Leseprobe |
Fritz
E. Gericke Broschiert, 208
Seiten, zahlreiche Fotos. |
Leseproben aus »Treiben gegen den Strom« Eine
Kindheit in Dresden (1928-1944) Eine Kindheit in Dresden (1928-1944) Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter. Dresden, die Stadt in der ich aufwuchs, gilt auch heute noch als besonders attraktiv, trotz der Kriegswunden und der Sünden derer, die ein völlig neues Dresden erstehen lassen wollten und dabei nur miserable Kopisten des ideenlosen sozialistischen Zuckerbäckerstils und Betonplattenbaus waren. Die Baukunstwerke von Pöppelmann, Semper, Ch. F. Schuricht, Wilhelm Kreis und vielen anderen prägen noch heute das Stadtbild. Da gibt es die Oper, die Theater und Kirchen, die Hochschule für Künste, die zahlreichen Museen und Galerien auf der einen Seite, die Technische Universität mit ihren unter Denkmalschutz stehenden Bauten wie dem "Blauen Wunder" auf der anderen. Die
Silhouette von Dresden, so wie ich sie in den dreißiger Jahren
von meinem Lieblingsplatz, dem Waldschlößchen, aus gesehen
habe.
In diesem Haus in Dresden-Bühlau wuchs ich auf und lebte dort - mit Unterbrechungen durch Krieg und Haft - bis 1954. Aufbruch
(1945) Schon wenige
Monate nach dieser ersten Begegnung verschwand er im Archipel Gulag,
wie so viele, denen ich in der nächsten Zeit begegnen sollte. Der
Dritte im Bunde war der Leiter der Geschäftsstelle. Ich berichtete
ihnen von meinen Wünschen und Vorstellungen, von meinen Überlegungen,
der KPD beizutreten, und warum ich es dann doch nicht getan hatte. Als
ich damit fertig war, erzählten sie von ihren Vorstellungen und
dem Programm der LDP. Es wurde ein langes Gespräch. Ich fasste
Vertrauen und füllte am Ende einen Aufnahmeantrag aus. In den nächsten
Wochen war ich fast täglich auf der Geschäftsstelle und führte
Gespräche mit dem Geschäftsführer. Ich musste viel lernen.
Neben der Beschäftigung mit der Geschichte und dem Programm der
Liberalen befassten wir uns vor allem mit dem Marxismus-Leninismus.
Die Diskussionen uferten manchmal aus. In einer Zeit, die geprägt
war von der Sorge um das Stück Brot für den nächsten
Tag redeten wir uns die Köpfe darüber heiß, ob diese
Welt nun real sei oder ob sie nur dadurch existiere, dass wir sie uns
vorstellen. Einheitswahlen
(1950) Das Wahllokal befand sich im "Prinz Eugen", einer traditionsreichen Gaststätte, in der mein Vater noch den sächsischen König erlebt hatte. Als ich im Wahllokal eintraf, kamen gerade mehrere ältere Damen und Herren aus dem nahe gelegenen Altersheim. Sie traten an den Tisch, nannten ihren Namen und legten ihren Ausweis vor. Der Wahlvorsteher hielt den Stimmzettel hoch: Sind Sie
für die Kandidaten der Nationalen Front und für den Frieden? Dann fragte er: "Sie sind doch für den Frieden?", und forderte mit unmissverständlichem Antippen des Ja-Kreises: "Hier bitte das Kreuz machen!" Es gab zwar eine Wahlkabine, doch niemand traute sich, den Stimmzettel vom Tisch zu nehmen und damit in die Kabine zu gehen. Alles geschah in der Öffentlichkeit. Die Älteren hatten noch in Erinnerung, wie in der Weimarer Republik gewählt worden war. Das hier hatte mit der ihnen bekannten Wahl nichts mehr zu tun. Zwei verschüchterte ältere Damen standen unschlüssig herum und wussten nicht, ob sie nun gehen oder noch bleiben sollten oder ob vielleicht doch noch etwas käme, das Ähnlichkeiten mit einer Wahl hätte. Ich wurde unheimlich wütend. Als ich an der Reihe war, nahm ich den Stimmzettel vom Tisch und las ihn durch. Der Anblick der alten Leute und die Formulierung auf dem Wahlzettel ließ mich alle guten Vorsätze vergessen. Ich nahm den Stimmzettel, knickte ihn zusammen, steckte ihn in die Innentasche meiner Jacke und verließ das Wahllokal. Ein Wahlhelfer sprang mir hinterher und forderte mich auf, den Stimmzettel zurückzugeben. Es kam zu einem kurzen Wortgefecht, in dessen Verlauf ich erklärte, dass ich sehr wohl für den Frieden sei, aber die Art der Aufstellung der Kandidaten durch die "Nationale Front" ablehne. Ich fragte:
"Wie soll ich das deutlich machen?"
Vorkehrungen
für den Tag X (1951)
Joe Dixie, Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker: "Freiheit muss man in sich tragen".
Der Autor schildert dann seine Verhaftung, die Vernehmungen und die Schikanen durch den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR sowie den Verlauf seines Prozesses.
