Leseprobe

Ein Stück Berlin
17 Jugend-Erinnerungen von Zeitzeugen 1918-1945

Zeitgut Auswahl
184 Seiten mit Abbildungen, gebunden
ISBN 3-933336-21-X
Euro 9,80

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Leseproben aus dem Buch
Auf dem Weg ins Dritte Reich (Ausschnitt) - Klaus Brockerhoff
Großstadtjunge (Ausschnitt) - Ludwig Lang
Blumenbote im Hotel Adlon - Manfred Sonntag


Auf dem Weg ins Dritte Reich
Klaus Brockerhoff

... Ich war sieben Jahre alt und ging seit Ostern 1929 in die Schule. Ich hörte Begriffe wie: Marxismus, Demokratie, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kriegsgewinnler und ähnliches. Namen wurden genannt: Brüning, Stresemann (ehemaliger Außenminister, der 1929 verstorben war), Hindenburg und immer wieder Hindenburg – der „Ersatzkaiser“, die Vaterfigur. Ich hatte ihn gesehen, als im Februar 1928 Amanullah, der König von Afghanistan, als erster ausländischer Staatsmann nach dem Krieg Deutschland besuchte. Vater hatte mich „mitgeschleppt“, als der König und Hindenburg ins Reichspräsidentenpalais in die Wilhelmstraße fuhren. Ich konnte den pompös aufgemachten Monarchen beim Aussteigen bewundern. Neben ihm – im schwarzen Mantel und Zylinder – der Reichspräsident: Paul von Beneckendorff und Hindenburg.

Vierzehn Tage später gab es die Zigarettenmarke „Amanullah“. Vater hat die Zigarette probiert, aber sie schmeckte ihm nicht. Er blieb bei „Overstolz“ und seinen Fehlfarben. Er war ein starker Raucher.

Ich spielte also an diesem Nachmittag mit den Zinnsoldaten, die ich auf Mutters Nähtisch aufgebaut hatte. Kieler Zinnfiguren, die eigentlich meinem Vater gehörten, aber heute war Sonntag, da durfte ich sie haben.

Kriegsspielzeug: Zinn- und Bleisoldaten waren sehr beliebt, sie wurden auch gern getauscht und „weitervererbt“.

Vater erzählte, daß in der Bank enorm „abgebaut“ würde. Er selbst habe eine erhebliche Gehaltskürzung hinnehmen müssen. Meine Mutter sprach von der Suppenküche für die Armenspeisung, die das Bezirksamt Charlottenburg in der Pestalozzistraße eingerichtet hatte. Einer der Herren, ich glaube, es war der mit den Schmissen, fragte: „Habt Ihr das neue Wahlplakat von den Nazis gesehen? ,Haut dem Brüning auf die Glatze, daß die Notverordnung platze’, steht da drauf.“

Ich wußte nicht, ob er eine Glatze hatte. Brüning war Kanzler, katholisch, „Erfüllungspolitiker“ – ganz klar kam ich da nicht, und ich brachte bestimmt einiges durcheinander. Aber ich wußte, wer er war, und diesen Text auf dem Wahlplakat stellte ich mir bildlich vor. Vielleicht konnte ich es irgendwo sehen. Sie klebten ja massenhaft an jeder Litfaßsäule und lesen konnte ich schon – recht gut sogar.
„Und was wird mal aus ihm?“ fragte jemand und deutete mit seiner Zigarre in Richtung Wohnzimmer und Nähtisch. Meine Mutter seufzte.
„Ick wer’ Klettermaxe!“ krähte ich, und zappelte derart auf meinem Kinderstuhl herum, daß alle Zinnsoldaten umfielen. „Klettermaxe“ war ein damals von den Berlinern heimlich bewunderter Fassadenkletterer, der sich als Einbrecher betätigte.
„Na sowas!“ rief mein Vater, „der Bengel hört ja zu“, und schloß die Flügeltüren. Ich war ziemlich enttäuscht.

Inzwischen ging ich schon über ein Jahr zur Schule. Es war die 25. Volksschule in der Sybelstraße, Fußweg zirka 25 Minuten. Frau Rissom war meine Lehrerin. Ich habe selten einen Menschen in meinen Leben getroffen, der so war wie sie. Sie sah streng aus und war die Güte selbst. Sie besaß ein aus dem Herzen kommendes soziales Empfinden, war eine fürsorgliche Pädagogin und konnte einfach alles. Sie verstand jeden von uns.

