Leseprobe

Fritz E. Gericke
Treiben gegen den Strom
Erinnerungen an ein widerspenstiges Leben
1940 - 1994

Broschiert, 208 Seiten, zahlreiche Fotos.
Sammlung der Zeitzeugen (50)
ISBN 3-933336-99-6
14,80 EUR

Leserstimmen >>


Leseproben aus »Treiben gegen den Strom«

Eine Kindheit in Dresden (1928-1944)
Aufbruch (1945)
Einheitswahlen (1950)
Vorkehrungen für den Tag X (1951)
Ankunft in Bautzen II (1952)
Manifest von Buchenwald (Bautzen 1952)
Tag X - Der 17. Juni 1953
Unter Beobachtung (Dresden 1954)
Überzeugungsarbeit und erste Zweifel (Bundesrepublik 1954-1959)
Geschichte ohne Ende


[zum kompletten Inhaltsverzeichnis]
[nach oben]


Eine Kindheit in Dresden (1928-1944)

Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter. Dresden, die Stadt in der ich aufwuchs, gilt auch heute noch als besonders attraktiv, trotz der Kriegswunden und der Sünden derer, die ein völlig neues Dresden erstehen lassen wollten und dabei nur miserable Kopisten des ideenlosen sozialistischen Zuckerbäckerstils und Betonplattenbaus waren. Die Baukunstwerke von Pöppelmann, Semper, Ch. F. Schuricht, Wilhelm Kreis und vielen anderen prägen noch heute das Stadtbild. Da gibt es die Oper, die Theater und Kirchen, die Hochschule für Künste, die zahlreichen Museen und Galerien auf der einen Seite, die Technische Universität mit ihren unter Denkmalschutz stehenden Bauten wie dem "Blauen Wunder" auf der anderen.

Die Silhouette von Dresden, so wie ich sie in den dreißiger Jahren von meinem Lieblingsplatz, dem Waldschlößchen, aus gesehen habe.


Dresden hat verschiedene Viertel mit einer eigenen Ausstrahlung, einem bestimmten Ruf. Da ist zum Beispiel das Hechtviertel, benannt nach der Hechtstraße, seit jeher behaftet mit dem Ruch der Anarchie. Auch heute noch, obwohl saniert und von Edel-Boutiquen und Bistros gesäumt, hält sich das Vorurteil, dass man abends dort besser nicht allein auf die Straße geht. Es gibt die Arbeiterviertel mit ihrem kleinbürgerlichen Milieu und den vielen Schrebergärten. Es gibt die Viertel, in denen das Großbürgertum lebt, Villen mit riesigen Parks. An diese vornehmen Viertel grenzen dann die nicht ganz so vornehmen, mit nicht ganz so großen Villen und nicht ganz so großen Gärten. Und schließlich gibt es die eher ländlichen Vororte. Unmittelbar an der Grenze eines ganz vornehmen und eines nicht ganz so vornehmen Vorortes liegt mein Elternhaus.

In diesem Haus in Dresden-Bühlau wuchs ich auf und lebte dort - mit Unterbrechungen durch Krieg und Haft - bis 1954.

[nach oben]


Aufbruch (1945)

Als im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone Parteien zugelassen wurden - die westlichen Besatzungszonen folgten später - informierte ich mich über die einzelnen Programme und Vorstellungen. Der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten schien mir zu gering, als dass ich mich damit lange hätte aufhalten sollen. Nach allem, was bisher geschehen war, fand ich es nur konsequent, mich auf den Weg zum Büro der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, zu machen. In dem Haus befand sich früher ein kleiner Laden.

