmgelände kein Leitungssystem gab, mußte das
Wasser per Wagen zu den einzelnen Tränken befördert werden. Das Leben auf dem Hof Jeder von uns hatte eine wöchentlich wechselnde Aufgabe. Wir schafften Holz und Kohlen in die Küche, morgens brachten wir die Asche nach draußen und machten den Herd sauber. Jeden Abend holte jemand Milch bei einem Landwirt im Dorf, samstags wurden die Kellertreppe und die Treppe zur Haustür gewischt, außerdem die Schuhe geputzt und der Hof gekehrt. Manchmal schickte uns unsere Mutter mit Einkaufskörben auf die Wiesen am Strebelsberg, um Nüßchen, also Feldsalat, zu stechen. Auf den kalkmergelhaltigen Böden wuchs dieses »Unkraut« sehr gut, so daß wir zu viert meistens bald eine gute Mahlzeit für die Großfamilie gesammelt hatten. Eine relativ leichte Aufgabe war es auch, Meerrettich auf den feuchten Stellen im Hühnergarten auszugraben. Zum Heidelbeeren- oder Hagebuttenpflücken geschickt zu werden, fiel uns Jungen schon schwerer. Die anschließende Arbeit für die Frauen, wenn die Hagebutten aufgeschnitten und ausgekratzt wurden, war mit noch mehr Mühe verbunden, besonders wegen der vielen juckenden Härchen an diesen Früchten! Allerdings war die so entstehende Hagebuttenmarmelade der leckerste Brotaufstrich, den wir kannten.
Mit dem Ausbau der Geflügelfarm wuchs auch die Familie. Die ersten vier Kinder der Familie Müller posieren im Hühnerauslauf der väterlichen Geflügelfarm: Wolf, Rex, »Waldi« und Lilli (von links nach rechts). Je
nach Jahreszeit hatten die Frauen und Mädchen alle Hände voll
zu tun, um die Versorgung zu regeln, manchmal sogar über mehrere
Tage hinweg. Da war beispielsweise die Bohnenverwertung. Körbeweise
wurde das zarte, grüne Erntegut gewaschen, man schnitt beide Enden
der Bohne ab und zog die Fäden ab. Danach wurden alle Bohnen per
Hand später mit einem kleinen Maschinchen in schräge,
gleichmäßig dicke Scheiben geschnitten, anschließend
mit Salz vermischt und in große Steinguttöpfe so fest eingedrückt,
daß immer eine dünne Salzlake darüberstand. Später
legte man Bretter und Steine obenauf, das Ganze wurde ständig überprüft
und saubergehalten. Ein ganz ähnliches Verfahren wurde bei der
Sauerkrautzubereitung mit Weißkohl angewandt. Bei unseren Spielen in Wald, Feld und Flur begleiteten uns unsere Hunde. Hier »umarmt« mich unsere Dogge Cäsar. Einmal
stromerte ich hinter der gebückten Kolonne herum, suchte nach Mäusenestern
oder beobachtete die Pferde, die jedesmal vorbeikamen, wenn eine neue
Reihe umgebrochen wurde. Da entdeckte ich eine der aus meiner damaligen
Perspektive älteren Frauen, deren schwarze Wollstrümpfe oberhalb
der Knie endeten und von Weckringen gehalten wurden. Ich war neugierig,
was sich oberhalb der Weckringe verbergen könnte, pirschte mich
heran und schaute nach oben. Fast hätte ich einen lauten Schreckensruf
ausgestoßen. Ich taumelte zurück und mußte mich erst
einmal auf einem Kartoffelsack ausruhen. Was ich gesehen hatte, war
zu entsetzlich; es sah aus wie eine lange, blutrote, offene Wunde. Mußte
die Frau nicht sofort ins Krankenhaus gebracht werden, um die Wunde
nähen zu lassen? Würde nicht eine entstellende Narbe entstehen?
Lagerführer in Groß-Gurek und Deutsch-Rogau (...)
Beim Reichslanddienst-Lehrhof in Deutsch-Rogau handelte es sich um einen
1200 Hektar großen Gutsbetrieb, der zum HJ-Gebiet Köln-Aachen
gehörte. Etwa ein Drittel der Teilnehmer stammte jedoch aus dem
Gebiet Westkurhessen. Alle Lagerangehörigen aus dem Gebiet Köln-Aachen
stammten aus der Umgebung von Düren, Erkelenz und Hückelhoven.
Die Arbeitskräfte des Betriebs waren zumeist polnische Gespannführer
und Tagelöhner. Wir waren insgesamt zwanzig Mädchen und zwanzig
Jungen und wurden, getrennt nach Geschlechtern, in zwei Baracken untergebracht.
Unser Lagerführer war Berufsjugendführer, der Verwalter ein
verwundeter Wehrmachtsunteroffizier; auch er hatte einen Arm verloren.
Bei feierlichen Anlässen trug er mit Stolz das Eiserne Kreuz Erster
Klasse auf seinem Abendanzug.