Ankunft
in Bautzen II (1952)
Außenansicht des Zuchthauses Bautzen II. Hier waren vor allem politische Gefangene inhaftiert, die vom Staatssicherheitsdienst besonders überwacht wurden.
Im Gegenteil, da es eine Gefängnisbücherei gab, genoss ich es, mich mit Lesestoff versorgen zu können. Im Laufe der Zeit stieß ich dabei auf einige Kuriositäten. So fand ich unter anderem Machiavellis "Der Fürst". Ein Buch, das sicherlich nicht den verkündeten Idealen der marxistisch-leninistischen Ideologie entsprach, wenngleich die Politik auch der sozialistischen Staaten durchaus machiavellistische Züge hatte. Ich las es mit großem Eifer, auch wenn mir das Politikverständnis von Machiavelli missfiel. In einem anderen Buch fand ich einen Essay von Dostojewski, "Die Gedanken eines Selbstmörders, natürlich eines Materialisten." Diese Gefängnisbibliothek enthielt Bücher, für die Verantwortliche in einer öffentlichen Bücherei vermutlich eingesperrt worden wären. Vielleicht war man der Überzeugung, dass diejenigen, die hier eingesperrt waren, ohnehin nicht mehr verdorben werden könnten. Ich begann mich einzuleben. Am zweiten Sonntag durfte ich an einem Gottesdienst teilnehmen. Es war das erste Mal, dass ich mit vielen Gefangenen in einem Raum zusammenkam. Hatte mir das Alleinsein zunächst eher Schutz geboten, so empfand ich es jetzt doch mehr und mehr als Isolation.
Manifest
von Buchenwald (Bautzen 1952) Arrestzelle
im Zuchthaus Bautzen II. Aus Gitterstäben hatte man eine Art Käfig
errichtet. Zehn Tage lang war ich darin eingesperrt.
Tag
X - Der 17. Juni 1953 Dann sickerte es durch: Aufstand in Berlin, Unruhe in fast allen Städten. Gerüchte, Hoffnungen und Zweifel. Das Lager befand sich in der Nähe der Bahnlinie, von der wir den Abzweig zum Öllager bauen mussten. Regelmäßig fuhren hier auch Personenzüge vorbei. Lautes Pfeifen kündigte das Nahen des Zuges an. Die Fenster waren heruntergelassen, die Türen geöffnet. Menschen standen auf den Trittbrettern oder lehnten sich heftig winkend aus den Fenstern heraus. Der Zug fuhr betont langsam, wobei der Lokomotivführer immer wieder das Signal ertönen ließ. "Freiheit! Freiheit!" Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage der gleiche Ruf. Doch diesmal wurde nicht geschossen. Die Wachmannschaften schienen nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. War das der Tag X? Er war es, und er endete bitter. Im Laufe des folgenden Tages wurden wir in die Haftanstalt Bautzen II zurückgebracht. Wieder veränderte sich das Verhalten der Wachmannschaft. Der Volksaufstand war niedergeschlagen, die Hoffnungen der Menschen innerhalb und außerhalb der Mauern waren zerbrochen. Wenige Tage darauf trafen die ersten Verurteilten des Aufstandes in Bautzen ein. Der Aufruhr hatte Tausende erfasst, hatte sie ihre Angst vergessen lassen. Aber es gab keine Struktur, keine ordnende Hand. Jeder war, trotz des Massenaufstandes, auf sich allein gestellt. Es hatte gereicht, den Staat zu erschüttern. Es hätte vielleicht genügt, die Regierung zum Teufel zu jagen, aber die noch immer allgegenwärtige Besatzungsmacht war stärker. Dass 36 Jahre später die friedliche Revolution in der DDR gelang, hatte seinen Ursprung auch in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika. Unter
Beobachtung (Dresden 1954) Auf einem
Einführungsabend in das Werk von Carl Orff lernte ich Generalmusikdirektor
Lenzen kennen. Es war beeindruckend, wie dieser Mann am Flügel
und allein mit seiner Stimme ganze Passagen aus "Der Mond"
und "Catulli carmina" darbot. Kurz darauf erhielt er die Genehmigung,
beide Stücke in Dresden zu inszenieren. Ich bat ihn um ein Gespräch.
Mein Wunsch war es mitzumachen, und sei es als Kaffee oder Kleiderbürsten
bringender Assistent. Er versprach, sich dafür einzusetzen, aber
ich wurde abgelehnt. Nicht aus mangelnder Befähigung, was ich durchaus
verstanden hätte. Nein - ich sollte mich erst einmal in der Produktion
bewähren. Doch in der Produktion bekam ich keine Arbeit. Derselbe
Staat, der mich eingesperrt hatte, bescheinigte mir im Arbeitsbuch,
das jeder DDR-Bürger im arbeitsfähigen Alter bei sich führen
musste, eine Erwerbsminderung von 30 Prozent, die einen Einsatz in der
Produktion weitgehend ausschloss. Das
Foto zeigt mich am ersten Tag nach der Haftentlassung, am 6. April 1954.
Die Haftzeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Wieder zusammen: Die Liebe zu meinen Eltern war einer der Gründe, weshalb ich 1954 zögerte, in den Westen zu gehen.
