Berlin-Moabit
Berlin-Hermsdorf;
19181923 / 195]
Märkischer
Sand
Ursula Wiehr
1918
erwarb der Vater, aus dem verlorenen Krieg heimgekehrt, Grund und
Boden, mehr abenteuerlich als erfolgversprechend. Mit zwei dürren
Kiefern drauf, sollte uns das Stück Eigenland am äußersten
Rand von Groß-Berlin für das Kriegsessen entschädigen
und Zusätzliches bringen. Stacheldraht (Dörrgemüse),
Kälberzähne (dicke Graupen) und Mehlpampe
hatten wir über.
Es war ein weiter Weg für meinen zehnjährigen Bruder und
mich Achtjährige, auf alten Rädern mit Kriegsbereifung aus
Pappscheibchen von Alt-Moabit über Feldsteinpflasterung im Wedding
zum Ende von Hermsdorf zu rumpeln. Dort hatte bereits ein Fabrikant
von Fischkonserven kühn eine turmstolze Villa gebaut, die als
Heringsburg bespöttelt wurde. Vor der Burg lag zwar
idyllisch ein Teich, hinter ihr aber nur sandiges Land mit einem schmalen
Streifchen, das Wald ahnen ließ. Und dahinter weites, leeres
Wiesenland. Mein Vater erlaubte sich, hinter die Heringsburg
ein bescheidenes, aber reizendes Holzhäuschen hinsetzen zu lassen,
samt Pumpe. Unter dem Giebel, über der Veranda lud freundlich
ein weißes Schild ein: Freudig trete herein und froh entferne
dich wieder Gehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir
Gott.
Vor unserem Häuschen ließen wir die zwei Kiefern Wächter
sein. Doch dahinter Sand, Sand ...! Was konnte darin gedeihen?
Großmutter, die uns nach dem sehr frühen Tod unserer Mutter
betreute, wußte immer Rat: Ziegenmist! Ihn lieferte uns unser
Portier, der am Hinterhaus Ziegen hielt, gegen geistiges Aufpäppeln
seines Sohnes Fritz durch meinen Vater, der Pädagoge war. Der
Ziegenmist, in einen alten, großen Reisekorbkoffer verpackt,
wurde die Schmach meiner Kleinmädchentage: Ich mußte ihn
mit dem von unserer Tante ausgeliehenen Dienstmädchen
transportieren. Per Elektrische und Vorstadtbahn. Mit Umsteigen!
Gesundbrunnen wurde Tatort: Der schwere Korb knallte zu Boden: Aus
einem Riß quoll Mist samt Würmern!
Ich will nicht wiederholen, was Berliner Bengel hinter uns herjohlten
... Ich heulte, und heulend gingen wir noch den Weg vom Bahnhof Hermsdorf
weit hinunter bis zu unserem Landparadies.
Ein Drahtzaun schützte schon, was uns so teuer war. Gebuddelt
und rajolt hatten wir auch. Nun hieß es, den Mist
sorgfältig zu verteilen und zu pflanzen. Wir alle schwitzten,
was die Mücken sehr freute, ruhten mit Stullenverzehr
immer noch mit Rübenmarmelade drauf, die das Brot matschig machte,
und schufteten weiter.
Die Erfolge schließlich waren prima Nierenkartoffeln,
eine Delikatesse, und Kohl. Diesen allerdings betrachteten
auch viele Raupen als Delikatesse.
Doch wir alle lernten. Dazu verhalf uns Vaters Kollege Seeger,
Naturkundelehrer. Mit seiner Hilfe wuchsen Büsche mit süßen
Beeren und Erdbeeren.
Wir Kinder hatten sogar unser eigenes Stückchen Erde. Mein Bruder
allerdings saß lieber auf der Schaukel und sah meinen Gartenbaukünsten
zu. Aus gesammelten Zweigen umschloß ich unser Sandstück
mit einem Jägerzaun. Ich kuhlte eine Grube aus, und mein Bruder
folgte meiner Einladung in meine Stube, wenn er seine
Gartenfrüchte verschlungen hatte, ich aber noch welche besaß.
Ein Hochtag im Garten war der, als wir unsere Linde pflanzten: Da
trat erneut Vaters Kollege mit seinen Kenntnissen auf den Plan. Er
schickte uns Kinder auf die Hermsdorfer Straßen zum Pferdeäpfelsammeln.
