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Leseproben
aus dem Buch
Gisela Schoon, "Alles raus, so schnell
es geht!"
Artur Wieland, Auf verlorenem Posten in Danzig
Siegfried Allzeit, Letzte Tage in Königsberg
Helga Naujoks,"Dai kusotschka chleba!"
Eva-Maria Otto, Glück im Unglück - kein
Platz auf der "Gustloff"
Ruhheim,
Kreis Mogilno, Warthegau Stettin Konikow bei Köslin,
Hinterpommern; Januar 1945
"Alles
raus, so schnell es geht!" (Auszug)
Gisela Schoon
...Die
Kinder stürmten in die Schule und riefen aufgeregt: Fräulein
Wendt, wir müssen alle raus, so schnell es geht! Unsere Eltern
sagen, wir müssen auf Planwagen und Schlitten und können
nur das Notwendigste mitnehmen!
Ich schickte die Kinder nach Hause und war mir nicht sicher, ob ich
das durfte. Als ich mich draußen umschaute, bot sich mir ein
chaotisches Bild: Um den sonst so friedlichen Dorfweiher fuhren unter
Schreien und Peitschenknallen Fuhrwerke auf, Männer und Frauen
warfen Truhen und Hausgeräte auf die Wagen. Graue Plane wurden
über die Wagen gezogen und befestigt. Kleine Kinder schrien jämmerlich.
Ich eilte zu meiner Bauernfamilie, bei der ich täglich zu Mittag
aß. Die Mutter schwenkte ein Gewehr über den Köpfen
der sich an sie drängenden Kinder und schrie mit sich überschlagender
Stimme: Ich schieße alle tot! Erst die Kinder und dann
mich! Es ist zu spät! Die Russen schonen uns nicht und die Polen
auch nicht!
Vor unserer Lehrerinnenbildungsanstalt in Exin bei Bromberg*), Warthegau.
In der vorletzten Reihe, direkt vor dem ganz oben stehenden Mädchen,
stehe ich. Die vier gemeinsamen Ausbildungsjahre fern von zu Hause
schmiedeten uns fester zusammen als Klassen anderer Schularten. Obwohl
wir durch die Flucht oder spätere Ausweisung sehr verschiedene
Lebenswege hatten und in alle Teile Deutschlands verschlagen wurden,
treffen wir uns noch heute regelmäßig.
Als sie
mich wahrnahm, rief sie mir zu: Machen Sie schnell! Packen Sie
einen Koffer, mehr nicht. Sie können bei den Kindern auf dem
Schlitten sitzen.
Ich rannte zum Schulhaus. An der Straße sah ich einige schwarzmeerdeutsche
Frauen hocken. Ihre langen Röcke bauschten sich über verschnürten
Kartons. Dicke Jacken hielten sie bei der eisigen Kälte von über
20 Grad minus vorn zu. Wie immer hatten sie bunte Tücher um die
Köpfe geschlungen. Ängstlich und besorgt musterten sie mich.
Die Frau, die ich zur Reinigung der Schule eingestellt hatte, rief:
Fräulein, wissen Sie, wann wir abgeholt werden? Ein Lastwagen
soll uns mitnehmen wenn der nicht kommt, sind wir verloren.
Ich lief die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Ein Koffer war schnell
gefüllt. Vor dem Schreibtisch blieb ich stehen. Die Schulkasse:
124 Mark ... Sollte, durfte ich das Geld an mich nehmen?
Ich steckte es ein zusammen mit dem Einberufungsschein zu einem Fortbildungsseminar,
der mich als Schulpraktikantin einer Lehrerinnenbildungsanstalt im
fünften Ausbildungsjahr identifizierte. Das erwies sich später
als glücklicher Zufall...
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Danzig
Rønne, Dänemark Darsekau, Kreis Salzwedel, Altmark,
Sachsen-Anhalt; 15. August 1944 31. März 1945
Auf
verlorenem Posten in Danzig (Auszüge)
Artur Wieland
In meiner
Dienststelle, der Landesbauernschaft Danzig-Westpreußen am Krebsmarkt
in Danzig, waren die Reihen der Kollegen durch kriegsbedingte Einsätze
schon stark gelichtet. Neben der Einberufung Jüngerer an die
Front waren viele bereits im August 1944 zum Schanzeinsatz rund um
Danzig abberufen worden, wo sie in Lagern fernab der Familie campierten.
