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Leseproben: [Bitterfeld, Sachsen-Anhalt Leipzig, Sachsen; Januar 1947] Schwarzmarkt Es war bitterkalt in jenem Januar 1947. Frierend stapfte die sechzehnjährige Anna-Maria mit der Mutter auf dem verschneiten Bitterfelder Bahnsteig hin und her. Der eisige Wind pfiff durch die abgetragenen Mäntel und ließ die beiden erschauern. Sie waren nicht die Einzigen, die ungeduldig auf den Zug nach Leipzig warteten. Die Ankunftszeit des Zuges war längst überschritten. Ob er überhaupt noch kam? Dessen konnte man in dieser Zeit nicht sicher sein. Es lag an der fehlenden Steinkohle aus den Schlesischen Bergwerken, die früher die Ostgebiete Deutschlands versorgt hatten, und die nach dem verlorenen Krieg zu den abgetretenen Regionen gehörten. Mit der guten, alten, aber weniger heizkräftigen Braunkohle ging den Lokomotiven unterwegs öfter der Atem aus, und die Züge verspäteten sich oder fuhren gar nicht. Endlich, einige der Wartenden hatten aufgegeben und den Bahnhof schon wieder verlassen, war in der Ferne das Zischen und Schnaufen des herannahenden Zuges zu hören. Langsam fuhr die asthmatisch keuchende Lokomotive in den Bahnhof ein. Die zahlreichen Menschen erstürmten die wenigen Wagen, in denen sie eng aneinandergedrängt saßen oder standen. Anna-Maria glückte es, einen Sitzplatz für die Mutter zu erobern. Flüsternd unterhielten sie sich über ihr Vorhaben. Würde es gelingen? Wie verhielt man sich dort? Sollte man selbst die Initiative ergreifen oder abwarten, bis sie angesprochen wurden? Frau Elmenring war nicht wohl zumute. Nur der Not gehorchend hatte sie sich zu dem Unternehmen überreden lassen, um für ihre siebenköpfige Familie zusätzliche Nahrungsmittel zu beschaffen. Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reichten nicht aus für die heranwachsenden Kinder. Mutters
Ängste waren nicht grundlos, denn ihr Vorhaben verstieß
gegen die Gesetze und konnte bestraft werden. Anna-Maria versuchte,
die Befürchtungen zu zerstreuen: Mutti, sieh dir die Leute
an, die mit uns fahren. Alle haben Beutel, Körbe oder Rucksäcke
bei sich. Was denkst du, wozu? Sie haben sicher das gleiche Ziel wie
wir. Frau
Elmenring sah im Wagen umher. Sie blickte in abgezehrte, bleiche und
besorgte Gesichter, in der Mehrzahl Frauen, bewaffnet mit großen
und kleineren Taschen. Der Zug lief in den großen Bahnhof von Leipzig ein, und die Leute strömten hastig dem Ausgang zu. Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, trabten sie über die Straße auf den weitläufigen Bahnhofsvorplatz, auf dem schon Menschengewimmel herrschte. Wie betäubt ließen sich Anna-Maria und die Mutter mit der Masse mitziehen. Armselige Gestalten in abgetragenen Militärjoppen lungerten in Gruppen in den Ecken herum oder schlenderten suchend umher. Einige Männer in dicken Mänteln mit Pelzkragen gestikulierten heftig miteinander. Frauen blickten sich scheu um, bevor sie jemanden ansprachen oder wenn sie angesprochen wurden. Dann wechselte verstohlen etwas von einer Tasche in die andere, und Geldscheine fanden neue Besitzer. Dazwischen stromerten Jugendliche, die teils schüchtern, teils forsch auch handeln, tauschen und Geschäfte machen wollten. Das war der Schwarzmarkt von Leipzig. Hier wurde gekauft und verkauft, geschachert und gefeilscht, gelogen, betrogen, gehandelt und getäuscht. Hier war der Treffpunkt der Armen und Notleidenden, der Reichen und der Schieber. Hier