Vater hob Sand aus, Kollege Seeger hielt stramm wie ein Wachsoldat
das Lindenstämmchen ins Pflanzloch, und wir Kindern durften die
Pferdeäpfel um die Baumwurzeln legen. Vater schaufelte das Baumloch
zu, wir setzten den Pumpenschwengel in Bewegung, und Kollege Seeger
begoß unsre Sieglinde. Und wir es war inzwischen
dämmrig geworden begossen diesen Pflanzakt mit Waldmeisterbowle
auf der Veranda. Kollege Seeger hatte uns ein Windlicht mitgebracht,
das er sine umbra nannte, und sagte feierlich: So
möge euer Gartenleben hier sein: Ohne Schatten!

Unser
Landparadies in Hermsdorf bei Berlin: rechts unser "Väterchen",
daneben mein Bruder Hans-Jürgen, dahinter die beiden Kiefern,
links, neben Oma, stehe ich.
Vierzig
Jahre später kam ich besuchsweise nach Berlin. Die braunen Jahre,
Eheleben in Potsdam, fünf Jahre im Osten und Flucht von dort
vor den Russen in eisiger Kälte mit drei Kleinkindern und zwei
alten Leutchen lagen hinter mir, Dorfleben und endlich dann ein festes
Heim. Einer war verlorengegangen, mein Bruder, der in Rußland
fiel.
Ich stieg im Bahnhof Bellevue aus und ging über die Treppenbrücke
zur Calvinstraße hinunter. Unser erstes Haus, mit Schußlöchern,
sah mich grau und kalt an: Hatte ich hier wirklich als Kind aus dem
Erkerfenster auf die Spree und die Äppelkähne
geschaut?
Nur die Möwen saßen noch wie eine Perlenschnur auf dem
Flußgeländer. Zaghaft schritt ich an der Eckkneipe Tante
Lieschen vorbei, an der mein Vater einst an Wahltagen mit umgehängtem
Zettelkasten stand. Aus dem Türfenster des Kolonialladens
am Gegenübereck blickte eine weißsträhnige, uralte
Frau. Es war Frau Schilling, der ich einstmals hochgereckt den Einkaufszettel
hinreichte und einen durchsichtigen, grünen Bonbon in Blattform
geschenkt bekam. Auf der anderen Straßenseite war eine breite
Häuserlücke. Mit bangem Herzen strich ich zum Ende der Straße
hin: Nummer 24 war abgetragen! Bis auf das Mosaik im Torweg mit dem
schwarzen Stern darin.
Mir war zumute, als hätte ich meine Mädchenjahre dort nie
gelebt. Hatte hier wirklich mein Vater zuletzt alleine gewohnt, bis
eine Bombe das Haus traf, mein Vater überlebte, und zu uns in
den hohen Osten floh, von wo er mit uns dann vor den Russen erneut
fliehen mußte?
Weg von diesem Ort, wo nicht einmal mehr die Kulisse einstiger Jugendspiele
stand...
Mit der Stadtbahn fuhr ich nach Hermsdorf hinaus, ging den unveränderten
Weg bis an den Rand des Villenortes, wo die weiten Wiesen sich ausbreiten.
Die Heringsburg stand noch. Und unser Holzhäuschen
auch! Angekokelt, mit zerborstenen Fenstern, offenen Türen. Sieglinde
war ein mächtiger Baum geworden. Aber sonst verwüstetes
Sandland. Das Schild unter dem Hausgiebel, leicht angeschwärzt,
sagt noch immer: ... Gehst du als Wandrer vorbei, segne die
Pfade dir Gott.
nach
oben >>
Berlin
1932/1933
Klaus
Brockerhoff
Auf dem Weg ins Dritte Reich (gekürzte Fassung)
Als
das Dritte Reich begann, war ich zehn Jahre und eine Woche alt. Ich
habe den Fackelzug am 30. Januar 1933 gesehen. Es war ein Montag.
Am Abend des 27. Februar 1933 brannte der Reichstag.