Ich betrachtete die Auslagen im Schaufenster. Plötzlich fing ich trotz sommerlicher Temperaturen an zu frieren. Neben den üblichen Marx-, Engels-, Lenin- und Stalinporträts und -büsten standen die Landsknechtstrommeln und Fanfaren, wie sie schon die Hitlerjugend benutzt hatte; daneben blaue Uniformhemden, Halstücher, Fahnen und Wimpel, alles verhasste Symbole der Gleichschaltung. Mitglied einer solchen Partei konnte ich unter keinen Umständen werden. In wenigen Augenblicken hatte ich mich vom Verehrer der Kommunisten, die Hitler widerstanden hatten, zum Gegner ihres totalitären Herrschaftsanspruches gewandelt. Fortan suchte ich Verbündete, die mit den Mitteln der intellektuellen Auseinandersetzung einen neuen Totalitarismus verhindern wollten.

Die schnelle Metamorphose vom Beinahe-Kommunisten zum engagierten Gegner wird vielleicht verständlicher vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem NS-Terrorsystem. Diese Erfahrungen besetzten mein politisches Denken. Schräg gegenüber des Büros der Kommunistischen Partei befand sich im ersten Stock eines Jugendstilhauses die Geschäftsstelle LDP, der Liberaldemokratischen Partei. Hier lernte ich Wolfgang Mischnick kennen, den späteren Fraktionsvorsitzenden der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag, sowie Gerd Wagner, einen Mann, dessen intellektuelle Kühle mich beeindruckte. Ob die Nervosität, die er ausstrahlte, Folge seiner Ungeduld war, oder ob er schon ahnte, dass sein politisches Engagement die Besatzungsmacht störte, weiß ich nicht.

Schon wenige Monate nach dieser ersten Begegnung verschwand er im Archipel Gulag, wie so viele, denen ich in der nächsten Zeit begegnen sollte. Der Dritte im Bunde war der Leiter der Geschäftsstelle. Ich berichtete ihnen von meinen Wünschen und Vorstellungen, von meinen Überlegungen, der KPD beizutreten, und warum ich es dann doch nicht getan hatte. Als ich damit fertig war, erzählten sie von ihren Vorstellungen und dem Programm der LDP. Es wurde ein langes Gespräch. Ich fasste Vertrauen und füllte am Ende einen Aufnahmeantrag aus. In den nächsten Wochen war ich fast täglich auf der Geschäftsstelle und führte Gespräche mit dem Geschäftsführer. Ich musste viel lernen. Neben der Beschäftigung mit der Geschichte und dem Programm der Liberalen befassten wir uns vor allem mit dem Marxismus-Leninismus. Die Diskussionen uferten manchmal aus. In einer Zeit, die geprägt war von der Sorge um das Stück Brot für den nächsten Tag redeten wir uns die Köpfe darüber heiß, ob diese Welt nun real sei oder ob sie nur dadurch existiere, dass wir sie uns vorstellen.

Mischnick und Wagner überzeugten mich davon, dass es besser sei, das Abitur nachzuholen. Ich meldete mich an der höheren Schule für Jungen in Dresden-Neustadt an. Doch der Versuch musste scheitern. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es waren nur wenige meines Jahrgangs, die nochmal zur Schule gehen wollten. Ich kam jetzt mit Schülern in einer Klasse zusammen, die mehr als drei Jahre jünger waren als ich. Ich fühlte mich uralt und erwachsen. Und mich widerte die unverhohlene ideologische Beeinflussung an, die mich an die NS-Schule erinnerte.

Wegen meiner widerspenstigen Haltung wurde ich zum Direktor beordert, der mir nahe legte, die Schule zu verlassen, unter vier Augen fügte er hinzu: "Bei Ihrer Einstellung sind andere Konsequenzen sonst nicht auszuschließen, und das täte mir ehrlich gesagt sehr Leid." "Andere Konsequenzen" konnte vieles bedeuten, nur nichts Gutes, also nahm ich den Rat an und ging nach Hause. Ich fühlte mich bedroht. Angst wurde wieder allgemein üblich, wie in der Nazizeit. Es verschwanden nicht nur Kriegsverbrecher und Nazis, sondern es verschwanden auch Menschen, die keines von beidem waren, die nichts anderes wollten, als einen sozial gerechten, demokratischen Staat aufzubauen.