Wir waren etwa 40 Kinder in der Klasse. Die Schule hatte ein großes Einzugsgebiet. Es reichte von Berlin W15 (damals Kurfürstendamm) bis nach Charlottenburg Nord. Wir hatten reiche, sehr reiche, bürgerliche, arme und bitterarme Kinder unter uns. Auch etwa zehn Juden gehörten zu den Klassenkameraden.

Einige meiner Schulkameraden waren sogenannte „Trockenwohner“, das heißt, sie lebten mit ihren Eltern in Neubauten, die erst noch austrocknen mußten. Die Miete war gering oder entfiel gänzlich, dafür mußten die Bewohner heizen – sofern sie das Geld hatten. Die wenigsten konnten es. Daher litten sie wegen der ewigen Feuchtigkeit an Bronchialkrankheiten. „Die ham die Motten“ (Tuberkulose), sagten wir respektlos, obwohl das nicht zutraf, es waren vorwiegend Dauererkältungen und Heiserkeit. Zwei von ihnen hatten so eine Art Rheuma und wurden irgendwann „verschickt“, an die Nordsee, wie es hieß.

Während unserer ersten Schultage als „Achteklecker –Tafellecker“ (Damals zählten die Klassen rückwärts, also von 8 bis 1 = 8 Schuljahre vom 6. bis 14. Lebensjahr) fragte Frau Rissom, wer von uns kein Frühstücksbrot mitbekommen kann. Etwa zwölf Kinder meldeten sich, aber erst nach langem Zögern und Zureden von Frau Rissom.
„Ihr seid jetzt Klassenkameraden, also bittet eure Eltern, daß diejenigen, die ein Frühstücksbrot haben, noch ’ne Stulle mehr mitbringen für die, die keine haben! In meiner Klasse hungert keiner“, sagte sie.

Ich sah, wie ein Junge spontan die Hand seines Nebenmannes ergriff und sie festhielt. Der andere weinte. Ich hatte einen Kloß im Hals und empfand unbewußt, daß diese Handlung unserer Lehrerin mehr war als nur eine Anordnung. Sie war der Beginn einer vier Jahre dauernden Klassengemeinschaft, die uns bis 1933 fest zusammenhielt.

Von Anfang an herrschte eine erstaunliche Klassendisziplin. Wir machten Krach wie andere auch, aber wir empfanden großen Respekt vor Frau Rissom. Wenn sie die Klasse betrat, standen wir auf und sagten im Chor: „Guten Morgen, Frau Rissom.“
Unser erstes Schulbuch war die „BÄRENFIBEL“. Das Titelbild zeigte einen kleinen Berliner Bären, der fröhlich auf das Brandenburger Tor zu marschierte. Er trug einen Schulranzen. Ein Lineal ragte aus dem Tornister, Schwamm und Tafellappen baumelten an der Seite. Wir benutzten ebenfalls Schwamm, Tafellappen, Schiefertafel und Griffel und identifizierten uns mit unserem Bären, also mit der Fibel. Der kleine Bär mußte auch lernen und wir lernten einfach mit. ...

Das bin ich mit sechs Jahren im Sommer 1929, aufgenommen auf einem der langen Spaziergänge, die mein Vater sonntags mit mir unternahm.
Mit der S-Bahn fuhren wir von Charlottenburg nach Grunewald. Von dort wanderten wir vorbei am Teufelssee, quer durch den Wald, bis zur Dampferanlegestelle Schildhorn. Dort bekam ich im Gartenlokal ein Eis, aber nur im Sommer.

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Großstadtjunge
Ludwig Lang

Im Jahre 1928 war unsere Familie von Bamberg nach Berlin gezogen. Obwohl ab 1930 für Deutschland und Berlin politisch unruhige und turbulente Zeiten heraufzogen, verbrachte ich in dieser turbulenten, sehenswerten Stadt eine nahezu sorglose Kindheit.

Meine Eltern kauften in Neukölln eine kleine Bäckerei, sozusagen zum Ausprobieren. Schon nach zwei Jahren verkauften sie diese wieder, um eine größere, erfolgversprechendere Bäckerei zu erwerben. Unsere neue Adresse lautete nun Berlin-Schöneberg, Suadikanistraße 1, eine unscheinbare, kurze Straße, in der nur drei vierstöckige Mietshäuser standen.