Ich hörte die Feuerwehr durch die Kantstraße in Berlin-Charlottenburg
in Richtung Stadtmitte fahren, stieg aus meinem Bett und sah aus dem
Fenster. Der Löschzug kam wahrscheinlich von der Feuerwache Suarezstraße.
Der Himmel sah rot aus. Meine Mutter schickte mich wieder ins Bett.
Ich glaube, es ist ein Großbrand, sagte sie und
es ist auch schon spät. Du mußt morgen zur Schule.
Ich beschloß morgen Dienstag festzustellen, was
das für ein Großbrand war. Dann erfuhr ich, daß der
Reichstag gebrannt hatte. Das mußte ich mir ansehen. Die Hinfahrt
bewältigte ich mit der Elektrischen für 15 Pfennige
Schülerfahrschein.

Die Ruine
sah schlimm aus. Es roch noch brandig, das Areal war abgesperrt, Polizei
patrouillierte, viele Menschen betrachteten das zerstörte Gebäude,
und ich schnappte Gesprächsfetzen auf. Die Berliner diskutierten
laut und kopfschüttelnd das Ereignis.
Bin ma jespannt, wat da rauskommt oder Sowat jibst
doch jar nich, einfach den Reichstag anzustecken, wenn det der olle
Wallot wüßte oder Da stimmt wat nich, wartet
mal ab, da is der Wurm drin. Irjendwo.
Ich pilgerte
wieder nach Hause. Zu Fuß. Fast sieben Kilometer. Unterwegs
überlegte ich mir so einiges: Von dem ollen Wallot hatte ich
schon gehört. Er war der Baumeister des Reichstages, dessen Grundstein
1884 gelegt wurde. Den Reichstag einfach anzuzünden, empfand
auch ich als Unverschämtheit. Aber warum da was nicht stimmen
sollte und weshalb da der Wurm drin sein könnte, das wußte
ich nicht.
Die Vorgeschichte:
Ich ging seit Ostern 1929 in die Schule. Ich war für mein Alter
außerordentlich neugierig, interessiert an allem, was um mich
herum vorging. Und: Ich war und bin ein guter Beobachter!
Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie. Mein Vater war Bankbeamter.
Heute würde man Bankkaufmann sagen. Er arbeitete in der Effektenabteilung
der Berliner Discontogesellschaft. Wir bewohnten eine 4-Zimmer-Wohnung
in der vierten Etage in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg.
Meine Mutter hatte eine Aufwartefrau, die aus Pommern stammte und
dreimal in der Woche kam.
Im Herrenzimmer standen vier Bücherschränke, ein großer
mit Papieren beladener Schreibtisch, mehrere sehr bequeme Sessel und
ein Rauchtisch. Es war das Reich meines Vaters. Er war Vorstandsmitglied
im Verein für die Geschichte Berlins. Er war ein
sehr belesener, bibliophiler, künstlerisch begabter und disziplinierter
Mann und hat maßgeblich zur Erforschung der Geschichte Berlins,
insbesondere des Berliner Humors, beigetragen.
Vater hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen, vom Anfang bis zum Schluß.
Er war Gardeoffizier der Reserve. Ein Bild von Kaiser Wilhelm II.
hing in seinem Zimmer an der Wand. Es zeigte ihn in der Felduniform.
Mein Vater verehrte ihn sehr.
Wir hatten
häufig Besuch. Mehrfach kamen Kriegskameraden meines Vaters.
Man saß im Herrenzimmer, es wurde diskutiert. Vater erzählte,
daß in der Bank enorm abgebaut würde. Er selbst
habe eine erhebliche Gehaltskürzung hinnehmen müssen. Meine
Mutter sprach von der Suppenküche für die Armenspeisung,
die das Bezirksamt Charlottenburg in der Pestalozzistraße eingerichtet
hatte. Ich hörte Begriffe wie: Marxismus, Demokratie, Wirtschaftskrise,
Arbeitslosigkeit, Kriegsgewinnler und ähnliches. Namen wurden
genannt: Brüning, Stresemann, der ehemalige Außenminister,
Hindenburg und immer wieder Hindenburg der Ersatzkaiser,
die Vaterfigur. Ich hatte ihn gesehen, als im Februar 1928 Amanullah,
der König von Afghanistan, als erster ausländischer Staatsmann
nach dem Krieg Deutschland besuchte. Vater hatte mich mitgeschleppt,
als der König und Hindenburg ins Reichspräsidentenpalais
in die Wilhelmstraße fuhren. Ich konnte den pompösen Monarchen
beim Aussteigen bewundern. Neben ihm im schwarzen Mantel und
Zylinder der Reichspräsident.
