Geschichten rund ums Essen
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12. Januar 2010

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Lydia Beier, Öffentlichkeitsarbeit
Zeitgut Verlag GmbH
Klausenpaß 14, 12107 Berlin
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Tel. 030 - 70 20 93 14

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Gegessen wird immer
Zeitzeugen-Erinnerungen an Essen und Trinken

192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister
Taschenbuch. Originalausgabe
ISBN 978-3-86614-162-9
Euro 6,90

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Abdrucktexte

Vom Spargelbeet zur Tabakplantage
Hühnerfutter und Biber-Braten
AGFA Wolfen
Gehst rüber, gehst nüber
Seegefrörne
Der Club der guten Esser

Not macht erfinderisch

 

Ostwestfalen-Lippe – Kassel – Obervellmar, Hessen;1916/1928–1944

Vom Spargelbeet zur Tabakplantage (gekürzte Fassung)
Hans Braun

Meine Mutter Gretchen, geboren 1886, war einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und bis 1916 „herrschaftliche Köchin“ bei den Prinzessinnen zu Lippe auf Burg Schwalenberg, Ostwestfalen-Lippe. Danach wurde sie leitende Köchin des Lazaretts für Leichtkriegsverletzte „Lindenberg“ bei Kassel. Mein Vater Konrad, geboren 1887, der eine Unterarm-Steckschuß Verletzung hatte, gehörte zu den von Gretchens Küche Verköstigten. Er bewunderte ihr Talent, trotz der Nachkriegshungerzeit energisch und mit Überredungskunst bei den umliegenden Bauern zusätzliche Lebensmittel für ihre Schützlinge zu ergattern.


Das Foto aus dem Jahr 1912 zeigt meine Mutter Gretchen während ihrer Zeit als herrschaftliche Köchin“ bei den Prinzessinnen zu Lippe.

.. Zwei Seelen hatten sich getroffen, die gutes Essen mochten, gute Hausmannskost halt. Der Lattichsalat etwa, wie Konrad ihn wünschte, mußte alles andere als unbehandelt und „crisp“, sondern angesetzt mit viel Sahne, anderen Zutaten, gesüßt, weich und „matschig“ sein.

Die Wutz

1928, als meine Eltern es mit viel Fleiß, Sparsamkeit und fünf Hypotheken zu einer Doppelhaushälfte mit großem Garten und kleinem Textilladen gebracht hatten, installierte Konrad in einem separaten Kellerraum einen Schweinestall. Die Wutz war sein Hobby und Darling. Er allein fütterte sie abends, rührte in einem Eimer voller Hingabe mit Kleie, zerquetschten Pellkartoffeln, Essensresten und Milchbrühe das Schweinefutter an.

Manchmal ließ Papa Konrad sein Schweinchen aus dem Stall zum Freilauf auf dem umzäunten Hof hinter unserem Haus. Das Tier, dem engen Stall entronnen, wuselte mit Wonne, Haken schlagend, springend, grunzend und quietschend auf dem Hof umher. Papa, seine Pfeife schmauchend, stand auf dem Hof und sah vergnügt seinem herumtobendem Liebling zu. „Freilauf macht Ferkel freßlustiger!“ dozierte er. Am offenen Küchenfenster stand der Rest der Familie und beobachtete das muntere Schweineschauspiel.


Papa Konrad mit seinem ständig schmauchenden Pfeifchen 1936.

Und dann passierte es einmal: Die schon recht ausgewachsene Wutz geriet beim ausgelassenen Umhertollen zwischen Konrads Beine. Plötzlich saß er rücklings auf dem Schweinerücken; und dann ritt Konrad – heidi! — auf dem Rücken des Borstenviehs im Schweinsgalopp über den Hof, plumpste nach gut zehn Metern runter vom Saurücken und saß verdattert auf dem Beton des Hofs. Vergebens hatte er versucht, sich am Schweineschwänzchen festzuhalten. Verbiestert schüttelte er den Kopf; grimmig grinsend rappelte er sich auf bei unserem wiehernden Gelächter aus dem Küchenfenster.


So kann`s passieren, wenn die Wutz Auslauf hat ...

Klar, daß das Schlachten des Schweins im Winter vor allem für Papa Konrad ein Höhepunkt des Jahres war. Das draußen am Haken hängende aufgeschnittene Schwein, der dampfende Wurstbrühkessel in der Waschküche, das vom Wurstwolf mittels Kurbel in den Darm gepreßte Hackfleisch, die kurzen gebellten Befehle des Hausschlachters, der wabernde Fleischgeruch, das Zwischendurch-Schnäpschen aus der Underberg-Flasche – das alles gehörte zu einem deftigen Schlachtefest.