[nach oben]


Einheitswahlen (1950)

Inzwischen liefen die Vorbereitungen für die Wahlen im Oktober 1950 auf Hochtouren. In der LDP hatten diejenigen nun klar die Oberhand, die den Wünschen der sowjetischen Administration entsprechend für die Einheitsliste gestimmt hatten. Mit Polemik und gezielter Einschüchterung bereiteten die SED und ihre Helfer in den verschiedenen Organisationen den Boden für eine hohe Wahlbeteiligung und möglichst hohe Zustimmung.

Das Wahllokal befand sich im "Prinz Eugen", einer traditionsreichen Gaststätte, in der mein Vater noch den sächsischen König erlebt hatte. Als ich im Wahllokal eintraf, kamen gerade mehrere ältere Damen und Herren aus dem nahe gelegenen Altersheim. Sie traten an den Tisch, nannten ihren Namen und legten ihren Ausweis vor. Der Wahlvorsteher hielt den Stimmzettel hoch:

Sind Sie für die Kandidaten der Nationalen Front und für den Frieden?
O JA
O nein

Dann fragte er: "Sie sind doch für den Frieden?", und forderte mit unmissverständlichem Antippen des Ja-Kreises: "Hier bitte das Kreuz machen!" Es gab zwar eine Wahlkabine, doch niemand traute sich, den Stimmzettel vom Tisch zu nehmen und damit in die Kabine zu gehen. Alles geschah in der Öffentlichkeit. Die Älteren hatten noch in Erinnerung, wie in der Weimarer Republik gewählt worden war. Das hier hatte mit der ihnen bekannten Wahl nichts mehr zu tun. Zwei verschüchterte ältere Damen standen unschlüssig herum und wussten nicht, ob sie nun gehen oder noch bleiben sollten oder ob vielleicht doch noch etwas käme, das Ähnlichkeiten mit einer Wahl hätte.

Ich wurde unheimlich wütend. Als ich an der Reihe war, nahm ich den Stimmzettel vom Tisch und las ihn durch. Der Anblick der alten Leute und die Formulierung auf dem Wahlzettel ließ mich alle guten Vorsätze vergessen. Ich nahm den Stimmzettel, knickte ihn zusammen, steckte ihn in die Innentasche meiner Jacke und verließ das Wahllokal. Ein Wahlhelfer sprang mir hinterher und forderte mich auf, den Stimmzettel zurückzugeben. Es kam zu einem kurzen Wortgefecht, in dessen Verlauf ich erklärte, dass ich sehr wohl für den Frieden sei, aber die Art der Aufstellung der Kandidaten durch die "Nationale Front" ablehne.

Ich fragte: "Wie soll ich das deutlich machen?"
Der Wahlleiter duzte mich: "Du kannst ja die Kandidaten der Nationalen Front durchstreichen."
Ich wusste, dass bei der Auszählung das Kreuz in dem großen Ja-Feld als Zustimmung gezählt worden wäre. Das aber wollte ich vermeiden.
Ich ging zur Wahlurne, nahm den Zettel, zerriss ihn und sagte: "Das ist meine Form der Stimmenthaltung."

[nach oben]


Vorkehrungen für den Tag X (1951)

Der Kreis Gleichgesinnter, der sich immer häufiger traf, teilte sich in mehrere Zirkel. Diese hielten nur noch über mich und Inge lose Verbindung miteinander. Ein Kreis beschäftigte sich mit Literatur, ein anderer Kreis interessierte sich mehr für Jazz. Meine Begeisterung für Musik und insbesondere für Jazz hatte zu einer Freundschaft mit dem Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker, Joe Dixie, geführt. Kurz bevor er in den Westen ging, weil er sich dem Druck des kommunistischen Systems nicht beugen wollte, das wie der Nationalsozialismus massiv in die Kulturarbeit eingriff, warnte er mich, dass ich, wenn ich so weitermachen wolle, mit meiner Verhaftung rechnen müsse. Es sei wichtig zu wissen, dass Freiheit nicht von außen kommt, sondern dass man sie in sich tragen muss, selbst dann noch, wenn man in einer Zelle von zwei mal drei Metern eingesperrt sei.