war auch das Ziel von Anna-Maria und ihrer Mutter, die für viel
Geld ein Brot erstehen und ihre Zuckermarken gegen ein weiteres Brot
eintauschen wollten. Ein
halbwüchsiger Junge, ärmlich gekleidet, der den beiden Frauen
schon eine Weile gefolgt war, fragte beflissen: Anna-Maria
packte ihre Mutter entschlossen am Handgelenk und stürzte dem
Jungen nach. Gerade noch rechtzeitig entkamen sie, denn auf den Platz
strömten von allen Seiten Polizisten. Wahllos griffen sie zu
und verfrachteten die Leute in die Polizeiwagen. Langsam
gingen sie zwischen den ausgebrannten Häusern weiter. Oft waren
es nur noch Mauern und Ruinen, die schreckliche Hinterlassenschaft
des Krieges. Ein
unbehagliches Gefühl beschlich das Mädchen, es wurde soviel
von Betrügern und Gesindel erzählt. Aber sie hatten es ja
nur mit einem halbwüchsigen Bengel, der gerade den Kinderschuhen
entwachsen war, zu tun. Obwohl, ein Rest Mißtrauen blieb in
ihr. [Lamballe
nahe Paimpol St. Brieuc Bretagne, Lamballe
Mörderische deutsche Minen (gekürzte
Fassung) Um dem Hunger zu begegnen, begannen die Franzosen im Juli 1945 Arbeitskommandos für Landwirtschaft, Bergwerk oder Fabrik zusammenzustellen. Wer geeignet oder qualifiziert war, konnte sich melden, kam raus aus dem Gefangenenlager und erhielt bessere Verpflegung. Rudi, der Ingenieur, konnte so schon bald das Lager verlassen. Ich, 26 Jahre alt, Textilverkäufer und Beamtenanwärter, war nicht gefragt. Ende Juli 1945 suchten die Franzosen wieder Leute für Arbeitskommandos, diesmal ohne nach dem Beruf zu fragen. Ich meldete mich und kam mit 2000 anderen PGs nach Lamballe in der Bretagne. Zwar hausten wir in Baracken, aber mit Arbeitskommandos tat sich vorerst nichts und der Hunger wurde eher noch schlimmer. Hier schloß ich mich Paul an, der etwas älter war als ich und aus dem Westfälischen stammte. Ein Elsässer, ein junger Bursche, war Lagerleiter. Er hatte zuvor in der Deutschen Wehrmacht gedient und spielte sich nun auf. Mit einer Reitpeitsche flanierte er durchs Lager, und wer nicht stramm stand vor ihm, wenn er eine Baracke betrat, bekam eins übergezogen. Noch als amerikanischer Gefangener hatte ich in den Stars & Stripes am Schwarzen Brett vom Problem der deutschen Minen an der Bretagne-Küste gelesen. Hunderttausende Landminen waren wegen der befürchteten Invasion der Alliierten von deutschen Pionieren entlang des sogenannten Atlantikwalls an der Bretagneküste verlegt worden. Die Minen lagen auf dem Feld, im Wald, an Wegen, teils vergraben, teils offen oder versteckt in Unkraut und Büschen. Immer wieder kam es durch Minenexplosionen zu gräßlichen Unglücken unter der französischen Zivilbevölkerung. Ich hatte in den Stars von Bauern gelesen, die beim Pflügen ihrer Felder samt Pferd und Pflug in die Luft gesprengt worden waren. Entsetzlich war die Geschichte einer französischen Familie, die einen Sonntagsspaziergang am Waldrand unternehmen wollte und in ein deutsches Minenfeld geriet, das niemand dort vermutete. Vater und Mutter zerriß es, die beiden Kinder, zwei Mädchen von sechs und zehn Jahren überlebten, schrecklich verstümmelt. Das deutsche Morden, es ging auch ein Vierteljahr nach Kriegsende noch weiter! In
Lamballe waren wir dieser Minenregion nähergekommen. Wir hörten
fast täglich von weiteren Minenunglücken. Auch war bekannt,
daß die Franzosen Anstrengungen unternahmen, die Minen mit Hilfe
deutscher Freiwilliger zu räumen und unschädlich zu machen.