Lebensgrundlage der Familie waren die Bäckerei und Konditorei mit zwölf Angestellten, ein für die damalige Zeit ansehnlicher, mittlerer Handwerksbetrieb. Er bestand aus dem großen Laden mit dazugehörigem Schaufenster, der Konditorei und drei Backstuben. Stundenweise herrschte auch hier typisches, hektisches Großstadtgedränge. Bei Schichtwechsel, morgens zwischen 7 und 7.30 Uhr oder am Nachmittag zwischen 16.30 und 17 Uhr, strömten zirka 6500 bis 7 000 Menschen vom Bahnhof Papestraße zu den in unmittelbarer Nähe gelegenen Fabriken, um dann nach Feierabend wieder zurückzueilen.
Der Bahnhof Papestraße war ein Umsteigebahnhof. Oben trafen alle fünf Minuten die Stadtbahnzüge ein, und zwei Etagen weiter unten fuhren die noch mit Dampflokomotiven gezogenen Vorortzüge im 10-Minuten-Rhythmus weiter. Um den jeweiligen Anschluß zu erreichen, rannten die Fahrgäste von oben nach unten oder in entgegengesetzte Richtung zu den Zügen.
Jeden der im Abstand von fünf Minuten einfahrenden Züge empfing der Stationsvorsteher mit den Worten: „Hier Bahnhof Papestraße! Beim Umsteigen bitte beeilen! Einsteigen! – Vorsicht am Zug – Zurückbleiben!“

Dieser Text wurde nur etwa 150 Meter von unserer Wohnung entfernt alle fünf Minuten angesagt! ... Aber bald hörten wir ihn nicht mehr, so hatten wir uns daran gewöhnt.
Direkt über der Bäckerei, im ersten Stock, war unsere Wohnung. Sie hatte ein recht geräumiges Wohnzimmer mit Balkon, ein Elternschlafzimmer, unser Kinderzimmer, eine Küche mit Speisekammer, ein Bad/WC und das Mädchenzimmer. Diese Räume wurden verbunden von einem Korridor, von dem aus jeder Raum erreichbar war. Dieser war so lang und breit, vor allem aber so hoch, daß an seiner Decke für uns Kinder eine Schaukel angebracht war. Es war ein tolles Vergnügen, mit so viel Schwung zu schaukeln, daß wir mit den Fußspitzen die Decke berührten, sehr zu Mutters Ärger, denn mit der Zeit entstand dort ein dunkler Fleck.
Nicht nur im behaglichen Wohnzimmer, sondern auch im Kinderzimmer stand ein schöner, alter Kachelofen, der bis an die 3,50 Meter hohe Decke reichte. Die Öfen hatten in halber Höhe Fächer, in denen im Winter, hauptsächlich um die Weihnachtszeit, Bratäpfel brutzelten und einen angenehmen Duft verbreiteten.

Der Tagesablauf von uns beiden Jungen war neben der Schule durch das Geschäft bestimmt. Von Montag bis Samstag, pünktlich um sechs Uhr morgens, klopfte Mutter mit einer extralangen Holzstange in der Backstube an die Decke, die gleichzeitig der Fußboden unseres Kinderzimmers war. Sofort sprang darauf einer von uns Buben aus dem Bett und trampelte als Antwort auf das Klopfen wie wild mit den bloßen Füßen auf den Boden. Sobald Mutter unten das dumpfe Poltern hörte, ging sie beruhigt wieder ihrer Arbeit nach, wußte sie doch, wir waren aufgestanden.

Zwanzig Minuten später erschienen wir im Laden. Dort standen für uns schon die Körbe mit den frischen Schrippen, abgezählt und ordentlich in Tüten oder Säckchen verpackt, in Reih und Glied bereit. Wir Geschwister, die zwei Stifte, die Verkäuferin und das Hausmädchen mußten die Waren zur Kundschaft bringen, die schon auf ihre Frühstücksschrippen wartete. Zu den Kunden in unmittelbarer Nähe liefen die Verkäuferinnen zu Fuß. Wir dagegen schwangen uns auf die Räder, um zur täglichen Vorfrühstückstour jeder in eine andere Richtung auszuschwärmen.