Sämtliche übrigen Männer, darunter auch ich, hatten
jeden Sonntag von 7 bis 15 Uhr zum Schippen anzutreten. Beruflich
mußte ich zu meiner Abteilung II B I, Fachschulen und Wirtschaftsberatung,
noch die Abteilung II A I, Berufsausbildung, hinzunehmen. Außerdem
oblag mir ein Teil der Stabsleitergeschäfte...
... Mit der Ankunft großer Flüchtlingsströme aus Ostpreußen
in Danzig ergab sich für unsere Dienststelle die zwingende Notwendigkeit,
ein Flüchtlingsmeldewesen einzurichten. Außerdem mußten
die Trecks versorgt und wenn nötig neu zusammengestellt werden.
Kurzentschlossen verwandelten wir die Baracke der Milchuntersuchungsstation
in ein Flüchtlingsquartier und richteten eine Küche ein.
Bald darauf dienten auch alle anderen verfügbaren Räume
im Untergeschoß des Hauptgebäudes diesem Zweck. In den
Danziger Vororten wurden, zunächst auf freiwilliger Basis, Räumlichkeiten
für die Flüchtlinge bereitgestellt. In unsere Wohnung in
Oliva, Steinstraße 8, nahm ich die Familie des Kreisbauernführers
Knutti aus Pilkallen*) auf, so daß ich die Räume, wenn
ich kurz nach Hause kam, nicht so öde vorfand. Danach brachte
ich dort eine Frau mit ihren Kindern unter, bis die Wohnung von einem
bunten Durcheinander dichtgedrängter Flüchtlinge überlagert
war, die alles ruinierten, und ich sie freigab, um in die Landesbauernschaft
überzusiedeln. Am 5. März wurde auch unser Wochenendhaus
in Zoppot**), Taubenwasserweg 76, das uns zwei Jahre als Notwohnung
dienen mußte, mit Flüchtlingen belegt.
In mein Ressort fielen unter anderem das Ausstellen von Bescheinigungen
für Flüchtlinge sowie Verhandlungen mit Wehrmacht, Volkssturm,
SA und sonstigen Dienststellen. Eine der größten Schwierigkeiten
war die Erfassung der mit den Trecks ankommenden Männer für
den Volkssturm. Die hierfür eingesetzten SA-Leute gingen mit
brutaler Sturheit vor. Welche seelische Marter für die Betroffenen,
wenn nach ihrer qualvollen Flucht vor den Russen Mann für Mann
von den Treckwagen heruntergeholt und zum Volkssturm eingezogen wurde!
Hier hatte ich nach Weisung des Landesbauernführers einzugreifen.
Das war aber leichter gesagt als getan. Schließlich konnten
wir uns mit der SA-Führung darauf einigen, daß bei jedem
Treck ein Mann, möglichst der älteste, blieb. Er sollte
die drei, vier oder auch mehr Wagen zum neuen Standort in Pommern
begleiten und sich nach der Unterbringung seiner Schutzbefohlenen
beim dortigen Volkssturm melden. Die anderen Männer hatten sich
in den Danziger Volkssturm einzureihen...
Nach einem russischen Panzervorstoß Ende Januar 1945 von Süden
bis nach Elbing war Ostpreußen fast vollständig vom übrigen
Deutschen Reich abgeschnitten. Die Flüchtlinge strömten
nun über das zugefrorene Frische Haff und über die Frische
Nehrung nach Danzig. Später, im März 1945, war von dort
ein Fortkommen nur noch per Schiff möglich.
Am 25. März gelang es mir, auf einem Schlepper über Bornholm
und von dort auf einem U-Boot nach Rostock-Warnemünde zu flüchten.
... Nach
und nach wurden alle verfügbaren Kreisbauernführer, Wirtschaftsberater,
Stabsleiter, Direktoren und Lehrer der Landwirtschaftsschulen zur
Organisierung der Rücktransporte eingesetzt. Sie unterzogen sich
dieser Aufgabe ungeachtet der Tieffliegerangriffe und des Artilleriebeschusses.
Auch Treckführer, die mit ihren Wagen tatenlos um Danzig lagerten,
stellten uns Transportraum zur Verfügung. Als Gegenleistung erhielten
sie Extrarationen an Nahrungs- und Futtermitteln. So sehr wir uns
auch bemühten, verendeten dennoch zahllose Pferde. Die Kadaver
mußten am Feldrand entsorgt werden. Ein besonders trauriges
Bild boten die Äcker an der Straße kurz vor Oliva*), wo
sich die Leichen dieser treuen Helfer des Menschen zum Pferdefriedhof
türmten.