Wat
isn det, n Sandwichmann? wollte ich von meinem Vater
wissen. Meine Mutter hatte das Wort kürzlich gebraucht. Drüben,
bei der Suppenküche, standen eines Tages im Jahre 1932 plötzlich
etliche Männer, zum Teil gut angezogen. Sie trugen Schilder auf
dem Rücken und auf der Brust. Nehme jede Arbeit an,
stand darauf. Vater erklärte es mir. Nächsten Sonntag
wird gewählt, vielleicht bessert sich ja was, fuhr er fort.
Schon wieder?
Ich hatte mehrfach Wahlen erlebt und war immer brav mit meinen Eltern
zum Wahllokal am Stuttgarter Platz marschiert. Da stand meist ein
Haufen Leute herum, auch SA, Sipos, Mitglieder der Rotfront,
vom Stahlhelm oder vom Reichsbanner
es herrschte immer gespannte Aufmerksamkeit, und die Polizei sollte
Schlägereien und Schlimmeres verhindern. Auch Sandwichmänner
hatte ich dort gesehen und eine Harfenjule von der Heilsarmee.
Sie war unbestimmbaren Alters, bei jeder Wahl dabei bis das
Wahllokal geschlossen wurde. Auf ihrem Wimmerholz (Gitarre)
spielte sie fromme Lieder, manchmal sang sie auch dazu.
Zu Weihnachten
hatte ich einen Roller bekommen keinen Tretroller, die waren
zu teuer sondern einen einfachen. Marke: Naether.
Ich rollerte rund ums Karree Kantstraße, Wilmersdorfer
Straße, Stuttgarter Platz, Kaiser-Friedrich-Straße, Kantstraße.
An jeder Straßenecke standen Zettelverteiler mit den Parolen
der verschiedenen Parteien, die auch Papierfähnchen verschenkten.
Ich nahm sie alle mit: Schwarz-Rot-Gold, Schwarz-Weiß-Rot, Rot
mit Hammer und Sichel, Hakenkreuzfähnchen und den Sozi-Wimpel
drei nach links unten gerichtete Pfeile. Außerdem zwei
Reklamefähnchen der Firmen Kaisers Kaffeegeschäft
und Josetti: Aus gutem Grund ist Juno rund. Also
alles, was man wollte. Die Fähnchen flatterten fröhlich,
mit Gummibändern befestigt, an meinem Lenker.
Kannste det übahaupt lesen? fragte ein Zettelverteiler.
Klar, ick bin ja nich doof, erklärte ich herablassend
und stopfte sein Pamphlet zu den übrigen in die Gesäßtasche
meiner kurzen Hose.
Meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als
ich nach Hause kam. Ich mußte die Fähnchen abmontieren
und durfte einige in die Balkonkästen stecken. Aber nicht alle.
Die Zettel wurden für meinen Vater aufgehoben. Was sollen
bloß die Leute denken? meinte sie, und bring bitte
nächstes Mal keine Fähnchen mehr mit!
Was die Leute dachten, war mir absolut piepe.
Mein
Vater las abends die Zettel und erklärte mir so einiges. Eine
Hindenburg-Wahl stand bevor. Seine Amtszeit lief ab. Die Nazis hatten
enorme Stimmengewinne erzielt, überall im Land. In Bremen und
Braunschweig gab es seit 1931 schon nationalsozialistische Regierungen.
Brüning wackelte. Fast sieben Millionen Arbeitslose.
Viele Parolen konnte man auf den Zetteln lesen, die ich mit nach Hause
gebracht hatte. Außerdem waren Karikaturen darauf gezeichnet,
von Bonzen mit Ballonmützen, die man hinwegfegte, gequälten
Menschen, die mit Stacheldraht gefesselt waren, einem Ertrinkendem,
dem ein Rettungsring zuflog, auf dem HINDENBURG stand, und dabei war
auch eine gegen Brüning: Haut dem Brüning auf die
Glatze, daß die Notverordnung platze!