Joe Dixie, Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker: "Freiheit muss man in sich tragen".


Der politische Kern unserer Gruppe bestand aus jungen Mitgliedern der LDP aus Dresden und Umgebung, vorwiegend Studenten und Schülern, hier nahmen die Aktivitäten immer konkreter konspirative Formen an. Wir wollten keine "Diktatur des Proletariats", wir wollten aber erst recht keine alten Nazis in hohen politischen Ämtern. Wir litten unter der Spaltung Deutschlands und entwickelten vor allem Vorstellungen über die künftige Gestaltung des Lebens in einem vereinigten Deutschland.

Der ominöse Tag X spielte in unseren Diskussionen eine immer größere Rolle. Wir wussten nicht, ob es bereits Zirkel gab, in denen Vorbereitungen für einen Aufstand getroffen wurden. Es war ein unsicheres Gebiet, in das wir uns da vorwagten. Allmählich entstanden vage Vorstellungen von einem Aufstand. Das Wort Revolution nahm keiner von uns in den Mund, wir wagten es nicht einmal zu denken. Revolution hätte in der Terminologie der Kommunisten Konterrevolution bedeutet. Jeder, der nur in den Verdacht geriet, ein Konterrevolutionär zu sein, war in Lebensgefahr. Er verschwand in der Moskauer Lubljanka, dem Gefängnis der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, oder er landete vor Hilde Benjamin, der obersten Richterin der DDR, die sich in Methoden und Diktion von Nazirichter Roland Freisler nur dadurch unterschied, dass sie Frau und Kommunistin war.

Der Autor schildert dann seine Verhaftung, die Vernehmungen und die Schikanen durch den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR sowie den Verlauf seines Prozesses.

[nach oben]


Ankunft in Bautzen II (1952)

Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass ich in der Haftanstalt Bautzen II gelandet war. Dass dies eine besondere Haftanstalt war, hörte ich erst nach dem Zusammenbruch der DDR. Mir fiel lediglich auf, dass es ein eher kleines Gefängnis sein musste. Zunächst blieb ich in Einzelhaft. Die Zelle lag im Erdgeschoss. Wie in Dresden gab es auch hier Rundgang. Wenn es ebenfalls ein Sprechverbot beim Rundgang gab, dann wurde es jedenfalls dreist umgangen. So erfuhr ich schon am ersten Tag einiges, was mir das Einleben erleichtern sollte.

Außenansicht des Zuchthauses Bautzen II. Hier waren vor allem politische Gefangene inhaftiert, die vom Staatssicherheitsdienst besonders überwacht wurden.


Die meisten Häftlinge durften arbeiten. Im Gegensatz zum Strafvollzug in der späteren DDR, wo Arbeit als einziger Weg der Wiedergutmachung bezeichnet wurde, durfte zu dieser Zeit nicht jeder arbeiten. Arbeit galt als Vergünstigung. Einzelhaft und Entzug der Arbeitserlaubnis waren Strafmaßnahmen. Ich empfand jedoch zunächst beides nicht als Strafverschärfung.

Im Gegenteil, da es eine Gefängnisbücherei gab, genoss ich es, mich mit Lesestoff versorgen zu können. Im Laufe der Zeit stieß ich dabei auf einige Kuriositäten. So fand ich unter anderem Machiavellis "Der Fürst". Ein Buch, das sicherlich nicht den verkündeten Idealen der marxistisch-leninistischen Ideologie entsprach, wenngleich die Politik auch der sozialistischen Staaten durchaus machiavellistische Züge hatte. Ich las es mit großem Eifer, auch wenn mir das Politikverständnis von Machiavelli missfiel. In einem anderen Buch fand ich einen Essay von Dostojewski, "Die Gedanken eines Selbstmörders, natürlich eines Materialisten." Diese Gefängnisbibliothek enthielt Bücher, für die Verantwortliche in einer öffentlichen Bücherei vermutlich eingesperrt worden wären. Vielleicht war man der Überzeugung, dass diejenigen, die hier eingesperrt waren, ohnehin nicht mehr verdorben werden könnten.