Deminage Kurz vor Abfahrt des Zuges sprangen noch zwei junge französische Soldaten (Poilus) auf die Plattform und blieben dort stehen. Nachdem der Zug eine Weile dahingerattert war, winkten die beiden unseren Bewacher zu sich und begannen mit ihm zu verhandeln. Ihren Gesten und Blicken nach zu urteilen, ging es dabei um Paul und mich. Paul flüsterte mir zu: Nimm lieber schon mal deine Brille ab, sieht so aus, als wollten die beiden uns eine Abreibung verpassen. Dann hörten wir, wie unser Bewacher etwas von deminage (Minenräumen) sagte und volontaire (freiwillig). Die beiden jungen Franzosen, die bisher finster und boxlustig dreingeschaut hatten, strahlten plötzlich. Sie kamen auf Paul und mich zu, klopften uns auf die Schulter, pufften uns freundschaftlich in die Seite, riefen: Bon camerade! Bon camerade! und boten uns Zigaretten an. Ich holte meine Gasmaskenbrille wieder aus der Tasche, setzte sie auf. Tapfer paffte ich die Gauloise, die mir einer der Poilus gegeben und angesteckt hatte, obwohl mir dabei ziemlich übel wurde. Jetzt kam ich am Zielort statt mit einem blauen Auge mit einem grünen Gesicht an, egal: dies war ein Friedenspfeifenritual, das durchgestanden werden mußte! Le
Château Chefmineur Jean Wegen der Aussicht auf bessere Verpflegung. Ein weiteres Motiv bei vielen: gerade wir Deutschen hätten die Pflicht, den Franzosen beim Beseitigen der immer noch todbringenden deutschen Minen zu helfen. Und auch der Gedanke, anzufangen mit so etwas wie Wiedergutmachung, spielte eine Rolle. Daß wir beim Minenräumen unser Leben aufs Spiel setzten, davon sprach keiner. Jeder hoffte, ihn werde es nicht treffen. Die Verpflegung war für unsere Begriffe formidable. Unser Koch, ein Unteroffizier, der auch als Soldat Koch gewesen war, hatte Kontakt aufgenommen zu dem Dorfmetzger. Le boucher lieferte uns das, was seine Kunden nicht mochten und sonst im Abfall landete: Schweineköpfe, Leber, Nieren, sonstige Innereien. Unser Koch verarbeitete sie zu fetten, deftigen Suppen, die uns anfangs oft durchfällig werden ließen. Trotzdem schlangen wir sie in uns hinein und pfiffen auf den Dünnpfiff. ... Als Boß bekamen wir einen Chef-Mineur, der mit uns die deminage betreiben sollte. Er hieß Jean, war kaum älter als 20, ein Bursche aus dem Dorf. Sein salaire soll pro Tag 1000 (alte) Francs betragen haben. Er hatte von Minen nicht vielmehr Ahnung als wir. Jean brachte technische Zeichnungen und Prospekte von diversen Minen mit. Mit seinen paar Brocken Deutsch und unserem bescheidenen Schulfranzösisch näherten wir uns den Minen zunächst auf dem Papier. Anhand von Modellen oder entschärften Minen hätten wir uns natürlich mit diesem Teufelszeug vertrauter machen können. Auch das Minensuchen mit dem Minensuchgerät und das Ausgraben lernten wir zunächst theoretisch. Vorsichtig im Gelände gehend, hielt man das Gerät vor sich und bewegte den Teller dicht über dem Boden langsam hin und her. Ein Summton und ein Lämpchen an der Haltestange zeigten an, ob sich ein Metallgegenstand im Boden befand. Ein Hufeisen konnte das sein, ein rostiger Nagel oder eine Mine. Dann legte man sich hin, und versuchte, vorsichtig mit einem spitzen Metallstab in der Erde stochernd, herauszufinden, was das für ein Gegenstand war. Wars eine Mine, mußte man je nach Minenart genau wissen, wie man damit beim Herausbuddeln mit den Händen umzugehen hatte. Dazu gehörte die Kenntnis der Zünderkonstruktion, um nicht mit dem Höllengerät hochzugehen. Aber diese Minensuche habe ich nie betrieben. ...