Da hatte ich es! Schwarz auf Weiß! Nicht nur an der Litfaßsäule!
Ich war richtig stolz auf mich.
Proletarier aller Länder vereinigt Euch, wählt Rotfront-Kommunisten!
Das war der letzte Zettel.
Es war
schon eine Menge, was mein Vater erklären mußte, und ich
war ein wißbegieriger Zuhörer. Während er noch dabei
war, kurz nach dem Abendbrot, marschierten die Kommunisten durch die
Kantstraße. Erst kam eine Schalmeienkapelle, dann Frauen mit
Kinderwagen, dann die Werktätigen mit geballter Faust, viele
Jugendliche, aber alles etwas durcheinander und auseinandergezogen.
Es war mehr eine Art Demonstrationszug. Die Polente und
zwei Überfallkommandos schirmten den Zug ab. Dann
sangen sie: Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten
Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
Denkste! schrien die Berliner am Straßenrand zurück.
Die Überlandzentrale versorgt die Stadt mit Licht.
Die Elektrische mußte halten, weil der Zug die Schienen
blockierte. Die Sipos versuchten, den Verkehr zu regeln, es gelang
nur mühsam. Die Unordnung war zu groß. Ich stand auf dem
Balkon und beobachtete alles. Vor mir, in den Balkonkästen, steckten
die genehmigten Fähnchen. Mein Vater schüttelte den Kopf,
und wir gingen ins Herrenzimmer zurück. Und wat passiert
nu? fragte ich. Wen wählste?
Das weiß ich noch nicht, wir brauchen dringend wieder
Zucht und Ordnung, die Wirtschaft bricht zusammen, die Reparationen
fressen uns auf, wir haben den Krieg und unsere Ehre verloren.
Während ich noch darüber nachsann und mit der Antwort unzufrieden
war, da sie mir zu allgemein war, hörten wir einen Spielmannszug
der SA und den Marschschritt der Kolonnen. Vorneweg der Standartenführer,
dahinter der Träger der Standarte, flankiert von zwei Sturmführern.
In das Tuch war mit Goldbuchstaben eingestickt: Deutschland
erwache!
Der Spielmannszug hatte aufgehört zu spielen. Fast 600 Mann marschierten
schweigend, zackig, diszipliniert auf der rechten Straßenseite,
so daß der Verkehr wieder fließen konnte. Die Elektrische
fuhr an, jetzt waren die Schienen frei. Und plötzlich skandierten
600 Kehlen: Aus dem Feuer der rettenden Rache erschallt unser
Kampfruf: Deutschland erwache! Deutschland erwache! Deutschland erwache!
Alles genau im Takt und im Gleichschritt.
Deutschland erwache!
Es ging unter die Haut. Dann setzte wieder der Spielmannszug ein.
Danach wurde gesungen: Als die goldene Abendsonne sandte ihren
letzten Schein, zog ein Regiment von Hitler in ein kleines Städtchen
ein.
Anschließend kam: Volk ans Gewehr! Und: Die
Glocken stürmten vom Bernwardsturm, der Regen durchrauschte die
Straßen (ein Traditionslied der Nazis). Und jetzt wieder:
Deutschland erwache!
Die ersten Berliner begannen zögernd zu klatschen es wurden
mehr, viele Fenster öffneten sich an diesem Abend im Frühjahr
1932. Beifall brandete auf, Bravorufe, Heilrufe. Deutschland in der
Kantstraße war endlich aufgewacht. Unten marschierten die Muntermacher,
und ich stand auf dem Balkon und starrte hinunter. Offenen Mundes.
Machn Mund zu, hier fliegen keine gebratenen Tauben, morgen
haste wieder dicke Mandeln!
Das war meine Mutter.
Es kam häufig vor, daß Kommunisten, Sozis oder Reichsbanner
durch die Straßen marschierten und kurz darauf die Nazis oder
der Stahlhelm. Oft genug entwickelten sich dann die gefürchteten
Straßenschlachten, bei denen es fast immer Verletzte und auch
Tote gab. Aber diesmal ging alles gut. Warum, weiß ich nicht,
denn der Kontrast konnte augenfälliger nicht sein: Hier
der undisziplinierte Haufen der Kommunisten dort die sich als
Ordnungsmacht verstehenden Nationalsozialisten.
