Leseprobe

Also packten wir es an
Deutschland 1945-1947

Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
384 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 21
ISBN 3-86614-121-1

12,90 EUR


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Leseproben:
Schwarzmarkt, Annemarie Böhmer-Gentzsch
Lamballe - Mörderische deutsche Minen Hans Braun
Kinder suchen ihre Eltern, Elisabeth Dörffel


[Bitterfeld, Sachsen-Anhalt – Leipzig, Sachsen; Januar 1947]

Schwarzmarkt
Annemarie Böhmer-Gentzsch

Es war bitterkalt in jenem Januar 1947. Frierend stapfte die sechzehnjährige Anna-Maria mit der Mutter auf dem verschneiten Bitterfelder Bahnsteig hin und her. Der eisige Wind pfiff durch die abgetragenen Mäntel und ließ die beiden erschauern. Sie waren nicht die Einzigen, die ungeduldig auf den Zug nach Leipzig warteten. Die Ankunftszeit des Zuges war längst überschritten. Ob er überhaupt noch kam?

Dessen konnte man in dieser Zeit nicht sicher sein. Es lag an der fehlenden Steinkohle aus den Schlesischen Bergwerken, die früher die Ostgebiete Deutschlands versorgt hatten, und die nach dem verlorenen Krieg zu den abgetretenen Regionen gehörten. Mit der guten, alten, aber weniger heizkräftigen Braunkohle ging den Lokomotiven unterwegs öfter der Atem aus, und die Züge verspäteten sich oder fuhren gar nicht.

Endlich, einige der Wartenden hatten aufgegeben und den Bahnhof schon wieder verlassen, war in der Ferne das Zischen und Schnaufen des herannahenden Zuges zu hören. Langsam fuhr die asthmatisch keuchende Lokomotive in den Bahnhof ein. Die zahlreichen Menschen erstürmten die wenigen Wagen, in denen sie eng aneinandergedrängt saßen oder standen. Anna-Maria glückte es, einen Sitzplatz für die Mutter zu erobern. Flüsternd unterhielten sie sich über ihr Vorhaben. Würde es gelingen? Wie verhielt man sich dort? Sollte man selbst die Initiative ergreifen oder abwarten, bis sie angesprochen wurden?

Frau Elmenring war nicht wohl zumute. Nur der Not gehorchend hatte sie sich zu dem Unternehmen überreden lassen, um für ihre siebenköpfige Familie zusätzliche Nahrungsmittel zu beschaffen. Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reichten nicht aus für die heranwachsenden Kinder.

Mutters Ängste waren nicht grundlos, denn ihr Vorhaben verstieß gegen die Gesetze und konnte bestraft werden. Anna-Maria versuchte, die Befürchtungen zu zerstreuen: „Mutti, sieh dir die Leute an, die mit uns fahren. Alle haben Beutel, Körbe oder Rucksäcke bei sich. Was denkst du, wozu? Sie haben sicher das gleiche Ziel wie wir.“ Frau Elmenring sah im Wagen umher. Sie blickte in abgezehrte, bleiche und besorgte Gesichter, in der Mehrzahl Frauen, bewaffnet mit großen und kleineren Taschen.
„Ja, mein Kind“, seufzte sie, „vielleicht hast du recht, und ich bin sicher zu ängstlich. Es wird schon alles gutgehen“, sprach sie sich selbst Mut zu. Trotzdem verlor sie ihr Herzklopfen nicht.

Der Zug lief in den großen Bahnhof von Leipzig ein, und die Leute strömten hastig dem Ausgang zu. Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, trabten sie über die Straße auf den weitläufigen Bahnhofsvorplatz, auf dem schon Menschengewimmel herrschte. Wie betäubt ließen sich Anna-Maria und die Mutter mit der Masse mitziehen. Armselige Gestalten in abgetragenen Militärjoppen lungerten in Gruppen in den Ecken herum oder schlenderten suchend umher. Einige Männer in dicken Mänteln mit Pelzkragen gestikulierten heftig miteinander. Frauen blickten sich scheu um, bevor sie jemanden ansprachen oder wenn sie angesprochen wurden.

Dann wechselte verstohlen etwas von einer Tasche in die andere, und Geldscheine fanden neue Besitzer. Dazwischen stromerten Jugendliche, die teils schüchtern, teils forsch auch handeln, tauschen und Geschäfte machen wollten.

Das war der Schwarzmarkt von Leipzig. Hier wurde gekauft und verkauft, geschachert und gefeilscht, gelogen, betrogen, gehandelt und getäuscht. Hier war der Treffpunkt der Armen und Notleidenden, der Reichen und der Schieber.

Hier war auch das Ziel von Anna-Maria und ihrer Mutter, die für viel Geld ein Brot erstehen und ihre Zuckermarken gegen ein weiteres Brot eintauschen wollten.
Zögernd mischten sie sich unter die Menge. Von allen Seiten flüsterte und raunte es:
„Habt ihr Kaffee?“
„Ich biete Milchpulver, ganz billig!“
„Gute Seife?“
„Kakao? Schokolade?“
„Zigaretten?“
„Wieviel?“ wurde gezischelt.
„Was gibst du?“ tuschelte es verlangend.
Emsiges Leben und Treiben, lautlos, fast gespenstisch, bestimmte die Atmosphäre des Platzes.