Spargel

Meine Mutter nun hatte bei den Prinzessinnen Bekanntschaft gemacht mit feineren „adeligen“ Genüssen, zum Beispiel mit Spargel. So um 1934 überredete sie Konrad, im Gemüsegarten hinterm Haus ein Spargelbeet anzulegen. Nach zwei Jahren, glaube ich, lugten dann die ersten Spargelköpfe aus den Langhaufen. Der erste Spargel konnte gestochen werden. Die Kunst bestand darin, den richtigen „Schnittpunkt“ für die Spargelstange im sandigen Erdreich zu finden. Mama Gretchen schälte Spargel, es gab die ersten Spargelsuppen, dann Spargel mit Pellkartoffeln und ausgelassener Butter oder mit Schinken von Papas Schweinchen. Wir aßen Spargel, bis Papa ihn satt hatte und meinte, es dürfe auch mal wieder matschiger Lattichsalat sein.

1939 war’s aus mit Spargel, da wuchs aus den Langhaufen nur noch Spargelkraut, das bestenfalls als Beigabe zu Blumensträußen dienen konnte. Der Krieg begann; es gab Lebensmittelkarten, auch Tabakwaren wurden mit entsprechenden Abschnitten rationiert. Papa, starker Pfeifen- und Zigarrenraucher, geriet in die Bredouille.
Doch Papa wußte sich zu helfen: Er machte das Ex-Spargelbeet platt, besorgte sich Tabakpflänzchen, und es entstand eine Mini-Tabakplantage. Ein Schweinchen zu füttern war im Krieg nicht erwünscht, also widmete sich Konrad mit gleicher Hingabe dem Tabakanbau. Kaum hatten sich die ersten Tabakblätter entwickelt, schnitt er sie ab und brachte sie in die Küche, wo das kostbare Paffgut im angeheizten Backofen im Schnellverfahren fermentiert wurde. Und dann stopfte er die halbangesengten Blätter in die Pfeife, zum Teil noch gemischt mit den Blättern von Früchtetee, und rauchte das Kraut.


Papa Konrad auf seiner Tabakplantage, die er auf dem ehemaligen Spargelbeet angelegt hatte, 1944.

... Eines Tages, mitten im Krieg, – Papas Tabakplantage stand in voller Blüte – schellte an unserer Haustür ein Zollbeamter aus Kassel. Er erklärte, er habe den Auftrag, die Tabakpflänzchen in unserem Garten zu zählen und Papa müsse eine bestimmte Summe Geldes pro Pflanze als Zoll bezahlen. Offenbar hatte ein neidischer Nachbar ihn beim Zoll in Kassel angezeigt.

Grimmig blechte Papa Konrad das Zollgeld. Den ellenlangen Fluch, den er dem Zollmenschen nachschickte, kann ich hier nicht wiedergeben. Mit Spargel wäre das nicht passiert; doch in jenen Notzeiten war Tabak Marke „Eigenanbau“ – oder, wie scherzhaft gesagt wurde, „Bahndamm, letzter Hieb“ – für passionierte Raucher oft die einzige Möglichkeit, doch an ihren geliebten blauen Dunst zu kommen.


Münster – Dülmen, Nordrhein-Westfalen; 1944

„Hühnerfutter“ und Biber-Braten (gekürzte Fassung)
Liesel Hünichen

... Im Jahr 1944, mitten im Krieg, wurde mir in meiner Heimatstadt Dülmen ein äußerst ungewöhnlicher Genuß zuteil. Wenn ich daran denke, wie heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, Gourmets und Publizisten die ganze Welt abklappern, um ausgefallene Genüsse aufzuspüren, muß ich lachen in Erinnerung an jenen beinahe schon exotischen Braten in einer Zeit des Darbens, in der man dergleichen überhaupt nicht erwartete. Bisher habe ich noch niemandem davon erzählt. Denn wer hat schon einmal Biber-Braten gegessen?

Ja, ich spreche vom Biber, dem Tier, das für seine architektonischen Meisterleistungen bekannt ist. Es baut Dämme, Brücken und unterirdische Bunker, allerdings nicht bei uns, sondern in Amerika. Ja, früher, da haben sie auch bei uns gebaut, aber in Deutschland sind sie – oder waren es bis vor kurzem – ausgerottet. In meiner Heimatstadt jedenfalls, in Dülmen im Münsterland, hatten wir Biber; das heißt, der Herzog von Croy hatte sie – in einer Biberfarm.

Der Herzog war unser Vermieter. Wir bewohnten ein Einfamilienhaus, das ihm gehörte, direkt neben dem Schloßgarten. Als mein Bruder Hans im Spätherbst 1944 verwundet aus Rußland im Lazarett unserer Heimatstadt gelandet war, atmeten wir auf, weil wir wußten, daß er dort gut gepflegt wurde.