Les mines und Jeans Kombizange Wir fanden unter Büschen versteckte, in Gräben von Unkraut halbzugewachsene Minen. Wir fanden schwere Tellerminen, so groß wie eine runde Rührkuchenform, die Panzer und schwere Fahrzeuge in die Luft sprengen konnten. Wir fanden Topfminen, die etwa so groß waren wie eine 1-Liter Pfirsichdose und einen oben angebrachten Anschlußbolzen hatten. Die grub man in die Erde ein, getarnt durch Gras, Laub, Unkraut, im Abstand von zwei bis drei Metern, in versetzter Anordnung und in größeren Gruppen. Dann verband man sie untereinander kreuz und quer mit dünnem Stolperdraht dicht über dem Boden. Trat man auf oder gegen die kaum sichtbaren Drähte, sprangen zwei, drei Topfminen gleichzeitig einen halben Meter hoch, detonierten und verspritzten ihren tödlichen oder schwer verletzenden Inhalt: Metallstücke, Kleinschrott, Bleikugeln. Nur kranke Hirne konnten sich so etwas ausdenken! Außerdem fanden wir Kastenminen, Blechkästen etwa so groß wie zwei große aneinandergestellte Zigarrenkisten, die wir noch nicht kannten. Mit großer Vorsicht trugen wir die etwa 100 Minen zur Landstraße und legten sie entlang der Straßenböschung in einer Reihe vorsichtig nebeneinander ins Gras. Die würden später von Sprengexperten entschärft und abtransportiert, erklärte Jean in seinem gebrochenen Deutsch. Wir waren fertig mit der Arbeit, wollten gehen. Alors, sagte Jean, er wolle uns noch kurz die Kastenminen erklären, er kenne sie. Er nahm eine, legte sie mitten auf die Straße und winkte uns herbei, wir stellten uns im Kreis um ihn und die Mine. Die Kastenmine war ein primitives Gerät, offenbar ein hastiges Spätkriegsprodukt. Der Deckel der Mine war am unteren Rand mit sechs Drähten befestigt. Jean drehte die Drähte mit einer Kombizange vorsichtig auf und zog sie langsam aus den Haltelöchern. Er versuchte, den Deckel abzuheben, doch der saß fest, war wohl angerostet durch das lange Liegen im Freien. Merde!
schimpfte er, nahm die Kombizange und klopfte damit einmal leicht
gegen den Minendeckel. Zwei
von uns waren Apfelpflücken gegangen. Sie kamen jetzt angerannt,
leicht verwundet an Kopf und Arm, versuchten, völlig aufgelöst,
irgendwie zu helfen. Schließlich tat einer das einzig Vernünftige,
er rannte ins Dorf, Hilfe holen. Ich sah an mir lang. Von den Schuhen bis zu den Knien waren meine Hosenbeine zerfetzt und blutdurchtränkt. Meine schweren Bergstiefel lagen nach links und rechts gedreht. Zu denen bestand keine Verbindung mehr, die Knochen mußten durch sein. Als ich versuchte, mich zu bewegen, schmerzten die Beine furchtbar. Ich wollte mich aufsetzen, die verdammten schweren Schuhe ausziehen. Das klappte nicht, ich fiel wieder zurück. Hôpital
St. Brieuc Das Hospital in St. Brieuc hatte man wohl schon telefonisch informiert. Als wir ankamen, standen Ärzte, Schwestern, Sanitäter bereit, trugen uns in Eile auf Tragen ins Krankenhaus der kleinen Stadt. Daß ich nicht verblutet bin erste Hilfe am Unglücksort gab es nicht und bei Bewußtsein blieb während der gut zwei Stunden, bis ich auf dem OP-Tisch lag und die Narkose bekam, ist mir ein Rätsel. Erlebt habe ich die zwei Stunden wie in einer Art Trance mit ständigem Dröhnen in Ohren und Kopf. Ich nahm alles wahr, was um mich herum und mit mir geschah. Aber in gewisser Weise indirekt so, als geschähe das alles nicht mir, sondern einem anderen. Deutlich erinnere ich mich noch an die