Ein halbwüchsiger Junge, ärmlich gekleidet, der den beiden Frauen schon eine Weile gefolgt war, fragte beflissen:
„Braucht ihr Brot?“
Anna-Maria nickte.
Abschätzend sah der Junge die beiden an.
„Was bietet ihr?“
„Geld und Zuckermarken.“
„Geht klar! Die Brotmarken hat meine Mutter. Ich muß sie von zu Hause holen. Am besten ihr kommt mit, weg von hier. Es ist nicht weit.“
Auf dem Platz entstand plötzlich Unruhe. Ein durchdringender Pfiff ertönte.
„Haut ab“, stieß der Junge hastig hervor, „Razzia!“
Er flitzte zur gegenüberliegenden Straße und verschwand zwischen den Häusern.

Anna-Maria packte ihre Mutter entschlossen am Handgelenk und stürzte dem Jungen nach. Gerade noch rechtzeitig entkamen sie, denn auf den Platz strömten von allen Seiten Polizisten. Wahllos griffen sie zu und verfrachteten die Leute in die Polizeiwagen.
„Oh Gott, oh Gott“, jammerte Frau Elmenring atemlos, „ich habe doch geahnt, daß es nicht gut geht. Hoffentlich kommt uns niemand nach.“
Angstvoll schaute sie sich um.
„Mutti, beruhige dich, wir sind in Sicherheit. Für uns kleine Leute interessiert sich die Polizei weniger, die Schieber werden bestraft.“
Anna-Maria versuchte, die Mutter zu trösten.

Langsam gingen sie zwischen den ausgebrannten Häusern weiter. Oft waren es nur noch Mauern und Ruinen, die schreckliche Hinterlassenschaft des Krieges.
Was nun? Ob der Bursche wohl wiederkam?
Plötzlich stand er vor ihnen, grinste und wies sie an, mitzukommen. Er führte sie in eine Passage, die auf einen engen, dunklen Hof mit uralten Häusern mündete. Abgeblätterte Fassaden, leere Fensterhöhlen und schief in den Angeln hängende Haustüren vervollständigten den verwahrlosten Eindruck der meisten Gebäude. Der Junge zeigte auf das oberste Stockwerk eines Hauses.
„Da oben wohne ich mit meiner Mutter. Die Brotmarken gibt sie mir nur, wenn ich ihr das Geld und die Zuckermarken bringe. Ich bin gleich wieder da.“
Die Mutter gab ihm das Verlangte und der Junge verschwand damit blitzschnell in der maroden Haustür. Verdutzt sahen sich Mutter und Tochter an. Hier sollte jemand wohnen?

Ein unbehagliches Gefühl beschlich das Mädchen, es wurde soviel von Betrügern und Gesindel erzählt. Aber sie hatten es ja nur mit einem halbwüchsigen Bengel, der gerade den Kinderschuhen entwachsen war, zu tun. Obwohl, ein Rest Mißtrauen blieb in ihr.
Die Minuten verstrichen, niemand kam.


[Lamballe – nahe Paimpol – St. Brieuc – Bretagne,
Juli/August 1945]

Lamballe – Mörderische deutsche Minen (gekürzte Fassung)
Hans Braun

Um dem Hunger zu begegnen, begannen die Franzosen im Juli 1945 Arbeitskommandos für Landwirtschaft, Bergwerk oder Fabrik zusammenzustellen. Wer geeignet oder qualifiziert war, konnte sich melden, kam raus aus dem Gefangenenlager und erhielt bessere Verpflegung. Rudi, der Ingenieur, konnte so schon bald das Lager verlassen. Ich, 26 Jahre alt, Textilverkäufer und Beamtenanwärter, war nicht gefragt.

Ende Juli 1945 suchten die Franzosen wieder Leute für Arbeitskommandos, diesmal ohne nach dem Beruf zu fragen. Ich meldete mich und kam mit 2000 anderen PGs nach Lamballe in der Bretagne. Zwar hausten wir in Baracken, aber mit Arbeitskommandos tat sich vorerst nichts und der Hunger wurde eher noch schlimmer. Hier schloß ich mich Paul an, der etwas älter war als ich und aus dem Westfälischen stammte. Ein Elsässer, ein junger Bursche, war Lagerleiter. Er hatte zuvor in der Deutschen Wehrmacht gedient und spielte sich nun auf. Mit einer Reitpeitsche flanierte er durchs Lager, und wer nicht stramm stand vor ihm, wenn er eine Baracke betrat, bekam eins übergezogen.

Noch als amerikanischer Gefangener hatte ich in den „Stars & Stripes“ am Schwarzen Brett vom Problem der deutschen Minen an der Bretagne-Küste gelesen. Hunderttausende Landminen waren wegen der befürchteten Invasion der Alliierten von deutschen Pionieren entlang des sogenannten Atlantikwalls an der Bretagneküste verlegt worden. Die Minen lagen auf dem Feld, im Wald, an Wegen, teils vergraben, teils offen oder versteckt in Unkraut und Büschen.