Pause während eines langen Arbeitstages auf dem Reichslanddienst-Lehrhof. Der vierte von links bin ich, froh, die Beine ausstrecken zu können. Einsame Flucht
Mit den Kameraden Heinz Bunnenberg, Mitte, und Dieter Müller, rechts, beim Scharfschützenlehrgang. (...)
Der hohe Elbdamm war auf einer Länge von Hunderten von Metern schwarz
vor lauter Menschen. Es waren Soldaten aus allen nur denkbaren Einheiten,
aber auch Wehrmachthelferinnen, Flüchtlingsfamilien, »Blitzmädel«
und Rote-Kreuz-Schwestern alle hatten vor den nachfolgenden russischen
Soldaten bei den Amerikanern Schutz gesucht. Dann
sah ich ein kleines Boot, das am jenseitigen Elbufer ablegte, zu uns
herüberkam, einige wenige Leute aufnahm und wieder gemächlich
zurücktuckerte. Wenn das die Evakuierung sein sollte, würde
sie Monate dauern.
Familie Müller, glücklich und vollzählig wiedervereint nach dem Krieg. Das Foto entstand 1948. In der hinteren Reihe stehen meine Eltern, vor ihnen ich, Lilli, Rex, Gisela und Wolfgang sowie die jüngsten Geschwister Hans Dieter und Gudrun. Beim Melsunger Kreisbauernverband Sechs Wochen nach unserer Hochzeit rief mich der damalige Vorsitzende der Landjugend Melsungen, Heinrich Kilian, an und fragte, ob ich Lust hätte, am darauffolgenden Sonntag mit ihm zum Motorradrennen »Rund um den Herkules« nach Kassel zu fahren. Wir verabredeten, daß er mich am Bahnhof von Melsungen mit seiner 98er-Fox abholen würde. Dabei handelte es sich um ein ausgeprochen leichtes Gefährt. Hier posiere ich auf meiner 350er Horex Regina, die für mich zum unerläßlichen Verkehrsmittel wurde. Wir
hatten auf der Teilumgehungsstrecke von Melsungen etwa 600 Meter zurückgelegt
und näherten uns der Kreuzung Fritzlarer Straße, als plötzlich
ein Pkw unsere Vorfahrtstraße überquerte. Der Zusammenstoß
war unvermeidlich. Ich sah das Unglück kommen und klammerte mich
mit aller Kraft an den Griff meines leichten Soziussitzes. Eine Herausforderung für die Geschäftsstelle des Melsunger Kreisbauernverbandes waren die Vorbereitungen zur Kreistagswahl. Groß in Mode waren zu dieser Zeit die äußerst effektiven Gemeinschaftslisten. Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Handel eigentlich der gesamte Mittelstand hatten sich mit den Arbeitnehmern zusammengeschlossen und eine Einheitsliste aufgestellt. Unsere Geschäftsstelle war federführend bei der organisatorischen Durchführung der Wahlen. Mit dem Fabrikanten Otto Braun aus Melsungen, dem Bauernführer Konrad Jacob aus Körle, dem Bürgermeister Otto Bonn aus Guxhagen und Professor Hoffmann aus Felsberg als Spitzenkandidaten hatte unsere Liste auf Anhieb durchschlagenden Erfolg. Wir erhielten die Mehrheit und konnten den Landrat bestimmen. Da uns auf Kreisebene solcher Erfolg beschieden war, verfolgten wir auf Gemeindeebene in Heinebach dieselbe Strategie und waren ebenfalls erfolgreich, so daß wir unseren Altbürgermeister Heckmann wieder in sein vor 1945 innegehabtes Amt einsetzen konnten. Die Gemeinschaftslisten erwiesen sich jedoch bald als Auslaufmodelle, denn die potentiellen Kandidaten wechselten in die bürgerlichen Parteien und standen auf deren Listen.
Mit Schlips und Kragen an der Schreibmaschine: So sah mein anfänglicher Berufsalltag beim Kreisbauernverband Melsungen im Jahre 1952 aus. Die Landjugendarbeit
lief auf Hochtouren. Es existierten bald sieben Ortsgruppen, und ich
war deshalb an mindestens vier Abenden pro Woche mit meiner Horex unterwegs.
War es Zufall oder Glück? Gerade zu dem Zeitpunkt, als ich an einen
Ortswechsel dachte, vollzog sich eine entsprechende Veränderung
in den Geschäftsstellen in Homberg und Fritzlar. Mein langjähriger
Freund Krüger, der bis dahin der zweite Mann in Fritzlar gewesen
war, übernahm die Geschäftsführung des Verbandes in Homberg,
woraufhin ich am 1. Oktober 1954 seine Stelle in Fritzlar einnahm. Im
Verhältnis zur Mitgliederzahl und der angeschlossenen Fläche
existierte hier schon damals der aktivste Verband in ganz Hessen. Inhalt »Ein Hesse setzt sich durch« Inhalt Kindheit19271941 Jugend19411946 Neuanfang19461952 Im
Dienst für die Landwirtschaft19522002 |