Der 23 Jahre alte, 1,92 Meter große junge Mann wog nur noch 42 Kilo. Aus welch abgelegenem Frontlazarett im fernen Rußland er gekommen war, wußten wir nicht, denn es unterlag der Geheimhaltung. Tatsache war jedenfalls, daß er im heimischen Lazarett in unglaublich kurzer Zeit begann, die abgehungerten Pfunde wieder anzusetzen. Wie wir erfuhren, pflegten alle Krankenschwestern des Lazaretts, sobald sie auf ihren Stationen irgend etwas „Kalorienreiches“ ergattern konnten, den verhungerten „langen Hans“ damit zu füttern. Von meiner Mutter stammt der unerhörte Satz: „Von einem Mastschwein habe ich noch nie gehört, daß es wirklich jeden Tag ein Pfund zulegen kann!“
Unser Hans konnte das! Als er aus dem Lazarett entlassen wurde, weil seine Beinwunden gut verheilt waren und er sich bei Muttern im Heimaturlaub noch weiter erholen sollte, bereitete seine Ernährung schon einige Probleme. Denn die Eltern waren ja keine Selbstversorger, sondern lebten von ihrer Zuteilung auf Lebensmittelkarten, die knapp für sie selbst ausreichten. Verwandte und nahe Freunde, die einen Bauernhof besaßen, hatten wir nicht. Als mein Vater berichtete, daß er für Hans einen tollen Sonntagsbraten bekomme, war meine Mutter glücklich und erst recht, als sie erfuhr, daß es sich nicht um etwas „Schwarzgeschlachtetes“ handelte und somit keine Gefahr bestand, von irgendwelchen Neidhammeln angezeigt zu werden.

Was Schwarzgeschlachtetes war, darüber war mein Vater gut informiert. Er „durfte“ nämlich, wie alle Lehrer, die immer schon um ihre langen Ferien beneidet wurden, diese mit einer für das „Volkswohl“ nützlichen Tätigkeit, einer Viehzählung, ausfüllen, die sich das Regime als eine Ferienbeschäftigung für Lehrer ausgedacht hatte. Vielleicht erinnern sich noch Zeitzeugen daran, wie die Lehrer mit Adreßlisten, Fragebogen und Stiften bewaffnet, von Haus zu Haus zogen, um den Viehbestand „aufzunehmen“. Natürlich zum äußersten Mißfallen der Betroffenen. Wie viele Pferde, Kühe, Ziegen, Schweine, Schafe, Hühner, Gänse und Kaninchen waren im Haushalt vorhanden?

Die Lehrer waren gehalten, selbst nachzuzählen, damit kein Tier übersehen wurde. Es war wichtig für die Erteilung der Schlachterlaubnis und für die Lebensmittelkarten. Die Bürokratie war auch im letzten Kriegsjahr noch gut organisiert und klappte bestens. Biber kamen in den Listen nicht vor, das war meinem Vater bestens bekannt. Vielleicht wurden sie bei der Pelzindustrie ja als „Abfall“ geführt?

Daß sie eßbar waren, wußte er von der herzoglichen Domänenverwaltung, die ihm das großherzige soziale Angebot zugunsten unseres ausgehungerten Rußlandkämpfers gemacht hatte. Wahrscheinlich gab es dort Liebhaber des unbekannten „Wildbrets“? Oder ob sie der herzoglichen Tafel vorbehalten waren?

Dort gab es ja unmögliche Gerichte, wie der Dülmener Kleinstadttratsch genau wußte. Zum Beispiel aß der Herzog „Hühnerfutter“. – Das stelle man sich mal vor! Denn die großen gelbgoldenen Körner des exotischen Getreides namens Mais kannten unsere Dülmener Mitbürger damals nur als „Hühnerfutter“. Wir wußten sogar genau, daß Maiskolben für die herzogliche Tafel in der Schloßgärtnerei gezogen wurden. Schließlich war Schloßgärtners Hilde die Freundin meiner Schwester. Und so hatte meine Mutter die Gelegenheit, auch für unsere heimische „Tafel“ Maiskolben zu erstehen und zuzubereiten – gekocht mit Butter darüber. Großer Zuspruch war dem unbekannten Gemüse bei uns nicht beschieden. Wir blieben lieber bei Möhren, Erbsen, Bohnen, Kohl und Spinat, wie gewohnt.

Mit dem Biberbraten aber war das anders. Wir überließen ihn natürlich unserem Rekonvaleszenten und probierten ihn nur. Das Rezept war das gleiche wie für Stallhasen, aber mit Zwiebeln und Pfeffer, der – äußerst sparsam verwendet – in Resten immer noch vorhanden war. Der Braten geriet recht wohlschmeckend; ich mußte das zugeben, obwohl er mich im „nackten“ Zustande, in dem er den Eindruck einer großen, fetten Ratte erweckte – wie Ratten aussahen, wußten wir damals – ein bißchen gegruselt hatte.


Leipzig, Sachsen; etwa 1946/47

AGFA Wolfen
Rosmarie Bierich

In den ersten Nachkriegsjahren war der Heißhunger auf etwas Süßes unvorstellbar hoch. Die Zuckerzuteilung war äußerst knapp, Würfelzucker gab es schon gar nicht. Auf dem Schwarzmarkt wurde in kleinen Päckchen Sacharin gehandelt, das war Süßstoff, den man sonst nur schwer kaufen konnte.

Ich arbeitete damals in einem Labor für Lebensmittelkontrolle in Leipzig, das den Nahrungsmittelfälschungen energisch nachspürte. Die Lebensmittelgesetze schrieben damals vor, daß Vollmilch 2,5 Prozent Fett (heute 3,2 Prozent) und die Magermilch 0,1 Prozent Fett enthalten mußten, weniger war strafbar. Magermilch wurde wegen ihres Mineralstoffgehaltes angepriesen. Zahnputzpulver durfte nicht über drei Prozent Feinsand enthalten. Zahnpasta gab es nicht. Der Durchschnittswert an Wasser im Brotteig sollte nicht über 50 Prozent betragen. Natürlich entsprach das Brot oft dieser Vorgabe nicht und war klitschig.