Immer wieder kam es durch Minenexplosionen zu gräßlichen Unglücken unter der französischen Zivilbevölkerung. Ich hatte in den „Stars“ von Bauern gelesen, die beim Pflügen ihrer Felder samt Pferd und Pflug in die Luft gesprengt worden waren. Entsetzlich war die Geschichte einer französischen Familie, die einen Sonntagsspaziergang am Waldrand unternehmen wollte und in ein deutsches Minenfeld geriet, das niemand dort vermutete. Vater und Mutter zerriß es, die beiden Kinder, zwei Mädchen von sechs und zehn Jahren überlebten, schrecklich verstümmelt. Das deutsche Morden, es ging auch ein Vierteljahr nach Kriegsende noch weiter!

In Lamballe waren wir dieser Minenregion nähergekommen. Wir hörten fast täglich von weiteren Minenunglücken. Auch war bekannt, daß die Franzosen Anstrengungen unternahmen, die Minen mit Hilfe deutscher Freiwilliger zu räumen und unschädlich zu machen.
Die Tage vergingen, der Hunger quälte. Viele Gefangene verfielen in Apathie. Paul und ich beschlossen: Beim Aufruf zum nächsten Arbeitskommando melden wir uns.

Deminage
Anfang August 1945 wurden eines Morgens per Lautsprecher zwei Freiwillige für ein Minenräumkommando gesucht. Paul und ich überlegten nicht lange. Wir griffen das wenige Gepäck, das wir hatten, und meldeten uns bei der Lagerleitung. Ein Franzose aus dem Dorf, in das wir gebracht werden sollten, nahm uns in Empfang. Er war in Zivil, trug am linken Arm eine Armbinde, die ihn als Hilfspolizist auswies, und hatte ein Gewehr umgehängt. Wir gingen zum Bahnhof, kletterten in den noch leeren Waggon eines Bummelbähnchens, setzten uns hin. Wir waren guter Laune; das Hungerleben hatten wir hinter uns, für uns war dies nach vielen Monaten die erste „Reise“ in ziviler Umgebung. Allmählich füllte sich der Waggon, meist Frauen mit Körben und Kiepen. Sie begannen zu tuscheln, maßen uns mit zornigen Blicken. Schließlich riefen die Frauen unserem Bewacher etwas zu. Der gab uns mit einem Achselzucken zu verstehen, wir sollten aufstehen und auf die Plattform vor die Wagentür gehen.

Kurz vor Abfahrt des Zuges sprangen noch zwei junge französische Soldaten („Poilus“) auf die Plattform und blieben dort stehen. Nachdem der Zug eine Weile dahingerattert war, winkten die beiden unseren Bewacher zu sich und begannen mit ihm zu verhandeln. Ihren Gesten und Blicken nach zu urteilen, ging es dabei um Paul und mich. Paul flüsterte mir zu: „Nimm lieber schon mal deine Brille ab, sieht so aus, als wollten die beiden uns eine Abreibung verpassen.“

Dann hörten wir, wie unser Bewacher etwas von „deminage“ (Minenräumen) sagte und „volontaire“ (freiwillig). Die beiden jungen Franzosen, die bisher finster und boxlustig dreingeschaut hatten, strahlten plötzlich. Sie kamen auf Paul und mich zu, klopften uns auf die Schulter, pufften uns freundschaftlich in die Seite, riefen: „Bon camerade! Bon camerade!“ und boten uns Zigaretten an.

Ich holte meine Gasmaskenbrille wieder aus der Tasche, setzte sie auf. Tapfer paffte ich die Gauloise, die mir einer der Poilus gegeben und angesteckt hatte, obwohl mir dabei ziemlich übel wurde. Jetzt kam ich am Zielort statt mit einem blauen Auge mit einem grünen Gesicht an, egal: dies war ein Friedenspfeifenritual, das durchgestanden werden mußte!

Le Château – Chefmineur Jean
Wir stiegen aus in einem Dorf unweit der Atlantikküste. An den Dorfnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muß in der Nähe von Paimpol gewesen sein. Unser Wächter brachte uns zu einem alten Château, in dem schon ein Dutzend PGs wohnten. Das Château stand abseits des Ortes in einem großen verwilderten Garten, der von einer schulterhohen verwitterten Steinmauer umgeben war. Wir fühlten uns großartig, endlich wieder in einem Haus zu wohnen mit Zimmern und ein paar Möbeln, wenn auch wurmstichig und wacklig. Weitere PGs kamen in den nächsten Tagen, bis wir 50 Mann waren. Es war eine bunte Truppe, keiner war Pionier gewesen, wir alle hatten absolut keine Ahnung vom Minenräumen. Möglich, daß anderenorts in Frankreich deutsche Gefangene zum Minenräumen gezwungen wurden. Wir 50 hatten uns alle freiwillig gemeldet. Warum?

Wegen der Aussicht auf bessere Verpflegung. Ein weiteres Motiv bei vielen: gerade wir Deutschen hätten die Pflicht, den Franzosen beim Beseitigen der immer noch todbringenden deutschen Minen zu helfen. Und auch der Gedanke, anzufangen mit so etwas wie Wiedergutmachung, spielte eine Rolle. Daß wir beim Minenräumen unser Leben aufs Spiel setzten, davon sprach keiner. Jeder hoffte, ihn werde es nicht treffen.