blassen, erschrockenen Gesichter des Krankenhauspersonals, als sie uns in Empfang nahmen am Hospitaleingang. Beintunnel Langsam drückte ich mich im Bett hoch zum Sitzen, erst mit den Ellenbogen, dann mit den Händen, es schmerzte wahnsinnig. Gestützt auf die linke Hand, tastete ich mit der rechten nach meinen Beinen, fühlte zwei dicke Verbände an den Oberschenkeln, tastete weiter jetzt mußten die Knie kommen, die Unterschenkel doch da war nichts mehr auf beiden Seiten! Ich fiel zurück ins Bett. Als sich das Gedanken-Chaos in meinem Kopf gelegt hatte und ich wieder halbwegs normal denken konnte, war mein erster Gedanke der an meine Mutter. Während des Krieges hatte man sie mit einem Darmdurchbruch ins Krankenhaus gebracht: Operation, künstlicher Darmausgang; als hoffnungslosen Fall schob man sie ins Sterbezimmer. Sie war sehr willensstark und gläubig, betete, wie sie uns später sagte. Für die Ärzte unerklärlich: Ihr Darmdurchbruch schloß sich wieder. Geheilt kam sie nach Hause. Christus, so ihre feste Überzeugung, habe ihr geholfen. In Wirklichkeit war es gewiß ihr starker Wille. Und mein Verstand meldete sich wieder. Zurückdenken war sinnlos, mir blieb nur Vorwärtsdenken. Meine Hände, Arme, Augen waren intakt. Ich hatte keine inneren Verletzungen Verglichen mit dem Torsomann hatte ich großes Glück gehabt, der starb bald. Beine konnte man ersetzen. Während des Krieges war ich im Urlaub Soldaten mit einer Beinprothese begegnet, die Dienst taten in der Kaserne oder wieder beruflich tätig waren. Ich wußte, die Deutschen waren Meister im Zerstören von Menschen, aber auch Meister im Prothesenbau. Ich schlief wieder ein. Als ich am Morgen aufwachte, standen um mein Bett mehrere Schwestern und ein stämmiger Sanitäter. Nach ihren ernsten Mienen und besorgten Blicken zu urteilen, schienen sie auf etwas Furchtbares gefaßt. Sie wollten mir wohl schonend beibringen, daß ich beide Beine verloren hatte, wußten nur nicht recht wie. Da war das Sprachproblem, und sie fürchteten sicherlich meine Reaktion. Auch fiel mir jetzt auf, daß ich in einem vergitterten Bett lag. Eine Weile sahen wir uns stumm an. Schließlich ihre Gesichter waren so merkwürdig ernst mußte ich grinsen. Das machte sie vollends nervös. Ich klaubte mein bißchen Schulfranzösisch zusammen und sagte: Je sais, je n`ai plus des jambes. (Ich weiß, ich habe keine Beine mehr.) Ihre Gesichter entkrampften sich, sie waren sichtlich erleichtert. Krankensaal
Hôpital St. Brieuc ...
Heimkehr Das
waren quälende Fragen.
Hier alle wohlauf, das Haus steht noch und ist ganz. Unterschrift Marianne und Kurt. Das waren meine Schwester und ihr frisch angetrauter Mann, den ich noch nicht kannte. Daß sie sozusagen zu dritt kamen, sah ich erst später. Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen. Eine Woche darauf waren sie bei mir in Tuttlingen. Marianne und Kurt wußten bereits, was mit meinen Beinen passiert war. Ein aus dem Lazarett Rennes entlassener Gefangener aus unserer Gegend Landwirte kamen schon eher nach Hause war kurz nach Weihnachten 1945 in Obervellmar gewesen und hatte von mir berichtet. Mama und Papa waren gefaßt. Sie mußten und konnten es sein. Außer den Beinen fehlte mir ja nichts. Später sagte mir mal ein Vater, dessen einziger Sohn mit 19 gefallen war: Wäre unser Junge doch nur so zurückgekommen wie Sie! Mama
hatte den beiden was zum Essen und Anziehen für mich mitgegeben.