Es war die Zeit der Schlagcremes. Ihre Grundlage war uns nicht geheuer, für ihre Herstellung wurde ganz offensichtlich ein Kunststoff verwendet, der dem Cellulosestoff ähnelte, aus dem man Filme herstellte. Dazu kamen natürlich Süßstoff, Aroma und Streckmittel. In geringen Mengen gegessen, verursachte diese Creme kaum Beschwerden, aber nach dem Genuß einiger Löffel voll bekam man Bauchweh. Wir Mädels vom Labor nannten das Zeug kurzweg AGFA Wolfen.

Eines Tages kam ein neuer Hersteller zu uns, der eine weitere Schlagcreme auf den Markt bringen wollte und sich vorher durch uns die Güte und Verwendbarkeit seiner Creme bestätigen lassen wollte. Unser Doktor, der Chef, sah dieser Verhandlung mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
Der Mann erschien, und als erstes baute er im Milchlabor – dort war am meisten Platz – die Apparatur zum Schlagen auf. Er lobte natürlich die Güte seiner Ware über den grünen Klee, während unser Doktor sehr skeptische Bemerkungen dazu fallen ließ. Schließlich verschwanden beide Herren im Chefzimmer und ließen uns mit der cremebekleckerten Apparatur alleine im Labor zurück.

Die Verlockung, die Creme zu kosten, war groß. Zuerst wischte eine Kollegin zaghaft mit dem Finger darüber: „Aaaahhh, etwas Süßes! Kommt mal alle her, hier gibt’s etwas zu naschen!“


Meine Laborkolleginnen und ich, rechts, in der Mittagspause.
Uns hatte die Schlagcreme gemundet.

Auch ich wurde hinzugerufen und gesellte mich schnell zu den anderen, die bereits eifrig mit den Fingern die Creme abwischten und sie dann zum Munde führten. Wir vergaßen bei diesem Genuß alles, denn die Leckerei war zwar auch nur mit Süßstoff versehen, schmeckte aber herrlich süß. Wir wischten und naschten und zuletzt stand die Apparatur blankgeputzt da und sah aus wie frisch poliert.

Dann kam der Hersteller mit unserem Doktor zurück, der offenbar die Genehmigung nicht erteilt hatte, und sah peinlich überrascht auf das, was wir in der Zwischenzeit angestellt hatten. Er war jedoch zynisch-freundlich und sagte: „Sie sehen, Doktor, Ihre Damen sind anderer Meinung!“ Dabei lächelte er vielsagend.

Ob unser Chef seine Entscheidung revidiert hat, ist mir nicht bekannt. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sich unser sehr verantwortungsbewußter Doktor von der blankgeputzten Apparatur beeinflussen ließ.

Mancher Hersteller, das wußten wir, handelte damals mit gesundheitsschädigenden Produkten. Eine zu Unrecht erteilte Genehmigung hätte für viele Menschen üble Auswirkungen haben können.


Gemeinde Forth, Landkreis Erlangen, Mittelfranken;1962

Gehst rüber, gehst nüber
Georg Hörmann

Nach dem Studium an der Pädagogischen Hochschule Augsburg trat ich im Herbst 1962 in Mittelfranken im Landkreis Erlangen meine erste Lehrerstelle an. Nach ein paar Monaten besuchte ich an einem Wochenende mit einigen Junglehrerkollegen einen gemeinsamen Freund bei dessen Eltern in seinem Heimatdorf.

Am Spätnachmittag gingen wir mit unserem Freund in die nahegelegene Dorfwirtschaft, um dort eine Runde Schafkopf zu spielen und Brotzeit zu machen. Wir bestellten Bier und Bratensulzen, aber unser Kollege nur ein Glas Wasser. Er war im ganzen Seminar bekannt wegen seiner Sparsamkeit, die eigentlich schon Geiz war.

In einer Ecke der Gaststube prangte eine hohe Standuhr, im mit Schnitzwerk verzierten Holzrahmen ein fein ziseliertes Messingziffernblatt mit gebläuten Zeigern, darunter ein langer Perpendikel mit einer vergoldeten sonnenartigen Scheibe am Ende, die gleichmäßig im Sekundenrhythmus mit „tick-tack, tick-tack“ hin und her schwang. Beim Anblick dieser sich ständig wiederholenden Bewegung des Pendels hatte ein Kollege namens Günther eine Idee. Zu unserem sparsamen Freund gewandt sprach er: „Du Siegfried, ich zahle dir eine Maß Bier und eine Brotzeit, wenn du fähig bist, eine halbe Stunde lang ohne Unterbrechung und ohne Versprecher im Rhythmus des Perpendikels zu sagen: „Gehst rüber, gehst nüber, gehst rüber, gehst nüber ... Aber das schaffst du mit Sicherheit nicht!“