Die Verpflegung war für unsere Begriffe „formidable“. Unser Koch, ein Unteroffizier, der auch als Soldat Koch gewesen war, hatte Kontakt aufgenommen zu dem Dorfmetzger. Le boucher lieferte uns das, was seine Kunden nicht mochten und sonst im Abfall landete: Schweineköpfe, Leber, Nieren, sonstige Innereien. Unser Koch verarbeitete sie zu fetten, deftigen Suppen, die uns anfangs oft „durchfällig“ werden ließen. Trotzdem schlangen wir sie in uns hinein und pfiffen auf den „Dünnpfiff“.

... Als Boß bekamen wir einen „Chef-Mineur“, der mit uns die deminage betreiben sollte. Er hieß Jean, war kaum älter als 20, ein Bursche aus dem Dorf. Sein salaire soll pro Tag 1000 (alte) Francs betragen haben. Er hatte von Minen nicht vielmehr Ahnung als wir. Jean brachte technische Zeichnungen und Prospekte von diversen Minen mit. Mit seinen paar Brocken Deutsch und unserem bescheidenen Schulfranzösisch näherten wir uns den Minen zunächst auf dem Papier. Anhand von Modellen oder entschärften Minen hätten wir uns natürlich mit diesem Teufelszeug vertrauter machen können.

Auch das Minensuchen mit dem Minensuchgerät und das Ausgraben lernten wir zunächst theoretisch. Vorsichtig im Gelände gehend, hielt man das Gerät vor sich und bewegte den Teller dicht über dem Boden langsam hin und her. Ein Summton und ein Lämpchen an der Haltestange zeigten an, ob sich ein Metallgegenstand im Boden befand. Ein Hufeisen konnte das sein, ein rostiger Nagel oder eine Mine. Dann legte man sich hin, und versuchte, vorsichtig mit einem spitzen Metallstab in der Erde stochernd, herauszufinden, was das für ein Gegenstand war. War’s eine Mine, mußte man – je nach Minenart – genau wissen, wie man damit beim Herausbuddeln mit den Händen umzugehen hatte. Dazu gehörte die Kenntnis der Zünderkonstruktion, um nicht mit dem Höllengerät hochzugehen. Aber diese Minensuche habe ich nie betrieben.

... Les mines und Jeans Kombizange
Am 20. August 1945, es war ein warmer Spätsommertag, machten wir uns am frühen Nachmittag auf den Weg zu unserer ersten Minensuche, 30 PGs und Chefmineur Jean, Geräte hatten wir nicht dabei. Vom Dorf aus führte eine ungeteerte Landstraße, an der alte Apfelbäume standen, etwa fünf Kilometer bergan in südlicher Richtung bis zum Abzweig eines breiteren Feldweges. In den Gräben des Feldweges wucherte Unkraut und standen Büsche. Das Dorf konnten wir von hier aus nicht mehr sehen. Jean sagte, hier sollten wir anfangen, Minen zu suchen. Er zog eine Landkarte mit eingezeichneten Markierungen aus der Tasche. Hier lägen Minen, die noch nicht vergraben seien. Wir sollten auf dem Feldweg entlanggehen und unter Büschen, in den Gräben, am Ackerrand nach den Minen suchen und sie zur Straße bringen.

Wir fanden unter Büschen versteckte, in Gräben von Unkraut halbzugewachsene Minen. Wir fanden schwere Tellerminen, so groß wie eine runde Rührkuchenform, die Panzer und schwere Fahrzeuge in die Luft sprengen konnten. Wir fanden Topfminen, die etwa so groß waren wie eine 1-Liter Pfirsichdose und einen oben angebrachten Anschlußbolzen hatten. Die grub man in die Erde ein, getarnt durch Gras, Laub, Unkraut, im Abstand von zwei bis drei Metern, in versetzter Anordnung und in größeren Gruppen. Dann verband man sie untereinander kreuz und quer mit dünnem Stolperdraht dicht über dem Boden. Trat man auf oder gegen die kaum sichtbaren Drähte, sprangen zwei, drei Topfminen gleichzeitig einen halben Meter hoch, detonierten und „verspritzten“ ihren tödlichen oder schwer verletzenden Inhalt: Metallstücke, Kleinschrott, Bleikugeln. Nur kranke Hirne konnten sich so etwas ausdenken!

Außerdem fanden wir Kastenminen, Blechkästen etwa so groß wie zwei große aneinandergestellte Zigarrenkisten, die wir noch nicht kannten. Mit großer Vorsicht trugen wir die etwa 100 Minen zur Landstraße und legten sie entlang der Straßenböschung in einer Reihe vorsichtig nebeneinander ins Gras. Die würden später von Sprengexperten entschärft und abtransportiert, erklärte Jean in seinem gebrochenen Deutsch. Wir waren fertig mit der Arbeit, wollten gehen. „Alors“, sagte Jean, er wolle uns noch kurz die Kastenminen erklären, er kenne sie. Er nahm eine, legte sie mitten auf die Straße und winkte uns herbei, wir stellten uns im Kreis um ihn und die Mine. Die Kastenmine war ein primitives Gerät, offenbar ein hastiges Spätkriegsprodukt. Der Deckel der Mine war am unteren Rand mit sechs Drähten befestigt. Jean drehte die Drähte mit einer Kombizange vorsichtig auf und zog sie langsam aus den Haltelöchern. Er versuchte, den Deckel abzuheben, doch der saß fest, war wohl angerostet durch das lange Liegen im Freien.