Und sie vertrauten mir auch das bei meiner Schwester nicht zu übersehende
Geheimnis an, daß ich bald Onkel werden würde. Das Leben
also, es ging weiter, trotz Besatzung, in die Hose gegangenem Endsieg,
trotz Vierzonen-Deutschland, trostlosen Trümmerstädten,
Hunger. Ende März 1946 kamen Kurt und Fritz nach einer strapaziösen Reise in rappelvollen Personenzügen in Tuttlingen an. Vom Roten Kreuz besorgten sie einen Rollstuhl, ein altehrwürdiges Gerät aus Holz mit Eisenreifen auf den Holzrädern, sicherlich ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg. Ab 19 Uhr bis morgens 7 Uhr war Sperrstunde in der Stadt. Während dieser Zeit durfte sich kein Deutscher auf der Straße sehen lassen, sonst wurde er eingesperrt. Da unser Zug gegen 5 Uhr morgens fuhr, mußten wir vor Beginn der Sperrstunde im Bahnhof sein. Und so ratterten wir um 6 Uhr nachmittags mit unserem klapprigen Rollstuhl los. Die wenigen Tuttlinger, die an uns vorbeihasteten, begafften unser schepperndes Rollstuhl-Trio. Wir rumpelten in den Bahnhof. Einen Teil des Wartesaals hatte das Rote Kreuz mit Latten und grauen Decken abgeteilt und dahinter einen Schlafverschlag eingerichtet, wo Holzbetten mit schmuddeligen Matratzen standen. Dort sollten wir es uns bis zur Ankunft des Zuges bequem machen. Wir versuchten, ein bißchen zu schlafen, dabei banden Kurt und Fritz ihr Gepäck an sich fest. Die Rotkreuzleute warnten uns, hier werde alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist. Einige Betten waren zusätzlich mit Decken zugehängt. Dahinter spielten sich in der Nacht mehr oder weniger deutlich hörbar Szenen der käuflichen Liebe ab. Im
Verlauf der Reise schleppten Fritz und Kurt mich abwechselnd huckepack.
Als der Zug einrollte, nahm einer von beiden mich auf den Rücken,
der andere trug beider Gepäck, so marschierten wir auf den Bahnsteig.
Während einer mich auf seinem Rücken den Zug entlang schleppte,
versuchte der andere, in einem der proppenvollen Wagen Platz für
uns drei zu finden. Es war unmöglich. Selbst auf den Trittbrettern
standen die Menschen. Er kletterte die Trittbretter rauf zum Dienstabteil für Schaffner, schloß die Tür auf, schob uns schnell ins Abteil und schloß wieder ab. Wir staunten nicht schlecht: Im Abteil saßen bereits etliche Reisende, die es sich auf den Bänken bequem gemacht hatten. Der Zug fuhr an, der Schaffner kam ins Abteil, dann ging uns ein Licht auf: Der Schaffner setzte sich und nahm entgegen, was man ihm von allen Seiten reichte: Amizigaretten, Speckiges, in fettiges Papier gewickelt, eine halbe Tafel Schokolade, ein Gläschen Honig, ein halbes Brot, eine Tüte, die nach Bohnenkaffee roch. All das verstaute unser Wohltäter fein säuberlich in seiner extragroßen ledernen Diensttasche. In Kornwestheim bei Stuttgart mußten wir umsteigen. Wieder machten wir uns auf den Pilgergang entlang des übervollen Zuges. Diesmal rettete uns ein hilfsbereiter Mitmensch im Zug. Als er Kurt und Fritz sah, ich auf dem Rücken von einem der beiden, kurbelte er ein Fenster hinunter und winkte uns. Mehrere Hände hoben, hievten, stießen mich durchs Fenster ins Abteil. Irgendwie schafften auch Kurt und Fritz den Einstieg durchs