Darauf der Angesprochene, dessen Ehre und Geiz durch diese Worte gleichermaßen herausgefordert wurden: „Natürlich schaffe ich das! Aber ihr müßt euch ruhig verhalten, ihr dürft mich nicht ablenken und du, Günther, mußt dein Versprechen einlösen, wenn ich gewinne.“
„Ehrensache, wenn du durchhältst, zahle ich.“
Wir wurden ganz ruhig, Siegfried rückte seinen Stuhl vor die Standuhr, verfolgte mit seinen Augen konzentriert das Pendel, Günther schaute auf die Zeiger der Uhr und sprach:
„Also, es ist jetzt gleich 17.15 Uhr. Wenn du bis 17.45 Uhr durchhältst, hast du gewonnen. Aufgepaßt, fertig, los!“
Siegfried fing an zu sprechen:

„Gehst rüber, gehst nüber,
gehst rüber, gehst nüber ...“

Mäuschenstill war es in der Stube. Auch der Wirt beobachtete gespannt das Geschehen. Siegfried wiederholte ruhig und gleichmäßig seine Worte.
Die Zeit lief. Eine Viertelstunde war schon vorbei. Kein Versprecher, keine Unterbrechung.
Nach zwanzig Minuten fürchtete Günther, daß er zahlen müsse. Wie konnte er das verhindern?

Da hatte er anscheinend wieder einen Einfall. Er zupfte mich vorsichtig am Ärmel und bedeutete mir, mit nach draußen zu kommen. Dort sprach er auf mich ein: „Du, ich glaube, der hält durch! Das müssen wir verhindern, daß ich für den Geizhals auch noch eine Brotzeit zahlen muß. Lauf schnell zum Elternhaus von Siegfried, tu ganz aufgeregt und sag seiner Mutter, daß ihr Sohn nicht mehr normal sei, daß alle glauben, er sei verrückt geworden, denn er sitze vor dem Pendel der Standuhr in der Wirtschaft und sage immer ‚gehst rüber, gehst nüber ...’ Keiner wisse, was das zu bedeuten habe und alle hätten schon vergeblich versucht, ihn davon abzubringen, aber alles umsonst. Sage, sie müsse gleich kommen, vielleicht könne sie ihrem Sohn bei diesem Anfall helfen.“
Ich tat, wie aufgetragen.

Fünf Minuten später trat aufgeregt Siegfrieds Mutter in die Gaststube, sah ihren Sohn, umarmte ihn und jammerte flehend: „Ja, Siegfried, was ist denn los? ... So hör doch auf! ... Ich bin’s, deine Mutter! Du bist doch vor einer Stunde noch ganz normal gewesen ...“
Siegfried wollte seine Mutter wegschieben, er versuchte unbeirrt weiterzusprechen, es war kurz vor 17.45 Uhr, es durfte ja keine Unterbrechung eintreten.
Aber seine Mutter fiel ihm um den Hals und sprach laut und heftig auf ihn ein, bis Siegfried plötzlich aus dem Takt kam und schimpfte: „Mutter, du hast mich durcheinandergebracht! Noch zwei Minuten hätte ich mein Sprüchlein aufsagen müssen, dann hätte ich gewonnen. Jetzt habe ich verloren und du bist schuld! Ja, warum bist du überhaupt gekommen?“

Unter lautem Lachen wurde alles aufgeklärt, sogar Siegfried und seine Mutter stimmten ein – diese ganz erleichtert, daß ihr Sohn doch nicht verrückt geworden war – und unter allgemeinem Beifall sprach der Wirt: „Für diesen Spaß spendiere ich dem Siegfried die Brotzeit.“
So waren alle glücklich und zufrieden
.


Überlingen am Bodensee, Baden-Württemberg; Winter 1962 /63

Seegefrörne (gekürzte Fassung)
Elisabeth Uhr

Er hatte die besten Bratwürste, das mußte man zugeben. Immer wenn Markt bei uns in Überlingen am Bodensee war, drängelten sich die Bratwurstesser-Schlangen vor seiner Würstlebude. Ordnungsgemäß, für alle sichtbar, war sein von den Behörden verlangtes Besitzerschild an der Rückwand seiner Bude angebracht. „Otto Schlarpe, Unter-Ach“.
Am Vordach aber, über dem Bratrost, stand auf zwei zirka drei Zentimeter breiten Brettern, die schräg zueinander standen:

Ottos Semmeln sind knuschprig,
seine Bratwürschte sind prima.

Er hatte vollkommen recht. Die Semmeln waren immer knusprig und die Würste besonders gut gebraten. Durch die vielen Jahre, die er zu uns nach Überlingen an den Markttagen kam, kannte er schon fast alle Wurstesser. Im voraus fragte er deshalb meistens schon: „Eine rote Braune?“

Dabei lachte er so freundlich, daß sein verwittertes, hageres Gesicht mit den vielen Fältchen wie von einem feinen Spinnennetz überzogen aussah. Der Ausdruck „Rote Braune“ kam daher, weil eine rote Bratwurst, die hier Schipling genannt wird, so braun und knusprig gebraten war, daß die Haut an manchen Stellen schon aufplatzte.
Die Jahre vergingen. Otto Schlarpe stand bei allen Mai-, Herbst- und Weihnachtsmärkten, ob es regnete oder schneite, immer auf seinem angestammten Platz, rechts neben der Münstertreppe, gegenüber dem berühmten Ölberg.