„Merde!“ schimpfte er, nahm die Kombizange und klopfte damit einmal leicht gegen den Minendeckel.
Es geschah in dem berüchtigten Bruchteil einer Sekunde – die Kastenmine explodierte und jagte alle 100 Minen auf der Straßenböschung mit in die Luft.
Ich war plötzlich taub, hatte einen Moment das Gefühl, federleicht zu sein, sank in mich zusammen und verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, waren wohl nur wenige Minuten vergangen. Was ich halb betäubt um mich herum wahrnahm, war etwas, das ich bisher noch nicht gesehen hatte: ein Schlachtfeld zerfetzter Leiber und menschlicher Gliedmaßen. Ich sah es mit dumpfer Ungläubigkeit, aber es war grauenhafte Realität. 15 von uns waren sofort tot, darunter Jean, der schien atomisiert. Ich hatte am Rande unserer Gruppe gestanden, über die Schulter der vor mir Stehenden zugesehen, das hatte mir wohl das Leben gerettet.

Zwei von uns waren Apfelpflücken gegangen. Sie kamen jetzt angerannt, leicht verwundet an Kopf und Arm, versuchten, völlig aufgelöst, irgendwie zu helfen. Schließlich tat einer das einzig Vernünftige, er rannte ins Dorf, Hilfe holen.
Ich lag auf dem Rücken, hingestreckt auf der Straße. Das Gestell meiner Maskenbrille saß mir noch auf der Nase. Die Splitter der zersprungenen Gläser steckten mir im Gesicht. Man hat sie mir später im Krankenhaus mit der Pinzette herausgepickt. Meine Augen waren unverletzt.

Ich sah an mir lang. Von den Schuhen bis zu den Knien waren meine Hosenbeine zerfetzt und blutdurchtränkt. Meine schweren Bergstiefel lagen nach links und rechts gedreht. Zu denen bestand keine Verbindung mehr, die Knochen mußten durch sein. Als ich versuchte, mich zu bewegen, schmerzten die Beine furchtbar. Ich wollte mich aufsetzen, die verdammten schweren Schuhe ausziehen. Das klappte nicht, ich fiel wieder zurück.

Hôpital St. Brieuc
Inzwischen waren die Dorfbewohner von unserem Mann und dem Explosionsdonner alarmiert worden. Einige kamen angerannt, stolperten kopflos zwischen den Leichenteilen umher, versuchten den stöhnenden Verletzten zu helfen. Einer steckte mir eine Zigarette in den Mund, zündete sie an mit zitternder Hand. Ich schüttelte den Kopf, spuckte sie aus. Dann rannten die Franzosen wieder zurück ins Dorf. Es hat wohl eine Stunde gedauert, bis sie einen Behelfs-Kranken-Transport organisiert hatten: ein altes Lieferauto mit Segeltuchdach, auf dessen Ladefläche sie hastig einige Bunde Stroh geworfen hatten. Sie legten uns fünf Schwerverletzte aufs Stroh und fuhren auf der holprigen ungeteerten Landstraße die zirka 30 Kilometer bis St. Brieuc. Es war eine Horrorfahrt. Der Verletzte neben mir war kaum noch bei Bewußtsein. Er hatte keine Hände, keine Beine mehr, sein Kopf war eine blutige Masse. Er stöhnte und schlug mir mit einem blutigen Armstumpf ständig auf meine schmerzenden Beine. Ein Mann fuhr auf der Ladefläche als Begleiter mit. Ich bat ihn, mit seinen Knien den Torsomann in die Zange zu nehmen und dessen Armstumpf an dessen Leib zu pressen. Das tat er und ersparte mir so die Schmerzschläge.

Das Hospital in St. Brieuc hatte man wohl schon telefonisch informiert. Als wir ankamen, standen Ärzte, Schwestern, Sanitäter bereit, trugen uns in Eile auf Tragen ins Krankenhaus der kleinen Stadt. Daß ich nicht verblutet bin – erste Hilfe am Unglücksort gab es nicht – und bei Bewußtsein blieb während der gut zwei Stunden, bis ich auf dem OP-Tisch lag und die Narkose bekam, ist mir ein Rätsel. Erlebt habe ich die zwei Stunden wie in einer Art Trance mit ständigem Dröhnen in Ohren und Kopf. Ich nahm alles wahr, was um mich herum und mit mir geschah. Aber in gewisser Weise indirekt – so, als geschähe das alles nicht mir, sondern einem anderen. Deutlich erinnere ich mich noch an die blassen, erschrockenen Gesichter des Krankenhauspersonals, als sie uns in Empfang nahmen am Hospitaleingang.

Beintunnel
In der Nacht gegen 4 Uhr etwa wachte ich aus der Narkose auf. Ich lag in einem kapellenartigen Anbau des Krankenhauses in einem kleinen Zimmer allein. War’s die Totenkammer? Im schwachen Mondlicht, das durch ein langes, schmales Fenster fiel, sah ich, daß über meinen Beinen in meinem Bett eine Art Tunnel stand, rundum abgedeckt mit einem Laken. Was war mit meinen Beinen? Hatten sie wenigstens noch eins retten können?