Diese Aufnahme entstand 1935 vor unserem Laden in der Suadikanistraße. Vor der Schule halfen mein Bruder und ich beim Brötchenaustragen. Für dieses Kastenrad war ich mit meinen acht Jahren allerdings noch zu klein. Ein Glöckchen schwingend, fuhr der Geselle damit durch die Straßen und verkaufte Kuchen vom Blech und Brötchen.


Weil viele Kunden vier oder fünf Stockwerke hoch wohnten, unsere Zeit wegen des Schulbeginns aber knapp war, erfanden wir eine schnelle Methode der Schrippenlieferung: Kaum hatten wir die oberste Etage erstürmt, unsere Brötchen vor die Türe des Kunden gelegt, sprangen wir, eine viertel oder halbe Treppe mit einem Satz nehmend, abwärts. So entstand im morgendlichen, stillen Hausflur ein Mordskrach; bevor sich jedoch einer der Hausbewohner beschweren konnte, waren wir schon über alle Berge.

Spätestens um 7.30 Uhr kamen wir abgehetzt und hungrig zurück. Für uns standen schon frische, belegte Brötchen, dampfende Milch oder Kaffee bereit. Danach ging es per Fahrrad schnellstens zur Schule.

Vater war nicht nur ein sparsamer, sondern auch ein praktischer Mann, der gern kochte. Deshalb gab es an den Werktagen häufig Eintopf zu Mittag. Alle Zutaten kamen in einen großen Topf und wurden um 9 Uhr in den Backofen geschoben, wo sie ohne große Arbeit garen konnten. Meister, Meisterin und die Gesellen, später die Verkäuferinnen und die Stifte, setzten sich kurz nach 12 Uhr in der Backstube zum Essen. Als letzte, nach Schulschluß, aßen wir Kinder zusammen mit dem Hausmädchen in der Küche unserer Wohnung. Dabei ging es meist recht lustig zu.

Gleich nach dem Essen wurden die Hausaufgaben erledigt, die Mutter beim Kaffeetrinken um 15 Uhr kontrollierte. Erst danach durfte einer von uns zum Spielen. Der andere mußte sich in Ruf- oder Sichtweite des Geschäftes aufhalten. Wenn Kunden telefonisch noch Backwerk bestellten, mußte er es mit dem Fahrrad liefern. Erhielt man dabei ab und zu vom Empfänger 10 Pfennige Botenlohn, versöhnte das ein wenig für die entgangene Spielfreude.

Um 18 Uhr mußte der Diensttuende in der Backstube erscheinen, um Bleche zu putzen, Kuchenformen einzufetten und die Zuckerglasuren für den nächsten Tag anzurühren. Um 19 Uhr wurde der Laden geschlossen, zirka eine halbe Stunde später saß die Familie in der Wohnung beim Abendessen um den Tisch. An Werktagen war das oft der einzige Moment, an dem alle beisammen waren.

In der Bäckerei war um 4 Uhr Arbeitsbeginn, für Vater noch eine halbe Stunde früher. Samstags und vor Feiertagen ging es schon um 2 Uhr los. Täglich mußten bis 6 Uhr 5 000 Brötchen gebacken und spätestens bis 7 Uhr zum Frühstück in die Kantinen der Fabriken oder zu Privatkunden geliefert werden bzw. im Laden bereitliegen. Bereits um 11 Uhr gab es die nächsten frischen Schrippen, die im Hauptgeschäft oder in den Filialen verkauft wurden. Zwischen dem Brötchenbacken wurden täglich noch 120 bis 150 Stollen Graubrot, 10 bis 15 Blechkuchen, an Samstagen auch 20 Stück, hergestellt. Dazu massenweise Schnecken, Melonen, Amerikaner, Blätterteig- oder Plunderstücke, nicht gezählt all die Torten und das Feingebäck. Mutter mußte die Blechkuchen verkaufsfertig einteilen und mit der Hand schneiden. Alle Backwaren entstanden in Handarbeit, nur zur Teigbereitung wurden Maschinen benutzt. Wenn im Laden um zirka 18 Uhr alle Regale leer waren, dann freuten sich Meister und Meisterin.

Auf diesem Foto aus dem Jahr 1936 sind meine Eltern zu sehen, umgeben von einem Teil der Belegschaft unserer Bäckerei.