Ich begann mich einzuleben. Am zweiten Sonntag durfte ich an einem Gottesdienst teilnehmen. Es war das erste Mal, dass ich mit vielen Gefangenen in einem Raum zusammenkam. Hatte mir das Alleinsein zunächst eher Schutz geboten, so empfand ich es jetzt doch mehr und mehr als Isolation.

[nach oben]


Manifest von Buchenwald (Bautzen 1952)

Die Arrestzellen waren gewöhnliche Zellen, in die aus Gitterstäben noch eine Art Käfig eingebaut war. In diesem Käfig befand sich eine Pritsche, die außerhalb der Nachtruhe an der Wand hochgeklappt und angeschlossen wurde. Hinter der Zellentür, aber außerhalb des Käfigs befand sich eine Toilette. Nach Verrichtung der Notdurft wurde die Toilette wieder abgeriegelt. Der Gefangene hatte keine Möglichkeit, sich hinzusetzen. Er musste stehen oder konnte in dem engen Raum höchstens ein oder zwei Schritte hin und her gehen. Nur manchmal wurde für eine kurze Zeit ein Schemel in die Zelle gebracht, auf den sich der Häftling niederlassen konnte. Das Zellenfenster war durch eine Blende abgedunkelt. Der Hofgang war gestrichen. Die Verpflegung bestand aus einem Kanten Brot und einem Krug Wasser. Jeden dritten Tag gab es eine warme Mahlzeit.

Arrestzelle im Zuchthaus Bautzen II. Aus Gitterstäben hatte man eine Art Käfig errichtet. Zehn Tage lang war ich darin eingesperrt.

[nach oben]


Tag X - Der 17. Juni 1953

Das nächste einschneidende Erlebnis folgte wenige Tage später, am 17. Juni 1953. Kaum waren wir zur Arbeit ausgerückt, wurden wir wieder ins Lager zurückgebracht. Die Wachmannschaft war verstärkt worden, die Türme doppelt und dreifach besetzt. Das Verhalten der Wachmänner war ungewöhnlich. Nach dem misslungenen Fluchtversuch war der Ton rauer geworden. Plötzlich wurden wir beinahe zuvorkommend behandelt. Es gab sogar Volkspolizisten, die uns jetzt versicherten, dass sie immer nur ihre Pflicht getan hätten, persönlich hätten sie nichts gegen uns. Wir sahen, dass auch die zivilen Arbeitskräfte außerhalb des Lagers unruhig waren. Die meisten von ihnen arbeiteten nicht, sondern diskutierten.

Dann sickerte es durch: Aufstand in Berlin, Unruhe in fast allen Städten. Gerüchte, Hoffnungen und Zweifel.

Das Lager befand sich in der Nähe der Bahnlinie, von der wir den Abzweig zum Öllager bauen mussten. Regelmäßig fuhren hier auch Personenzüge vorbei. Lautes Pfeifen kündigte das Nahen des Zuges an. Die Fenster waren heruntergelassen, die Türen geöffnet. Menschen standen auf den Trittbrettern oder lehnten sich heftig winkend aus den Fenstern heraus. Der Zug fuhr betont langsam, wobei der Lokomotivführer immer wieder das Signal ertönen ließ.

"Freiheit! Freiheit!"

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage der gleiche Ruf. Doch diesmal wurde nicht geschossen. Die Wachmannschaften schienen nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. War das der Tag X? Er war es, und er endete bitter. Im Laufe des folgenden Tages wurden wir in die Haftanstalt Bautzen II zurückgebracht. Wieder veränderte sich das Verhalten der Wachmannschaft. Der Volksaufstand war niedergeschlagen, die Hoffnungen der Menschen innerhalb und außerhalb der Mauern waren zerbrochen.