Langsam drückte ich mich im Bett hoch zum Sitzen, erst mit den Ellenbogen, dann mit den Händen, es schmerzte wahnsinnig. Gestützt auf die linke Hand, tastete ich mit der rechten nach meinen Beinen, fühlte zwei dicke Verbände an den Oberschenkeln, tastete weiter – jetzt mußten die Knie kommen, die Unterschenkel – doch da war nichts mehr auf beiden Seiten!

Ich fiel zurück ins Bett. Als sich das Gedanken-Chaos in meinem Kopf gelegt hatte und ich wieder halbwegs normal denken konnte, war mein erster Gedanke der an meine Mutter. Während des Krieges hatte man sie mit einem Darmdurchbruch ins Krankenhaus gebracht: Operation, künstlicher Darmausgang; als hoffnungslosen Fall schob man sie ins Sterbezimmer. Sie war sehr willensstark und gläubig, betete, wie sie uns später sagte. Für die Ärzte unerklärlich: Ihr Darmdurchbruch schloß sich wieder. Geheilt kam sie nach Hause. Christus, so ihre feste Überzeugung, habe ihr geholfen. In Wirklichkeit war es gewiß ihr starker Wille.

Und mein Verstand meldete sich wieder. Zurückdenken war sinnlos, mir blieb nur Vorwärtsdenken. Meine Hände, Arme, Augen waren intakt. Ich hatte keine inneren Verletzungen Verglichen mit dem Torsomann hatte ich großes Glück gehabt, der starb bald. Beine konnte man ersetzen. Während des Krieges war ich im Urlaub Soldaten mit einer Beinprothese begegnet, die Dienst taten in der Kaserne oder wieder beruflich tätig waren. Ich wußte, die Deutschen waren Meister im Zerstören von Menschen, aber auch Meister im Prothesenbau. Ich schlief wieder ein.

Als ich am Morgen aufwachte, standen um mein Bett mehrere Schwestern und ein stämmiger Sanitäter. Nach ihren ernsten Mienen und besorgten Blicken zu urteilen, schienen sie auf etwas Furchtbares gefaßt. Sie wollten mir wohl schonend beibringen, daß ich beide Beine verloren hatte, wußten nur nicht recht wie. Da war das Sprachproblem, und sie fürchteten sicherlich meine Reaktion. Auch fiel mir jetzt auf, daß ich in einem vergitterten Bett lag. Eine Weile sahen wir uns stumm an. Schließlich – ihre Gesichter waren so merkwürdig ernst – mußte ich grinsen. Das machte sie vollends nervös. Ich klaubte mein bißchen Schulfranzösisch zusammen und sagte: „Je sais, je n`ai plus des jambes.“ (Ich weiß, ich habe keine Beine mehr.) Ihre Gesichter entkrampften sich, sie waren sichtlich erleichtert.

Krankensaal Hôpital St. Brieuc
Sechs Wochen lag ich im Krankenhaus St. Brieuc.
... Mich tauften die Schwestern „le petit là“ (der Kleine) wegen meiner gekürzten Figur.

... Heimkehr
In Tuttlingen kam ich in einer zum Hilfslazarett umfunktionierten Schule unter. Es war Anfang Februar 1946, ich lag in einem weißbezogenen Krankenbett. Ich fühlte mich halbwegs wieder als Zivilist, doch was meine Zukunft betraf, wie in einer Art leerem Raum. Lebten meine Angehörigen noch, stand unser Haus in Obervellmar noch?

Das waren quälende Fragen.
Im Lazarett riet man uns, per Telegramm Kontakt mit unseren Angehörigen aufzunehmen. Telegramme aber kosteten Geld, und das hatte ich nicht. Ich besaß einen Ami-Schlafsack, nagelneu, aus reiner Wolle, khakigelb, mit langem Reißverschluß vorn. Den hatte man mir in Rennes bei der Entlassung wegen meiner Doppelamputation mitgegeben. Dieses Prachtstück verhökerte ich für 10 RM an eine Schwester, die ich bat, für das Geld bei der Post ein Telegramm von mir nach Obervellmar aufzugeben. Ungeduldig und beklommen wartetete ich auf die Antwort. Immerhin lag Tuttlingen in der französischen Zone und Kassel in der amerikanischen. Man konnte froh sein, wenn das Telegramm durchkam und man Antwort erhielt. Erkundigungen über meinen Verbleib, falls meine Angehörigen nicht mehr existierten, hatte ich schon eingezogen. Es gebe in der Nähe Tuttlingens ein Behindertenheim, wo ich bestimmt unterkommen könnte, versicherten mir die Schwestern.
Schneller als erwartet kam die Antwort:

Hier alle wohlauf, das Haus steht noch und ist ganz.
Kommen Dich besuchen.

Unterschrift Marianne und Kurt. Das waren meine Schwester und ihr frisch angetrauter Mann, den ich noch nicht kannte. Daß sie sozusagen zu dritt kamen, sah ich erst später. Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen.