Doch dann kam der strenge Winter 1962/63. Der Bodensee fror zu. Dieses Ereignis soll in jedem Jahrhundert nur einmal eintreffen, wenn die Natur die Voraussetzungen dazu schafft. Der Winter muß lange genug so kalt sein, daß die Wassertemperatur unter null Grad absinkt, die Außentemperatur muß noch lange, lange sehr kalt bleiben und dazu noch eine totale Windstille eintreten. Wenn das alles stimmt, dann kann es passieren, daß sich der große, tiefe, unruhige Bodensee unter einer Eisdecke schlafen legt. Alle diese Dinge trafen in dem kalten Winter 1962/63 zu, und deshalb hatten wir die Seegefrörne.
(Der Bodensee fror am 6./7. Februar 1963 komplett zu, beendet war die Seegfrörne am 10. März1963, also fast fünf Wochen Eis. Der Bodensee hat eine Länge von 63 km und eine maximale Breite von 14 km. An der tiefsten Stelle zwischen Fischbach und Uttwil ist er 254 m tief.)

... Jetzt begann die Arbeit der Eismeister der drei Anrainer-Staaten Deutschland, Österreich und Schweiz. Sie mußten die Festigkeit des Eises prüfen und die Stellen mit kleinen Tannenbäumchen markieren. Endlich hielt das Eis. Es wurde freigegeben. Auf dem spiegelblanken Parkett begann ein unvergeßliches frohes Treiben. Schlittschuhläufer flitzten vorbei. Radfahrer versuchten ihr Glück. Spaziergänger mit und ohne Hund, Kinderwagenschieber und Schlittenfahrer waren in Massen unterwegs. Die Stadtmusiker gaben auf dem See ein Konzert und das Fasnachtstreiben wurde auf das Eis vor der Promenade verlegt. Autofahrer aus unseren Nachbarstaaten überquerten den See und Segelflieger landeten vor unserer Stadt auf der spiegelnden, klaren Fläche. Die Eisprozession, die bei jeder Seegefrörne Johannes den Evangelisten über den zugefrorenen See trägt, brachte ihn am 12. Februar 1963 von Hagnau, auf der deutschen Seite, zurück nach Münsterlingen, auf der schweizerischen Seite. Dort muß er nun abwarten, bis im nächsten Jahrhundert der Bodensee die Prozession trägt und er den Weg zurück nach Hagnau in Deutschland wieder antreten kann.


Unvergeßlich bleibt ein Spaziergang auf dem zugefrorenen Bodensee 1963, ein faszinierendes, höchst seltenes Naturereignis.

Wunderschön und unvergessen war dieses fröhliche Treiben auf dem zugefrorenen See. Es gab keine Grenzen mehr. Weil einige Zöllner gar nicht Schlittschuh laufen konnten, mußten sie die Schmuggler einfach flitzen lassen.

Glühwein und Bratwurst durften natürlich nicht fehlen. Die vorsichtigen Budenbesitzer bauten ihre Stände am Ufer auf, Otto Schlarpe allerdings ging mit seiner Bratwürstchenbude auf das Eis. Es war ein fabelhaftes Geschäft. Otto Schlarpe strahlte, und es war ein Vergnügen, ihm zuzusehen und zuzuhören. „Deutsch“ konnte er gar nicht sagen, „Deitsch“ war üblich, und so waren natürlich seine Bemerkungen für alle eine Belustigung.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Die Beine unter dem Bratrost gaben nach. Erst unmerklich, und dann stand der Würstlegrill mit einem Ruck schräg. Der Mostrichtopf knallte auf das Eis, und wer nicht sofort zurücksprang, hatte gelbbekleckerte Hosenbeine. Die Bratwürste rollten eine nach der anderen abwärts und landeten zischend auf dem Eis.

Vor Freude wedelten die Hunde mit dem Schwanz und versuchten, sich eine zu stehlen. Die Menschen waren zurückgewichen, nur Otto Schlarpe bemühte sich hastig, die Semmeln und die Wurstvorräte aus der Gefahrenzone zu zerren. Die Gasflaschen machten Mühe, und dann war ja auch noch der heiße Bratrost in Gefahr. Hilfreiche Hände griffen zu, alles wurde gerettet, bis auf die Bratwürstle, die sich die Hunde geschnappt hatten. Das große Geschäft war im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen und so fluchte der Bratwurstbudenbesitzer unaufhörlich: „Himmihergotzaggramentz efixallelujamilextamarsch scheißglumpfaregts ...!“

Nach dem großen Eis kam der Frühling wieder zu uns an den See. Das Eis riß unter mächtigem Donnergetöse kilometerweit auf und türmte sich zu haushohen Bergen auf. Unvergessen bleibt uns allen diese Schönheit. Am Ufer blühten die ersten Blumen, und auf dem Wasser trieben riesige bizarre Eisberge bis tief in den Frühling hinein. Der Mai ließ sich aber nicht aufhalten. Die weißen Schiffe fuhren wieder, und die Segelboote schaukelten wie helle Schmetterlinge auf der silbrigen Fläche unseres Bodensees. Und Otto Schlarpe stand wie eh und je wieder an allen Markttagen neben der Münstertreppe gegenüber dem berühmten Ölberg und bot seine wunderbaren Würste an.