Wenige Tage darauf trafen die ersten Verurteilten des Aufstandes in Bautzen ein. Der Aufruhr hatte Tausende erfasst, hatte sie ihre Angst vergessen lassen. Aber es gab keine Struktur, keine ordnende Hand. Jeder war, trotz des Massenaufstandes, auf sich allein gestellt. Es hatte gereicht, den Staat zu erschüttern. Es hätte vielleicht genügt, die Regierung zum Teufel zu jagen, aber die noch immer allgegenwärtige Besatzungsmacht war stärker. Dass 36 Jahre später die friedliche Revolution in der DDR gelang, hatte seinen Ursprung auch in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika.

[nach oben]


Unter Beobachtung (Dresden 1954)

Wir versuchten, wieder Boden unter die Füße zu bekommen, indem wir möglichst viel gemeinsam unternahmen, aber ich hatte Hemmungen, zu größeren Veranstaltungen zu gehen, bei denen viele Menschen zusammenkamen.

Auf einem Einführungsabend in das Werk von Carl Orff lernte ich Generalmusikdirektor Lenzen kennen. Es war beeindruckend, wie dieser Mann am Flügel und allein mit seiner Stimme ganze Passagen aus "Der Mond" und "Catulli carmina" darbot. Kurz darauf erhielt er die Genehmigung, beide Stücke in Dresden zu inszenieren. Ich bat ihn um ein Gespräch. Mein Wunsch war es mitzumachen, und sei es als Kaffee oder Kleiderbürsten bringender Assistent. Er versprach, sich dafür einzusetzen, aber ich wurde abgelehnt. Nicht aus mangelnder Befähigung, was ich durchaus verstanden hätte. Nein - ich sollte mich erst einmal in der Produktion bewähren. Doch in der Produktion bekam ich keine Arbeit. Derselbe Staat, der mich eingesperrt hatte, bescheinigte mir im Arbeitsbuch, das jeder DDR-Bürger im arbeitsfähigen Alter bei sich führen musste, eine Erwerbsminderung von 30 Prozent, die einen Einsatz in der Produktion weitgehend ausschloss.

Da ich keine andere Arbeit fand, übernahm ich immer mehr Verantwortung im Geschäft meines Vaters. Ich nahm auch die Zusammenarbeit mit dem Dresdner Lichtbild-Kollektiv wieder auf. Es schien, als könne sich das Leben normalisieren. Doch von Normalität waren wir weit entfernt. Schräg gegenüber, in der ehemaligen Pension Steinkopf, wo 1945 die örtliche Kommandantur der Sowjets untergebracht war, wohnte ein älterer Mann, der bei der Volkspolizei arbeitete. Er hatte den Auftrag, sich um mich zu kümmern. Hin und wieder tauchte er auf, fragte, ob ich schon Arbeit hätte und was ich zu tun gedächte. Das wäre noch alles zu ertragen gewesen, wenn mit ihm nicht auch andere Besucher gekommen wären. Ihre Fragen waren penetrant und bedrohlich zugleich: "Wo waren Sie gestern?" oder "Mit wem haben Sie gesprochen?" Auch jetzt wieder der Wechsel in der Anrede: "Woher hast du das Geld, um in dem Lokal deine Freundin und die alten Freunde einzuladen?"

Das Foto zeigt mich am ersten Tag nach der Haftentlassung, am 6. April 1954. Die Haftzeit hatte ihre Spuren hinterlassen.

Wieder zusammen: Die Liebe zu meinen Eltern war einer der Gründe, weshalb ich 1954 zögerte, in den Westen zu gehen.

[nach oben]


Überzeugungsarbeit und erste Zweifel
(Bundesrepublik 1954-1959)


Inges beruflicher Weg, der zwar nicht ohne Hemmnisse war - gleich die erste Firma ging in Konkurs -, führte dank ihrer Beharrlichkeit und Kreativität ständig nach oben. Sie brachte Sicherheit in unser Leben. Bei mir ging es turbulenter zu. Das lag teilweise daran, dass einige Firmen, bei denen ich arbeitete, ebenfalls Konkurs anmelden mussten, hatte aber auch seine Ursache darin, dass ich schwerere Gesundheitsschäden aus der Haftzeit davon getragen hatte, als ich mir eingestehen wollte.