Der Preis für eine Schnecke oder einen Amerikaner betrug 5 Pfennige, das Stück Blechkuchen, ein Schweineohr aus Blätterteig oder ein Plunderstückchen kosteten 10, das Stück Torte 10 bis 15 Pfennige. Für 10 Pfennige erhielt man vier Schrippen, die auf Wunsch noch ins Haus geliefert wurden. Die 1500-Gramm-Brote wurden mit 48 Pfennigen berechnet. Das Dutzend Berliner Pfannkuchen (Krapfen) hatte den Preis von einer Mark, frei Haus geliefert. Ein Bäckergeselle verdiente pro Woche seinerzeit 38 bis 40 RM. Die Monatsmiete für Bäckerei und Konditorei, dazu die Wohnung, belief sich auf 375 RM. ...

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[Berlin-Mitte; 1941]

Blumenbote im Hotel Adlon
Manfred Sonntag

„Good morning, boys!“ –
25 Gymnasiasten, alle etwa sechzehn Jahre alt, stehen auf und antworten im Chor: „Good morning, Master!“
Unser Englischlehrer, Dr. Erich Kuntze, hat gerade den Klassenraum betreten. Wir wissen schon, wie die nächsten Worte Dr. Kuntzes lauten werden: „Is anybody absent?“
Das gehört zum täglichen Ritual, wenn der Schultag mit dem Englischunterricht beginnt. Unser Klassensprecher meldet sogleich: „Yes, Master. The pupil Alfred Weise is absent.“

Alfred Weise ist mein Freund und auch mein Banknachbar. Ich denke mir: Alfred wird bestimmt noch kommen. Sicher hat er, wie schon so oft, nicht aus dem Bett gefunden. Die Schüler des Köllnischen Gymnasiums leben über ganz Berlin verstreut. Ich wohne in Kreuzberg und fahre jeden Tag mit dem Fahrrad zu unserem Gymnasium in der Inselstraße, dicht am Köllnischen Park, in der Nähe des Märkischen Museums. Alfred ist am Bülowbogen zu Hause, andere Schüler kommen aus Neukölln, Moabit oder Pankow.

Richtig, kaum sind fünfzehn Minuten vergangen, öffnet sich die Tür und Alfred stürzt herein. Völlig außer Atem stammelt er: „Excuse me, Sir, that I am so late...“
„Shut up and sit down“, entgegnet Dr. Kuntze. Dann auf deutsch: „Also, Weise, jetzt habe ich endgültig genug von deiner Zuspätkommerei, das Maß ist voll. Künftig werde ich andere Saiten aufziehen.“

Wie ein geprügelter Hund setzt sich mein Freund neben mich. Ich weiß aber, daß er gut schauspielern kann.
„Manni“, flüstert er mir nach einigen Minuten aufgeregt ins Ohr, „ich hab’ einen heißen Tip, wo wir ’ne Stange Geld verdienen können! Ich sag dir mehr darüber in der Pause.“

Während der ersten Pause packt mich Alfred am Arm und sagt aufgeregt: „Stell’ dir vor, was mir gestern abend mein Vater erzählt hat: Vom Hotel Adlon am Pariser Platz werden drei Blumenboten gesucht! Gegen einen Stundenlohn von fünfzig Pfennigen sollen von Gästen des Hotels bestellte Blumengebinde zu den Empfängern in der ganzen Stadt gebracht werden. Das wär doch etwas für uns! Hast du Lust? Wir könnten Heinz Prutz fragen, ob er auch mitmacht, und dann schwirren wir ab zu dem Nobelkasten am Brandenburger Tor.“

Bei so einem Angebot brauche ich gar nicht lange zu überlegen. Freudig antworte ich: „Natürlich bin ich dabei, das ist ja leicht verdientes Geld.“ Schon eine Reichsmark ist für uns Schüler ein kleines Vermögen.
Heinz Prutz ist ebenso begeistert wie ich und meint: „Keine Frage! Ich wär’ ja blöd, wenn ich da nein sagte, von mir aus kann es gleich heute losgehen.“

So stehen wir drei schon am Nachmittag vor dem Hotel Adlon. In der Hotelhalle hat die stadtbekannte Firma „Blumen Rothe“ einen Glaspavillon bezogen. Dort stellen wir uns vor. Wir bewundern die vielen verschiedenen Blumen und Grünpflanzen, die es bei „Blumen Rothe“ zu sehen gibt. Darunter entdecken wir eine Anzahl bizarrer Blüten, die wir noch nie gesehen haben.