Eine Woche darauf waren sie bei mir in Tuttlingen. Marianne und Kurt wußten bereits, was mit meinen Beinen passiert war. Ein aus dem Lazarett Rennes entlassener Gefangener aus unserer Gegend – Landwirte kamen schon eher nach Hause – war kurz nach Weihnachten 1945 in Obervellmar gewesen und hatte von mir berichtet. Mama und Papa waren gefaßt. Sie mußten und konnten es sein. Außer den Beinen fehlte mir ja nichts. Später sagte mir mal ein Vater, dessen einziger Sohn mit 19 gefallen war: „Wäre unser Junge doch nur so zurückgekommen wie Sie!“

Mama hatte den beiden was zum Essen und Anziehen für mich mitgegeben. Und sie vertrauten mir auch das bei meiner Schwester nicht zu übersehende Geheimnis an, daß ich bald Onkel werden würde. Das Leben also, es ging weiter, trotz Besatzung, in die Hose gegangenem „Endsieg“, trotz Vierzonen-Deutschland, trostlosen Trümmerstädten, Hunger.
Wir verabredeten, Kurt und mein Freund Fritz Range sollten mich in vielleicht zwei Wochen abholen. Dazu brauchten sie wieder einen Passierschein für die Zonengrenze.

Ende März 1946 kamen Kurt und Fritz nach einer strapaziösen Reise in rappelvollen Personenzügen in Tuttlingen an. Vom Roten Kreuz besorgten sie einen Rollstuhl, ein altehrwürdiges Gerät aus Holz mit Eisenreifen auf den Holzrädern, sicherlich ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg. Ab 19 Uhr bis morgens 7 Uhr war Sperrstunde in der Stadt. Während dieser Zeit durfte sich kein Deutscher auf der Straße sehen lassen, sonst wurde er eingesperrt. Da unser Zug gegen 5 Uhr morgens fuhr, mußten wir vor Beginn der Sperrstunde im Bahnhof sein. Und so ratterten wir um 6 Uhr nachmittags mit unserem klapprigen Rollstuhl los.

Die wenigen Tuttlinger, die an uns vorbeihasteten, begafften unser schepperndes Rollstuhl-Trio. Wir rumpelten in den Bahnhof. Einen Teil des Wartesaals hatte das Rote Kreuz mit Latten und grauen Decken abgeteilt und dahinter einen Schlafverschlag eingerichtet, wo Holzbetten mit schmuddeligen Matratzen standen. Dort sollten wir es uns bis zur Ankunft des Zuges „bequem“ machen. Wir versuchten, ein bißchen zu schlafen, dabei banden Kurt und Fritz ihr Gepäck an sich fest. Die Rotkreuzleute warnten uns, hier werde alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist. Einige Betten waren zusätzlich mit Decken zugehängt. Dahinter spielten sich in der Nacht – mehr oder weniger deutlich hörbar – Szenen der käuflichen Liebe ab.

Im Verlauf der Reise schleppten Fritz und Kurt mich abwechselnd huckepack. Als der Zug einrollte, nahm einer von beiden mich auf den Rücken, der andere trug beider Gepäck, so marschierten wir auf den Bahnsteig. Während einer mich auf seinem Rücken den Zug entlang schleppte, versuchte der andere, in einem der proppenvollen Wagen Platz für uns drei zu finden. Es war unmöglich. Selbst auf den Trittbrettern standen die Menschen.
Am ersten Wagen hinter der Lok hing ein großes Schild: „Dienstabteil nur für Schaffner, kein Zutritt für Reisende.“ In der Nähe stand ein Schaffner. Kurt präsentierte mich, wie ich auf seinem Rücken hing. Der Schaffner zuckte mit den Schultern, meinte, es täte ihm furchtbar leid, stöhnte: „Ihr seht ja selbst, der Zug quillt über!“
Wir ließen nicht locker, blieben dem Schaffner auf der Pelle, bedrängten ihn. Schließlich murmelte er: „Najaa – ähm“ – sah sich verstohlen um, „folgt mir unauffällig“.

Er kletterte die Trittbretter rauf zum Dienstabteil für Schaffner, schloß die Tür auf, schob uns schnell ins Abteil und schloß wieder ab. Wir staunten nicht schlecht: Im Abteil saßen bereits etliche Reisende, die es sich auf den Bänken bequem gemacht hatten. Der Zug fuhr an, der Schaffner kam ins Abteil, dann ging uns ein Licht auf: Der Schaffner setzte sich und nahm entgegen, was man ihm von allen Seiten reichte: Amizigaretten, Speckiges, in fettiges Papier gewickelt, eine halbe Tafel Schokolade, ein Gläschen Honig, ein halbes Brot, eine Tüte, die nach Bohnenkaffee roch. All das verstaute unser Wohltäter fein säuberlich in seiner extragroßen ledernen Diensttasche.

In Kornwestheim bei Stuttgart mußten wir umsteigen. Wieder machten wir uns auf den Pilgergang entlang des übervollen Zuges. Diesmal rettete uns ein hilfsbereiter Mitmensch im Zug. Als er Kurt und Fritz sah, ich auf dem Rücken von einem der beiden, kurbelte er ein Fenster hinunter und winkte uns. Mehrere Hände hoben, hievten, stießen mich durchs Fenster ins Abteil. Irgendwie schafften auch Kurt und Fritz den Einstieg durchs Fenster. Auf Beinen, Knien, Säcken, Koffern hockte ich im Dunst von Schweiß, halbfaulen Kartoffeln und dem Qualm von beißendem Eigenbau-Tabak, gemischt mit Kräutertee und Amikippen. Wieviele Stunden die Zug-Odyssee gedauert hat, ich weiß es nicht mehr.