Inge hat zu mir gehalten, wo andere längst das Handtuch geworfen hätten. Wir heirateten 1960.


Ich arbeitete als Bürogehilfe, als Referent bei der Mobilwerbung Bonn - einer Einrichtung der politischen Bildung - als Werbeassistent in einem pharmazeutischen Betrieb, als Privatdetektiv und wurde Einzelhandelsvertreter eines großen Spirituosenimporteurs, wo ich einen Einblick in kapitalistische Denkstrukturen bekam. Die Firma war samt bundesweitem Vertreternetz nicht aufgebaut worden, um die internationalen Edelspirituosen auf den deutschen Markt zu bringen, sondern um eben dies zu verhindern. Nachdem die Verträge mit den ausländischen Unternehmen unterschrieben waren, wurden fast alle Mitarbeiter wieder entlassen. (…)

In Köln konnte ich mich politisch wieder stärker engagieren. Schon bald wurde ich in den Kreisvorstand der Deutschen Jungdemokraten - der damaligen FDP-Jugendorganisation - und in den Vorstand des Ortsverbandes Köln-West der FDP gewählt.

1959 schlug man mich für das Amt des Bezirksvorsitzenden der Deutschen Jungdemokraten vor. Zum Bezirksverband gehörten außer Köln-Stadt noch die Kreisverbände Köln-Land, Bonn, Düren und Bergisches Land. Besonders in den Kreisverbänden Bergisches Land und Düren gaben rechte, nationalistische Kreise den Ton an. Sie stellten einen Gegenkandidaten auf, der bis dahin nur wenig in Erscheinung getreten war. Dieser wurde mit knapper Mehrheit gewählt. Ich wurde sein Stellvertreter.

Am 2. April 1959 kam es im Anschluss an eine Sitzung des Bezirksvorstandes zum Eklat. Der neue Bezirksvorsitzende bezeichnete die Widerstandskämpfer des 20. Juli als feige Verräter. Er bekannte sich offen zum Führerprinzip und forderte eine "Säuberung der FDP von liberalen Elementen". Der Kreisverband Köln stellte einen Ausschlussantrag gegen ihn, da er mit seinen Äußerungen gegen das Grundgesetz verstoßen hatte. Seine Verteidigung übernahm der Landesschatzmeister der Jungdemokraten und spätere FDP-Landeswirtschaftsminister, Horst-Ludwig Riemer. Dass ein Mitglied des Landesvorstandes die Verteidigung des Bezirksvorsitzenden im Ehrengerichtsverfahren übernahm, war Anlass zu einer Anfrage, ob der Landesvorstand sich damit dessen Äußerungen zu Eigen mache. Der Landesvorsitzende der Jungdemokraten, Ernst-Günther Herzberg, rückte uns in seiner Entgegnung in die Nähe des berüchtigten Blutrichters des Dritten Reiches, Roland Freisler, und des DDR-Generalanklägers Ernst Melsheimer.

Der Bezirksvorsitzende blieb im Amt und erhielt lediglich einen Verweis. Ich blieb - trotz meiner Zweifel, weil ich zur gleichen Zeit Verbündete fand, die meine Ansichten teilten. Unter ihnen war der spätere Bundesinnenminister Gerhart Baum, mit dem ich seit dieser Zeit freundschaftlich verbunden bin. Leicht sollte unser Weg allerdings nicht werden.

In der FDP übernahm ich verschiedene Ämter. Das Foto entstand auf dem FDP-Parteitag in Freiburg 1968. Es zeigt mich (Mitte) mit Ingrid Matthäus-Mayer, der späteren finanzpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, und einem weiteren Delegierten.