Wir brauchen wieder Zucht und Ordnung, hatte Vater gesagt.
Langsam begann ich zu verstehen.
Meine
Mutter war zum Kaffee eingeladen, ich durfte mit. Zu Tante Heinzchen.
Sie war Klavierlehrerin und hatte trotz der schlechten Zeiten viele
Schüler Kinder reicher Eltern. Sie wohnte in der Nähe
der Kleiststraße, nicht weit vom Nollendorfplatz. Fliegende
Gewänder wurden von ihr bevorzugt, weite Kleider, lange Mäntel.
Eine Pagenfrisur zierte ihren schönen Kopf. Sie war von rührender
Anhänglichkeit, immer freundlich, hatte ständig Liebeskummer
und konnte so bezaubernd Klavier spielen, daß ich selbstvergessen
zuhörte. Und das wollte was heißen.
Also fuhren wir hin. Am Nollendorfplatz war was los. Ein großer
Menschenauflauf, SA-Leute, Polizei. Mutter zog mich weiter, aber ich
wollte nicht. In dem Gedrängel ließ ich den Blumenstrauß
fallen und hob ihn wieder auf.
Lassen Se den Kleenen doch, sagte jemand. Stell
dir mal uf det Podest, denn kannste besser sehn!
Ein Berliner hob mich hoch und stellte mich drauf.
Mutter fügte sich ins Unvermeidliche. Und dann hörte ich
eine prägnante Stimme, die bildhaft, treffend und sarkastisch
die Regierung abhalfterte und an die geistigen Güter der Nation
appellierte. Der Mann, dem sie gehörte, trug eine Lederjacke,
er war klein, dunkelhaarig und stand in einem offenen Mercedes. Er
sprach frei und ohne Mikrofon. SS-Leute mit schwarzen Mützen,
die ich vorher noch nie gesehen hatte, umringten ihn. Es war Dr. Joseph
Goebbels, der Gauleiter von Berlin. Dort sah und hörte ich ihn
zum ersten Male.
Wir kamen
natürlich zu spät zu Tante Heinzchen, aber sie war darüber
nicht böse. Mein Gott, was soll bloß werden? Ich
bin ja so unpolitisch, klagte sie.
Wen wählt ihr denn? fragte sie dann.
Stell erst mal die Blumen in die Vase, Klaus hat sie in dem
Gedrängel fallenlassen, weil er unbedingt den Goebbels hören
mußte.
Ach ja, er ist ja heute am Nollendorfplatz, morgen soll er im
Sportpalast sprechen. Ich bin manchmal ganz durcheinander.
Wir wissen auch noch nicht, wen wir wählen, aber Hindenburg
muß erstmal bleiben, sagte Mutter.
Aber der ist doch steinalt, was passiert, wenn er morgen tot
umfällt? Aber er soll ja den Professor Sauerbruch haben, der
muß eben auf ihn aufpassen, beruhigte Tante Heinzchen
sich wieder.
Dann tranken wir Kaffee, aßen Streusel- und Kranzkuchen, und
anschließend spielte Tante Heinzchen endlich Klavier. Ich war
hingerissen. Bevor wir gingen, lud sie Mutter zu einem Konzert ein,
das sie in zwei Monaten mit ihren Schülern im UNIVERSUM am Lehniner
Platz geben wollte.
Auf der
Rückfahrt in der Straßenbahn fragte ich: Wo is Gertrud
eigentlich geblieben? Kommt se nich mehr?
Gertrud war die Aufwartefrau. Nein, sie hat eine andere Stelle,
wir können sie nicht mehr bezahlen.
Und dann rechnete Mutter vor: Dreimal in der Woche pro Tag drei
Mark plus Mittagessen, das sind mehr als 36 Mark im Monat. Wir können
es uns nicht leisten.
Ich war baff.
Jeder muß sich einschränken, aber uns geht es verhältnismäßig
gut. Vater ist noch bei der Bank, aber ob das so bleibt, wissen wir
nicht.
Als wir ausstiegen, war ich ziemlich still und sah zu Hause sofort
nach, ob meine 4,50 Mark Taschengeld, die ich im Laufe eines Jahres
angespart hatte, noch in der Kassette waren. Ich brachte sie Mutter.