Nidderau-Ostheim, Main-Kinzig-Kreis, Hessen; 1975

Der Club der guten Esser
Heinrich Pieh

Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Darum schließen sich Gleichgesinnte zusammen und gründen Interessengemeinschaften, Vereine oder Clubs. In unserem Dorfe gibt es viele im Umland sehr bekannte Vereine. Wer mag, kann Mitglied werden im Gesangverein, im Fußballverein, im Turnverein, im Schützenverein, im Geflügelzuchtverein, im Hasenverein – die Auswahl ist reichhaltig. In einem Falle sogar kurios. Und über diese Kuriosität sei kurz berichtet.
An einem Juliabend anno 1975, im Gasthaus Kohl, stellte sich anläßlich eines ausgedehnten Dämmerschoppens bei den feuchtfröhlichen Zechern Günter Waas, Heinfried Heppding, Rudi Mehrling und dem Wirt Rudi Kohl ein Rumoren in der Magengegend ein. Diesem unangenehmen Gefühl, sehr bald als Kohldampf diagnostiziert, erbot sich Günter Waas, mit hausgemachter Wurst und rohem Schinken zu Leibe zu rücken. Rudi Kohl stellte Brot und Schanzzeug (Besteck), Rudi Mehrling und Heinfried Heppding kredenzten Bier und Äppelwoi.

Bei diesem zünftigen Schmaus reifte der weise Beschluß, sich fürderhin allwöchentlich einmal zu treffen, wobei die Mahlzeiten wechselweise von den Beteiligten zu stellen seien. Damit hatte die Geburtsstunde des „Clubs der guten Esser“ geschlagen. So beginnt die junge Chronik des ungewöhnlichsten Vereins in der Ostheimer Vereinsgeschichte. „Freßclub“ nennen ihn lästerhafte Zungen. „Club der guten Esser 1975“ steht auf dem Clubsymbol, einem kunstvoll beschrifteten Rinderknochen.

Heute umfaßt der Club vierzehn Mitglieder. Ein Aufnahmestopp ist ausgesprochen. Nunmehr vierzehntägig lassen es sich die Herren schmecken. Alle verbindet ein Interesse: Deftige Gaumenfreuden in Muße und Geselligkeit genießen.

Gelegentlich werden die Clubgrenzen geöffnet und Gastesser, sogenannte „Mitesser“ geladen. Was da bisher geboten wurde, läßt einem die Geschmacksnerven jauchzen: Heringssalat, Brustkern, Käsespezialitäten, Kalbsrollbraten, Stallhasenbraten, Hausmacher Wurst, geräucherte Forellen, Haspel, Stich, Schweineköpfe, Spanferkel – breitgefächerte Hausmannskost also. Heruntergespült wird mit kräftigem Bier und Apfelwein. Wer nach Clubstatuten fragt oder gar nach ideellen Zielen, erhält zur Antwort: „Woas brauche mir suu ebbes? Mir wolle gout esse un trinke un uus näit streire!“
Eine wahrhaft einleuchtende Erklärung.

Die vierzehn Herren treffen sich auch nicht, um nach eifrigem Üben eines Tages den erfolgreichsten Club-Esser nach Menge oder Feingeschmack zu ermitteln oder gar mit einem vielleicht irgendwo in der Bundesrepublik existierenden gleichartigen Club in edlen Eßwettstreit zu treten.

Die Herren treffen sich, um stilvoll ländlich zu essen, zu trinken und Geselligkeit zu pflegen. Und das ausgiebig. Wenn sie mal Abwechslung brauchen, dann laden sie ihre Frauen ein und organisieren ein Fest oder einen Ausflug. Aber immer unter dem Motto: Gut Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Ostheim ist schon ein geselliges Dorf. Seine Vereine und ihr Innenleben sind der beste Beweis.


 

Nidderau-Ostheim, Main-Kinzig-Kreis, Hessen; 1940er Jahre

Not macht erfinderisch
Heinrich Pieh

Während der „Bewirtschaftung“ im letzten Weltkrieg und noch einige Jahre danach war selbst das Leben auf dem Lande schwer geworden. Da war Schmalhans Küchenmeister. Die Nahrungsmittel waren rationiert, Brennstoffe schwer zu beschaffen. Brot, Fleisch, Fett, Mehl, Zucker gab es nur auf Bezugsmarken in verordneten Mengen. Und das auch nicht immer. Also blühte der Tauschhandel. Es war eine erbärmliche Zeit. Darum wurde in allen Lebenslagen versucht, dem Gesetz und seinen Hütern möglichst auszuweichen. Wer im Dorf irgendwie konnte, hielt sich als Lebensversicherung ein Schwein oder auch mehrere. Von Berufs wegen besonders der Landwirt. Damit der Fleischmangel im Lande gerecht verteilt werde, war angeordnet worden, daß die Bauern ihre Viehbestände kontrollieren lassen mußten. So wurde jedes Stück Vieh registriert. Auch wenn ein Schwein oder ein Rind einging, wurde es als Todesfall notiert und der Kadaver von der Abdeckerei in Langendiebach abgeholt.