[nach oben]


Geschichte ohne Ende

Als 1989 die Mauer in Deutschland fiel, folgte der Freude über die Wiedervereinigung unmittelbar das Verlangen, am westlichen Konsumparadies teilzuhaben. Schneller noch als nach 1945 setzte das Vergessen ein. Das Interesse an der Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen des Terrors und der Verbrechen des untergegangenen Systems erlosch. Wo die Teilhabe am Wohlstand nicht schnell genug erfolgte, setzte eine DDR-Nostalgie ein. Daniela Dahn veröffentlichte ihr Buch "Westwärts und nicht vergessen", in dem sie die Bundesrepublik als größeren Unrechtsstaat bezeichnet als die DDR. (…)

Der Widerstand und seine in die Tausenden gehenden Opfer drohen in Vergessenheit zu geraten. Dem Widerstand gegen das NS-Terrorsystem wird ansatzweise durch das Gedenken an den 20. Juli oder an die Geschwister Scholl Beachtung geschenkt, an die Namen der durch den stalinistischen Terror Umgekommenen erinnert sich außer ihren Freunden und Angehörigen niemand mehr. Den Opfern des NS-Systems wird eine zusätzliche Rente gewährt, die Opfer des stalinistischen Terrors in der DDR erhielten eine einmalige geringe Entschädigung nach dem so genannten "Häftlingshilfegesetz". Der Betrag liegt noch unter der Entschädigungssumme für zu Unrecht erlittene Haft in der Bundesrepublik. (…)

Für mich ergibt sich daraus ein gefährlicher Widerspruch. Einerseits heben wir einige Heroen des Widerstandes auf ein Podest, in eine Sphäre der Heldenverehrung, die uns vor Bewunderung fast erstarren lässt, andererseits aber verweigern wir den Namenlosen des Widerstandes wenigstens einen annähernd gleichen Lebensstandard wie den namenlosen Mitläufern oder Mittätern eines staatlichen Terrorsystems. Es geht nicht darum, die Renten ehemaliger Richter, Staatsanwälte oder Stasi-Angehöriger auf Sozialhilfeniveau zu drücken. Es geht vielmehr um die Frage, ob wir es uns leisten können, so mit Opfern von Gewaltherrschaft umzugehen. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es nicht um Ruhm und Ehre für die einen oder um Rache und Bestrafung der anderen, es geht um das Erkennen der Gefahren, die von Extremisten, Populisten und hemmungslosen Karrieristen ausgehen.


[nach oben]



Inhalt
»Treiben gegen den Strom«

Vorwort 9
Gerhart Baum, Bundesinnenminister und MdB a. D.
Treiben oder Getriebenwerden 11

Jeder fängt mal klein an
Eine Kindheit in Dresden 13
Provokationen 18
Schulwechsel 22
Gewissensfragen 26
Zinnowitz 28

Krieg
Einberufung 30
„Fahnenflucht“ 32
Ostfront 37
Strafversetzung 42
„Ja, Ihre Eltern leben“ 45

Neue Herren – alte Methoden
Aufbruch 54
Parteien 58
Freunde, Liebe, Politik 62
Liberale Gruppierungen 71
Einheitswahlen 76
Vorkehrungen für den Tag X 81

Die Zeit als Häftling
Verhör 89
Das Protokoll 100
 In Untersuchungshaft 104
 Der Prozess 111
Die Urteilsbegründung 122
Ankunft in Bautzen II 127
Arbeitskollektiv und neue Freunde 133
Haftalltag 139

Manifest von Buchenwald 144
Stalins Tod 149
Arbeitssklaven 152
Flucht 153
Der Tag X – 17. Juni 1953 156
Erneute Vernehmung 162

Frei ohne Freiheit
Angst 165
Unter Beobachtung 167

Ankunft in der „neuen“ Welt
Tante Friedel 172
 Auffanglager Gießen 174
Pimmocken 177
Überzeugungsarbeit und erste Zweifel 180
Reise zu den „sowjetischen Freunden“ 187
Jugendwahn 195
Geschichte ohne Ende 198