Brauchste Jeld?
Ich streckte ihr die Kassette entgegen. Ich meinte es ganz ernst.
Mutter war zu Tränen gerührt und nahm mich in die Arme.
Mir wurde wieder besser, es schien ja doch nicht ganz so schlimm zu
sein.
Die Hindenburg-Wahl
am Sonntag brachte kein eindeutiges Ergebnis. Die Harfenjule
sang noch schlimmer als sonst, und die Stimmung war sehr gereizt.
Wir gingen auch nicht mehr spazieren, sondern gleich nach Hause. Es
stellte sich heraus, daß ein zweiter Wahlgang erforderlich wurde.
Jetzt erst begriff ich, daß Hitler gegen Hindenburg angetreten
war und keine absolute Mehrheit erhalten hatte. Er startete zu einem
Deutschlandflug, um Stimmen zu sammeln. Die Berliner Illustrirte
Zeitung zeigte ihn ich glaube auf dem Titelblatt
vor einem Junkers Flugzeug.
Überall
gab es Kundgebungen. Mutter wollte mich in dieser Zeit einmal zur
Schule bringen weil wieder soviel los ist. Am Bahnhof
Charlottenburg kamen wir nicht weiter. Mutter war ganz verzweifelt.
Da kam ein Berliner Taxenschofför auf uns zu. Er
sah so aus, wie Schimanskis Vater ihn gespielt haben würde: Lederweste,
Ledermütze, eine Art Zimmermannshose, rotes Halstuch, rote Nelke
im Knopfloch, verschwitzt, Schnurbart, leicht angesäuselt, gutmütig
und treuherzig.
Können Sie uns zur Sybelschule fahren bitte, wir
kommen nicht durch!
Lassen se man jut sin, junge Frau, jehn se ruhig nach Hause,
den Kleenen fahr ick umsonst hin, er soll ja mal dafür sorjen,
det et uns später besser jeht!
Auch diese Worte werde ich nie vergessen.
Die Taxe war ein uralter Protos, mit Kulissenschaltung
außen. Auf dem Dach ein Gepäckträger, keine Kurbelfenster,
sondern Fenster, die mit Lederriemen festzustellen waren. Überhaupt
war innen alles aus Leder. Ich versank fast in dem Rücksitz.
Der Chauffeur kurbelte das Ding an, und wir fuhren los durch die Menge,
die uns Platz machte. Nach zehn Minuten waren wir da. Lerne
wat, Kleener, sagte er und gab mir seine Nelke. Für
Deene Mutter.
Es war ein Schlüsselerlebnis. Die Nelke wurde im Sommer 1943
ausgebombt. Wir auch.
Ich erinnere
mich noch an das Ergebnis des zweiten Wahlganges, das Hindenburg fast
20 Millionen Stimmen bescherte. Gut 13 Millionen hatte Hitler. Mein
Vater versuchte, es mir zu erklären, aber mit den Millionen kam
ich nicht klar. Im Rechnen war ich keine Leuchte. Jedenfalls Hindenburg
blieb. Und er lebte noch! Er war nicht tot umgefallen! Tante Heinzchen
konnte sich wieder entspannen.
Brüning verbot die SA und die SS, nicht aber die Linken. Und
dann hatte man ihm tatsächlich auf die Glatze gehauen, er wurde
entlassen. Ihm folgte von Papen. Die Nazis durften wieder marschieren.
Das alles passierte1932. Dann fand im Juli auch noch eine Reichstagswahl
statt, und Göring wurde Reichstagspräsident. Wir
hatten, das habe ich nochmals nachgeschlagen, von 1918 bis 1932 =
23 Regierungen!
Ich verlor jetzt den Überblick.
Etwa
Mitte Januar 1933 erzielte die NSDAP in Lippe einen großen Wahlerfolg.
Von Papen war jetzt auch Reichskommissar für Preußen. Er
hatte den Vipoprä, Vizepolizeipräsident Isidor
Weiß, absetzen lassen, außerdem den Kommandeur der Schutzpolizei.
Seit Dezember war General von Schleicher Reichskanzler. Die Reichswehr
hatte die Verhaftung der Polizeioberen vorgenommen. Über all
das wurde ständig diskutiert. Keiner wußte, was kommen
würde, viele ja die meisten hofften auf Hitler.