Am späten Abend kamen wir in Kassel an. Angesichts der undurchdringlichen Mauer von Menschenleibern um uns blieb als einziger Ausstieg das Abteilfenster. Das schafften wir ruckzuck, hatten wir ja schon Übung, außerdem beflügelte uns der Anblick des Heimatbahnhofs Kassel, war er auch noch so lädiert. Meine beiden Träger schleppten mich zum Bahnhofsvorplatz, wo Schmied Löwer mit seinem alten „Leukoplast“-DKW stand. Er hatte sich erboten, uns abzuholen und hatte dort schon eine lange Zeit geduldig gewartet. Kurt, Fritz und Schmied Löwer, die drei Wackeren, haben mich zu Hause wohlbehalten abgeliefert.

Und so saß ich Ende März 1946 wieder auf dem Sofa in der Küche. Im Haus Nr. 11 in der August-Bebel-Straße, die zuvor „tausend Jahre“ Adolf-Hitler-Straße und davor Alte Holländische Straße hieß. Und während Papa an seiner krummen Pfeife kaute und nichts sagen konnte, fragte Mama: „Was möchtest du denn gern essen? Soll ich dir ein Omelett backen?“


[Berlin, 1946–1949]

Elisabeth Dörffel hilft im Januar 1946 bei der DEFA-Produktion "Augenzeuge" mit. Der "Augenzeuge" war eine aktuelle Wochenschau in der Sowjetischen Besatzungszone, die sich unter anderem der Menschen annahm, die ihre Angehörigen suchten. Die Aufgabe der jungen Frau bestand in der Durchführung der Suchaktion, in der Kinder ihre Eltern suchten oder Eltern ihre Kinder.

Kinder suchen ihre Eltern (Auszug)
Elisabeth Dörffel

Einmal besuchten wir den Zoologischen Garten in Berlin. Eine lange Schlange von Kindern strömte, begleitet von Pflegeeltern oder Kinderheimpflegerinnen, durch das Haupttor. Wir hatten sie eingeladen, um hier die Außenaufnahmen für unsere Bilderreihe „Kinder suchen ihre Eltern“ zu machen. Für viele Kinder war es der erste Besuch in einem Zoo, und oft erschallte lautes Lachen zwischen den Aufnahmen. Die Kinder waren entspannter, gelöster als im Atelier. Den 13-Jährigen Werner Kolmer, der auf der Flucht aus Danzig seine Mutter und vier Geschwister verloren hatte, nahmen wir als ersten auf. Faul lümmelten im Hintergrund die Löwen im Gras herum, während Werner mit einem Schildchen mit seinem Namen vor der Brust gefilmt wurde. Hoffentlich sieht ihn seine Mutter bald irgendwo im Kino, dies war mein größter Wunsch bei jedem gefilmten Kind.

Bubi Vollandt vor der Kamera im Berliner Zoo. Links im Bild stehe ich.

(...)

Wieder einmal wurde gefilmt und Kinder im „Augenzeugen“ gezeigt. Diesmal waren auch die Brüder Reinhard und Adam Kreb dabei. Sie erzählten ihre Erlebnisse. Im Winter 1944/45 waren sie auf dem Treck und verloren erst ihren Vater und eine ältere Schwester aus den Augen, wenig später auch die Mutter und die drei Schwestern. Nach einer abenteuerlichen Flucht mit einem deutschen Soldaten kamen die beiden Jungen im Frühjahr 1945 nach Teltow. Von dort wurden sie von einem Amerikaner mit nach Berlin genommen und in einem Kinderheim abgegeben.

Ein Bekannter von Herrn Kreb sah die Kinder in der Wochenschau und meldete die freudige Nachricht den Eltern, die inzwischen in Bayern eine neue Heimat gefunden hatten. Der Vater fuhr sofort nach Berlin und kam zu mir ins Büro. Schnell wurden die Unterlagen und die Karteikarte mit Bildchen herausgesucht, und wir fuhren gemeinsam ins Kinderheim. Es war das Johannisstift in West-Berlin, wo der Vater überglücklich seine Kinder in die Arme schließen konnte. Gerade war ein Reporter von der „Picture Post“ aus London in Berlin, der dieses Wiedersehen fotografierte, und so erschienen am 7. Juni 1947 Bilder und Artikel in dieser Zeitschrift. Auch der „Observer“ aus Amerika machte am 8. November 1946 Fotos und Reportagen für seine Zeitung.


Erstes Wiedersehen. Vater Johannes Kreb mit seinen beiden Söhnen Reinhard und Adam im Berliner Johannesstift.

Vater Kreb schrieb mir damals in seinem Dankesbrief:
Es tut mir furchtbar leid, daß ich keine Zeit mehr hatte, Sie zu besuchen und Abschied zu nehmen. Ich hatte es sehr eilig, werde aber an Sie denken, solange ich lebe. Für Ihre Mühe bin ich Ihnen unendlich viel Dank schuldig, denn nun bin ich wieder ein glücklicher Mensch, seit ich alle meine Kinder bei mir habe. Meine Frau ist auch ganz anders geworden. Als wir durch das Haustor traten, stimmten wir, die Jungen und ich, das Lied an: ,In der Heimat, in der Heimat ...’ Mit Freudentränen kamen alle herausgestürmt, dann wurde das Wiedersehen gefeiert.

Dieses Wiederfinden war eines der ergreifendsten und schönsten Erlebnisse für mich.


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