Überzeugungsarbeit
und erste Zweifel
Inge hat zu mir gehalten, wo andere längst das Handtuch geworfen hätten. Wir heirateten 1960.
In Köln konnte ich mich politisch wieder stärker engagieren. Schon bald wurde ich in den Kreisvorstand der Deutschen Jungdemokraten - der damaligen FDP-Jugendorganisation - und in den Vorstand des Ortsverbandes Köln-West der FDP gewählt. 1959 schlug man mich für das Amt des Bezirksvorsitzenden der Deutschen Jungdemokraten vor. Zum Bezirksverband gehörten außer Köln-Stadt noch die Kreisverbände Köln-Land, Bonn, Düren und Bergisches Land. Besonders in den Kreisverbänden Bergisches Land und Düren gaben rechte, nationalistische Kreise den Ton an. Sie stellten einen Gegenkandidaten auf, der bis dahin nur wenig in Erscheinung getreten war. Dieser wurde mit knapper Mehrheit gewählt. Ich wurde sein Stellvertreter. Am 2. April 1959 kam es im Anschluss an eine Sitzung des Bezirksvorstandes zum Eklat. Der neue Bezirksvorsitzende bezeichnete die Widerstandskämpfer des 20. Juli als feige Verräter. Er bekannte sich offen zum Führerprinzip und forderte eine "Säuberung der FDP von liberalen Elementen". Der Kreisverband Köln stellte einen Ausschlussantrag gegen ihn, da er mit seinen Äußerungen gegen das Grundgesetz verstoßen hatte. Seine Verteidigung übernahm der Landesschatzmeister der Jungdemokraten und spätere FDP-Landeswirtschaftsminister, Horst-Ludwig Riemer. Dass ein Mitglied des Landesvorstandes die Verteidigung des Bezirksvorsitzenden im Ehrengerichtsverfahren übernahm, war Anlass zu einer Anfrage, ob der Landesvorstand sich damit dessen Äußerungen zu Eigen mache. Der Landesvorsitzende der Jungdemokraten, Ernst-Günther Herzberg, rückte uns in seiner Entgegnung in die Nähe des berüchtigten Blutrichters des Dritten Reiches, Roland Freisler, und des DDR-Generalanklägers Ernst Melsheimer. Der Bezirksvorsitzende
blieb im Amt und erhielt lediglich einen Verweis. Ich blieb - trotz
meiner Zweifel, weil ich zur gleichen Zeit Verbündete fand, die
meine Ansichten teilten. Unter ihnen war der spätere Bundesinnenminister
Gerhart Baum, mit dem ich seit dieser Zeit freundschaftlich verbunden
bin. Leicht sollte unser Weg allerdings nicht werden.
In der
FDP übernahm ich verschiedene Ämter. Das Foto entstand auf
dem FDP-Parteitag in Freiburg 1968. Es zeigt mich (Mitte) mit Ingrid
Matthäus-Mayer, der späteren finanzpolitischen Sprecherin
der SPD-Bundestagsfraktion, und einem weiteren Delegierten.
Geschichte
ohne Ende Der Widerstand und seine in die Tausenden gehenden Opfer drohen in Vergessenheit zu geraten. Dem Widerstand gegen das NS-Terrorsystem wird ansatzweise durch das Gedenken an den 20. Juli oder an die Geschwister Scholl Beachtung geschenkt, an die Namen der durch den stalinistischen Terror Umgekommenen erinnert sich außer ihren Freunden und Angehörigen niemand mehr. Den Opfern des NS-Systems wird eine zusätzliche Rente gewährt, die Opfer des stalinistischen Terrors in der DDR erhielten eine einmalige geringe Entschädigung nach dem so genannten "Häftlingshilfegesetz". Der Betrag liegt noch unter der Entschädigungssumme für zu Unrecht erlittene Haft in der Bundesrepublik. ( ) Für
mich ergibt sich daraus ein gefährlicher Widerspruch. Einerseits
heben wir einige Heroen des Widerstandes auf ein Podest, in eine Sphäre
der Heldenverehrung, die uns vor Bewunderung fast erstarren lässt,
andererseits aber verweigern wir den Namenlosen des Widerstandes wenigstens
einen annähernd gleichen Lebensstandard wie den namenlosen Mitläufern
oder Mittätern eines staatlichen Terrorsystems. Es geht nicht darum,
die Renten ehemaliger Richter, Staatsanwälte oder Stasi-Angehöriger
auf Sozialhilfeniveau zu drücken. Es geht vielmehr um die Frage,
ob wir es uns leisten können, so mit Opfern von Gewaltherrschaft
umzugehen. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es nicht
um Ruhm und Ehre für die einen oder um Rache und Bestrafung der
anderen, es geht um das Erkennen der Gefahren, die von Extremisten,
Populisten und hemmungslosen Karrieristen ausgehen.
Inhalt »Treiben gegen den Strom« Vorwort 9 Jeder
fängt mal klein an Krieg Neue
Herren alte Methoden Die
Zeit als Häftling Manifest
von Buchenwald 144 Frei
ohne Freiheit Ankunft
in der neuen Welt |