Ich jedoch
hoffte auf meinen 10. Geburtstag am 23. Januar. Der kam mit Sicherheit.
Es gab auch eine Kindergesellschaft mit Kakao, Kuchen, Kartoffelsalat
mit Würstchen und Brause. Meine Freunde Wölfchen, Ralph,
Kurti, Fedor, Hotte, Kutte, Harry und noch vier andere Jungen waren
eingeladen und kamen auch. Ich hatte mir eine Karte für die Berliner
SCALA, das internationale Varieté in der Martin-Luther-Straße,
gewünscht. Für die Nachmittagsvorstellung. Das verkündete
ich lauthals überall. Ich wollte auch warten, bis es was Besonderes
gab. Die Drei Codonas zum Beispiel, oder Rastelli, den
Jongleur. Vielleicht auch Charly Rivel mit Akrobat schöööön.
Und dann mußte ich unbedingt Otto Stenzel sehen, den Kapellmeister
des SCALA Orchesters, das er, auf den Rücken eines Elefanten
sitzend und mit einem Tropenhelm auf dem Kopf, oben von der Bühne
aus dirigierte. So wurde erzählt.
Son Quatsch, sagte Fedor, bei die Affenhitze
in de SCALA ooch noch n Tropenhelm uffm Kopp!
Na ja, deshalb doch, krähte Wölfchen, wot
heeß is, setzt man son Tropenhelm uff, ick wer ooch bald
enen haben!
Natürlich Wölfchen, sagte Mutter, wir
schenken dir zum Geburtstag einen Tropenhelm.
Da bin ick jarnich mehr da im Juni, da bin ick schon weg!
Und wo bist du da?
In Palästina! schrie er und hüpfte so herum,
daß seine Eulenbrille verrutschte.
Und warum?
Wir ham verkooft und lösen uff!
Meine Mutter war perplex, wir auch: Aber vorher besuchst du
uns doch noch einmal?
Klar, wir jeben ne Abschiedsvorstellung, jeder kriejt
zwee Pfund Datteln jratis!
Dann spielten wir Die Reise nach Jerusalem. Es paßte
irgendwie. Ralph mit seinem Lockenkopf stand neben mir und sagte plötzlich:
Wir hauen ooch ab, unsere Jeschäfte übernimmt ne
Textilfabrik eener von die wollte sich dicke tun, dem ham
wa abjesagt, aber die andern sind in Ordnung, die kriejen allet.
Wo geht ihr denn hin?
Amerika oder Kanada, ick weeß nich so jenau, da ham wa
Verwandte.
Und wann?
Na, im April, wenn de Schule aus is.
Nach
den vier Volksschuljahren wollten die meisten von uns aufs Gymnasium
oder die Hohe Schule, wie es damals hieß.
Zur Abschlußfeier in der Volksschule konnte Wölfchen keine
Abschiedsvorstellung mehr geben, weil er sofort mit seinen Eltern
abreisen würde. Ihr Ziel war Jaffa in Palästina. Wölfchen
hat später eine Karte geschrieben, darauf versprach er, daß
er uns die Jratisdatteln bei seinem nächsten Besuch
mitbringen würde, die seines Vaters der war Fruchtimporteur
wären eben doch die besten, sie kämen aus Mesepetunien.
Von einem Tropenhelm schrieb er nichts. Er ist glücklicherweise
nie auf Urlaub gekommen.
Die Abschlußfeier war schlicht. Der neue Rektor, den wir seit
zwei Jahren hatten, sprach uns vor allem Mut zu und wünschte
uns Glück. Dann wurden einige Lieder gesungen, zum Schluß
das Deutschlandlied alle Strophen. Die Abgangszeugnisse wurden
ausgehändigt, alle Noten waren so ausgefallen, wie unsere Klassenlehrerin
Frau Rissom sie angekündigt hatte. Der Rektor hatte in steifer
Sütterlinschrift unterschrieben. Frau Rissom gab jedem von uns
die Hand, sie war sichtlich bewegt. Werdet gute Menschen, versprecht
mir das, waren ihre Abschiedsworte an uns. Dann gingen wir auseinander,
in die Osterferien und in eine neue Zeit ...