Erst später lernen wir im Biologieunterricht, daß wir Passionsblumen, Hibiskus und Bougainvillea bewundert haben.
Die freundliche Dame vom Verkauf fordert uns auf, im Blumenkeller des Hotels nachzufragen, denn von dort aus werden die Bestellungen ausgetragen. Wir steigen die steile Treppe hinunter und melden uns bei Herrn Müller, einem Angestellten, der einen blütenweißen Kittel trägt.

„Ihr kommt mir wie gerufen“, sagt er. „Es gibt genug Arbeit.“ Sorgfältig notiert er unsere Namen und Adressen und schon bekommt jeder von uns zwei sauber eingewickelte Blumensträuße mit angehefteten Glückwunschkarten in die Hand gedrückt.
„Nun denn, auf geht’s!“ ruft Alfred uns fröhlich zu und ist im nächsten Moment am Ausgang verschwunden.
Meine Blumenempfänger wohnen in Tempelhof, was mit Bus und U-Bahn gut erreichbar ist. In der Paradestraße öffnet mein erster „Kunde“ die Tür, ein Oberleutnant in Uniform. Er fordert mich auf, einzutreten und Platz zu nehmen. Die Blumen erfreuen ihn.
Leutselig fragt er mich: „Warum machst du diesen Botendienst? Willst du dir ein zusätzliches Taschengeld verdienen oder willst du unseren Führer unterstützen, damit ein Soldat mehr an die Front gehen kann, dessen Arbeiten du jetzt übernommen hast?“
„Darüber“, antworte ich wahrheitsgemäß, „habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Nach einem kurzen Augenblick füge ich hinzu: „In erster Linie möchte ich mir damit ein Taschengeld verdienen.“
Das Gesicht des Offiziers verfinstert sich daraufhin, und er verabschiedet mich ganz schnell. Ein Trinkgeld gibt er mir natürlich auch nicht.

Am selben Tag befördere ich noch zwei mittelgroße und ziemlich schwere Blumenschalen nach Spandau. Innerhalb von vier Stunden habe ich mein erstes Zubrot verdient.

Am nächsten Schultag tauschen Alfred, Heinz und ich unsere ersten Erfahrungen aus. Trotz der unhandlichen Blumenschalen sind wir mit unserem neuen Job sehr zufrieden und wollen weiter am Ball bleiben.

An diesem Tag haben wir Biologieunterricht bei Dr. Paul Heidmann, einem langen, hageren Mann mit etwas spitzer Nase, leicht ergrauten Haaren und stets heiterem Gemüt. „Heute“, beginnt er, „beschäftigen wir uns mit der märkischen Kiefer, deren lateinischer Name ,Pinus silvestris rubera‘ lautet. Das merkt euch von Anfang an sehr genau! Also nochmals: Pinus silvestris rubera! Dies zu wissen, ist für einen zivilisierten Menschen eine Selbstverständlichkeit! Seid sicher, jeden zweiten Passanten auf der Straße könnt ihr nach dem lateinischen Namen dieses Baumes fragen, und er wird euch, ohne zu zögern, die Antwort geben: ,Pinus silvestris rubera‘.“
Gleich nach Schulschluß machen sich Alfred, Heinz und ich wieder auf den Weg zum Adlon. So geht es weiter, beinahe jeden Tag in der Woche. Die Arbeit gefällt uns gut. Wenn nur die schweren Blumenschalen nicht wären!

Heute habe ich einen besonders schlechten Tag erwischt. Ich muß ausschließlich Blumenschalen austragen. Als ob Blumensträuße aus der Mode gekommen wären!
Gegen acht Uhr komme ich müde und abgeschlafft zum Adlon zurück, um meine Arbeitsstunden anschreiben zu lassen. Ich traue meinen Ohren nicht, als der weißbekittelte Herr Müller mich mit den Worten empfängt: „Manfred, eine Rosenschale mußt du jetzt gleich in die Graf-Spee-Straße bringen. Das liegt mir sehr am Herzen, denn ich habe diesem Kunden die prompte Auslieferung noch für heute versprochen. Also hör auf, deine Augen zu verdrehen!“

So eine überdimensionale Blumenschale habe ich noch nie gesehen. Die ist ja mindestens viermal so groß wie eine normale!
„Nun geh schon, mit dem Bus ist es doch gar nicht so weit“, sagt Herr Müller zu mir und schaut mich dabei ein bißchen mitleidsvoll an. Mühsam bugsiere ich das Monstrum die Kellertreppe hinauf.