Reichsfettkarte für Selbstversorger aller Altersstufen mit Butter und Schlachtfetten vom Ernährungsamt Rhein-Main, gültig vom 21. August bis 17. September 1944
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Eines Tages brachte ein Unglücksfall im Schweinestall einen findigen Bauern auf eine wunderbare und folgenreiche Idee. „Woas solle mir dann die Gulasch hole“, sagte er sich, „mei gefreckte Ferkel kräit de Schäfer Wolf fier sei Honn. Däi wolle aach läwe.“ („Meine verreckten Ferkel kriegt der Schäfer Wolf für seine Hunde. Die wollen auch leben.“) Also brachte unser Bauer seine toten Ferkel zum Schäfer, ging dann aufs Rathaus und sagte zum Gemeindeangestellten: „Hurch zou un schreib uff: Elf Frekel hot die Sau geworfe. Ower drei san duut. Däi kannst de wirrer obzäihe. Däi hun aich’m Ludwich fier sei Honn gebroacht.“ („Hör zu und schreibe auf: Elf Ferkel hat die Sau geworfen. Aber drei sind tot. Die kannst du wieder abziehen. Die habe ich dem Ludwig für seine Hunde gebracht.)

Diese Idee der Nächstenhilfe fand Nachahmer – sogar ganz schlaue. Da wurden im Gemeindebuch tote Ferkel als Hundefutter eingetragen, obwohl sie noch munter im Stall umhersprangen. Und die Totenliste wurde lang und länger. Natürlich war dem Gemeindeangestellten klar, was hier gespielt wurde. Doch er schrieb unverdrossen: Drei tote Ferkel für Schäfer Wolf. Zwei tote Ferkel für Schäfer Wolf ...
Nach dem Kriege geschah es gelegentlich, daß aus Hanau eine amerikanisch-deutsche Kontrollkommission anrückte, um den registrierten Viehbestand mit dem tatsächlichen im Stall zu vergleichen. Da gab es natürlich zunächst gewaltiges Herzklopfen. Weil es aber die Amerikaner nicht juckte und den deutschen Kontrolleuren der Magen knurrte, wurden selten oder nie Unregelmäßigkeiten entdeckt. Und unsere Bauern fütterten weiter das Amtsbuch mit nicht vorhandenen Ferkelleichen, damit genug Wurst in der Räucherkammer hing und noch zum Tauschen übrigblieb – Wurst gegen Ware.

Wollte jemand ein Schwein schlachten, trieb er es zur Gemeindewaage und sagte: „Jacob, auf här! Mußt wirrer wäie.“ („Jacob, auf her! Mußt wieder wiegen.“) Der Urte-Jacob wog das Schwein und trug sein Gewicht in ein dickes Buch ein, damit später die drei oder vier Zentner bei der Zuteilung der Fleischmarken berücksichtigt werden konnten. Auch hier wurde ein Schlupfloch gefunden.

Da kam doch eines Tages einer auf den Gedanken, ein großes Schwein zu schlachten, ein kleines aber registrieren zu lassen. Er trieb ein halbwüchsiges Schwein zur Gemeindewaage und sagte: „Jacob, guck dir häi den Hirbstkreppel oo! Es wird nix aus’m. Aich will’n schlochte. Wäi’n emool un schreib uff.“ („Jacob, guck dir den Hirbstkreppel an. Es wird nix aus ihm. Ich will ihn schlachten. Wieg ihn mal und schreibe auf.“) Der Urte-Jacob tat wie gewünscht, und der Bauer trieb seinen „Hirbstkreppel“ zurück in den Stall, damit er weiterwachse. Die ungewogene schwere Sau aber wurde verwurstet.

Diese Art der zusätzlichen Fleischbeschaffung sprach sich schnell herum. Und der Urte-Jacob wunderte sich bald nicht mehr, weshalb ihm so viele „Hirbstkreppel“ zur Feststellung des Schlachtgewichts zugetrieben wurden. Ganz perfekt wurde die Sache, als wochenlang immer der gleiche „Hirbstkreppel“ zur Gemeindewaage gebracht wurde. Er fand schon den Weg alleine. Als „Wäi-Säuche“ (Wiegesau) wurde er zur dörflichen Institution. „Mir ess egal“, sagte der Urte-Jacob und wog Dutzende Male das gleiche Säuchen, „die Leut wolle läwe.“ („Mir ist es egal, ... die Leute wollen leben.“)
Er trug aber immer unterschiedliche Gewichte ein, damit es bei einer Überprüfung nicht auffiel.

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