Fenster. Auf Beinen, Knien, Säcken, Koffern hockte ich im Dunst von Schweiß, halbfaulen Kartoffeln und dem Qualm von beißendem Eigenbau-Tabak, gemischt mit Kräutertee und Amikippen. Wieviele Stunden die Zug-Odyssee gedauert hat, ich weiß es nicht mehr. Am späten Abend kamen wir in Kassel an. Angesichts der undurchdringlichen Mauer von Menschenleibern um uns blieb als einziger Ausstieg das Abteilfenster. Das schafften wir ruckzuck, hatten wir ja schon Übung, außerdem beflügelte uns der Anblick des Heimatbahnhofs Kassel, war er auch noch so lädiert. Meine beiden Träger schleppten mich zum Bahnhofsvorplatz, wo Schmied Löwer mit seinem alten Leukoplast-DKW stand. Er hatte sich erboten, uns abzuholen und hatte dort schon eine lange Zeit geduldig gewartet. Kurt, Fritz und Schmied Löwer, die drei Wackeren, haben mich zu Hause wohlbehalten abgeliefert. Und so saß ich Ende März 1946 wieder auf dem Sofa in der Küche. Im Haus Nr. 11 in der August-Bebel-Straße, die zuvor tausend Jahre Adolf-Hitler-Straße und davor Alte Holländische Straße hieß. Und während Papa an seiner krummen Pfeife kaute und nichts sagen konnte, fragte Mama: Was möchtest du denn gern essen? Soll ich dir ein Omelett backen? [Berlin, 19461949] Elisabeth Dörffel hilft im Januar 1946 bei der DEFA-Produktion "Augenzeuge" mit. Der "Augenzeuge" war eine aktuelle Wochenschau in der Sowjetischen Besatzungszone, die sich unter anderem der Menschen annahm, die ihre Angehörigen suchten. Die Aufgabe der jungen Frau bestand in der Durchführung der Suchaktion, in der Kinder ihre Eltern suchten oder Eltern ihre Kinder. Kinder
suchen ihre Eltern (Auszug) Einmal
besuchten wir den Zoologischen Garten in Berlin. Eine lange Schlange
von Kindern strömte, begleitet von Pflegeeltern oder Kinderheimpflegerinnen,
durch das Haupttor. Wir hatten sie eingeladen, um hier die Außenaufnahmen
für unsere Bilderreihe Kinder suchen ihre Eltern zu
machen. Für viele Kinder war es der erste Besuch in einem Zoo,
und oft erschallte lautes Lachen zwischen den Aufnahmen. Die Kinder
waren entspannter, gelöster als im Atelier. Den 13-Jährigen
Werner Kolmer, der auf der Flucht aus Danzig seine Mutter und vier Geschwister
verloren hatte, nahmen wir als ersten auf. Faul lümmelten im Hintergrund
die Löwen im Gras herum, während Werner mit einem Schildchen
mit seinem Namen vor der Brust gefilmt wurde. Hoffentlich sieht ihn
seine Mutter bald irgendwo im Kino, dies war mein größter
Wunsch bei jedem gefilmten Kind. Bubi Vollandt vor der Kamera im Berliner Zoo. Links im Bild stehe ich. (...) Wieder
einmal wurde gefilmt und Kinder im Augenzeugen gezeigt.
Diesmal waren auch die Brüder Reinhard und Adam Kreb dabei. Sie
erzählten ihre Erlebnisse. Im Winter 1944/45 waren sie auf dem
Treck und verloren erst ihren Vater und eine ältere Schwester aus
den Augen, wenig später auch die Mutter und die drei Schwestern.
Nach einer abenteuerlichen Flucht mit einem deutschen Soldaten kamen
die beiden Jungen im Frühjahr 1945 nach Teltow. Von dort wurden
sie von einem Amerikaner mit nach Berlin genommen und in einem Kinderheim
abgegeben.
Dieses Wiederfinden war eines der ergreifendsten und schönsten Erlebnisse für mich. |