Der Winter hat begonnen, und um diese Zeit ist es draußen bereits längst nicht mehr hell. 1941 dauert der Krieg schon zwei Jahre. Auf der Straße sehe ich kaum die Hand vor meinen Augen, denn alle Fenster sind vorschriftsmäßig verdunkelt. Keine Laterne brennt, und die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Fahrzeuge sind zu schmalen Schlitzen verengt. Um sich nicht ständig anzurempeln, tragen die Leute an ihrer Kleidung Leuchtplaketten.
Mit kleinen Schritten taste ich mich zur nächsten Bushaltestelle, die auch noch auf der anderen Straßenseite liegt. Ich weiß nicht, wie ich meine unhandliche Last tragen soll – mal vor dem Bauch, mal an einer Seite. Vor mich hinfluchend, besteige ich den Bus, der plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht ist und mit quietschenden Rädern vor mir gehalten hat. Ich bitte den Schaffner – den gab es damals noch! – mir kurz bevor wir die Graf-Spee-Straße erreichen, Bescheid zu geben, damit ich mit meiner riesigen Blumenschale auch rechtzeitig am Busausgang stehe.
Wieder umgibt mich totale Finsternis.

Mit jedem Schritt wird meine Blumenschale schwerer. Ich erinnere mich daran, wie die Eingeborenen in Afrika ihre Lasten tragen und plazierte das Gefäß auf meinen Kopf. Die Wollmütze federt den Druck etwas ab, so daß mir mein Einfall gar nicht so schlecht erscheint.
Ich will mich an die nächste Hauswand herantasten, um dann den Hauseingang zu erreichen und mich an der Hausnummer zu orientieren. Ich kann nicht wissen, daß es in dieser Gegend viele Vorgärten gibt. Sie alle waren einmal von schmiedeeisernen Gittern auf Betonsockeln eingefaßt. Die Gitter sind längst abgesägt worden, um Material für die Herstellung von Bomben und Granaten zu gewinnen. Nur die nackten Betonsockel sind übriggeblieben. Langsam taste ich mich vor.
Plötzlich liege ich auf der Nase – vor mir die zertrümmerte Blumenschale. Ich bin über einen dieser Betonsockel gestolpert. Mich durchflutet, trotz des Mißgeschicks, ein Hochgefühl der Erleichterung, ähnlich dem, das Hans im Glück gehabt haben muß, als sein Goldklumpen in den Brunnen fiel. Den Sturz habe ich gut überstanden. Befreit und beinahe fröhlich ergreife ich das Rosenbäumchen, schüttele vom Wurzelballen etwas Erde ab, wickele ihn in das Geschenkpapier und gehe deutlich erleichtert zur Bushaltestelle.

Im Adlon macht Herr Müller große Augen, als ich ihm sein demoliertes Prachtstück auf den Tisch stelle. Nachdem ich ihm den Hergang des Unfalls geschildert habe, lächelt er verständnisvoll und sagt: „Junge, mach dir keine Sorgen. Das war höhere Gewalt. In diesem besonderen Fall wird der Blumengruß aus dem Adlon auch am nächsten Tag willkommen sein.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Herr Müller ist eben ein netter Kerl.
Meine Tätigkeit beim Hotel Adlon wird eines Tages abrupt beendet, als zu Hause ein blauer Brief aus der Schule eintrifft: „Manfreds Versetzung zu Ostern ist gefährdet!“ Meine Eltern verbieten mir, weiter als Blumenbote zu arbeiten. So mußte ich dem lieben Hotel Adlon und der Firma „Blumen Rothe“ ade sagen.

Nach dem Fall der Mauer konnte ich meinen Schulfreund Alfred Weise im Osten Berlins ausfindig machen. Fünfzig Jahre waren inzwischen vergangen. Nach der ersten Wiedersehensfreude fragte ich Alfred unvermittelt: „Wie lautet der lateinische Name für die märkische Kiefer?“
Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: „Pinus silvestris rubera!“

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