In Pillau**) warteten, von den inzwischen bis Königsberg vorgedrungenen
Russen hart bedrängt, Hunderttausende auf einen Schiffsplatz.
Die Ernährung dieser Menschenmassen wurde von Tag zu Tag problematischer.
Die Stadt Danzig mußte mehrmals binnen kürzester Frist
Brot liefern. Einmal innerhalb von 24 Stunden 100 000 Brote.
Wie die Katastrophe der Wilhelm Gustloff gezeigt hatte,
barg der Transport von Flüchtlingen mit derart großen Schiffen
ein besonders hohes Risiko. Unter den Opfern befand sich leider auch
die Familie unseres Landeshauptabteilungsleiters Riemann. Durch eine
Verquickung unglücklicher Umstände hatte sie das für
sie bestimmte Schiff verpaßt und war froh gewesen, in letzter
Minute noch Plätze auf der Wilhelm Gustloff bekommen
zu haben.
Die Russen drangen aus Südosten über Dirschau Hohenstein*)
und aus Südwesten bis nahe Zoppot Gdingen vor. Bald lagen
die Vororte, aber auch Danzig selbst unter fortwährendem Artilleriebeschuß.
Und von See her schossen unsere schweren Schiffsgeschütze ununterbrochen
über Danzig hinweg in das von den Russen besetzte Umland. Die
wenigen hundert Meter bis zur Reichsstatthalterei, wo ich täglich
zu tun hatte, waren nur unter Lebensgefahr zu überwinden ...
Bleiben
oder Danzig verlassen?
Der große Luftschutzbunker, der zu unserem Gebäudekomplex
gehörte, diente Hunderten von Zivilisten als Daueraufenthaltsort.
Bei jedem weiteren Bombenangriff strömten erneut Menschenmassen
nach und verstopften die Treppen. Wir stellten einen Mauerdurchbruch
ins benachbarte Raiffeisenhaus her, um einen Notausgang zu schaffen.
Außerdem befand sich dort unsere Lebensmittel-Notration: für
jeden eine Sardinen- und eine Fleischbüchse, eine Mettwurst,
zwei Brote, einige Kerzen und ein paar Zigaretten. Am 23. März
gegen 22 Uhr erlebten wir den bisher schwersten Bombenangriff auf
Danzig. Der Nordflügel unseres Gebäudes wurde zerstört,
das Raiffeisenhaus abermals getroffen. Im Luftschutzkeller konnten
wir nur mit äußerster Anstrengung eine Massenpanik verhindern.
Ansicht von Danzig in den dreißiger Jahren. Noch im Januar 1945
war die Stadt, abgesehen von den Folgen einiger weniger Bombenangriffe,
praktisch unzerstört.
In der
Nacht vom 24. zum 25. März gab es wieder schwere Artillerie-
und Luftangriffe. Nachdem Dr. Plum die Wache übernommen hatte,
konnte ich mich ein wenig ausstrecken und fiel auch gleich in einen
kurzen, tiefen Schlaf. Gegen 3 Uhr wurde ich geweckt. Über uns
vernahmen wir ein ununterbrochenes Rumpeln. Wir eilten hinauf und
sahen, daß in der Nacht die Militärpolizei unsere Räume
verlassen hatte. Auf Fahrdamm und Bürgersteigen wälzte sich
in ganzer Breite eine Kolonne flüchtender Soldaten und Zivilisten
in östliche Richtung. Die Räumung Danzigs war in vollem
Gange. Wir Fünf hielten Kriegsrat. Sollten wir bleiben oder unseren
Posten ebenfalls verlassen?
Wir kamen zu dem Schluß, daß ein Verbleiben in den Trümmern
Danzigs zwecklos sei, daß wir versuchen sollten, aus der Stadt
herauszukommen, ehe der Morgen graut und Tiefflieger uns aufhalten.
Mit dem Auto aus der Toreinfahrt auf die Straße zu gelangen
versuchten wir erst gar nicht, es wäre zwecklos gewesen. Mit
wenig Gepäck und zwei Decken für jeden warfen wir uns in
den Strom von Menschen und Fahrzeugen ...
Backbord
Land in Sicht!
Hinter, neben und vor uns rauchten die Schlote der anderen vier Schlepper.
Wie dunkle Schatten huschten sie über die glatte See. Alle Lichter
waren gelöscht. Nur die Sterne begleiteten uns. Ein so ruhiger,
lauer Abend an diesem 25. März 1945. Nach und nach fand jeder
eine Stelle, wo er sich hinkauern konnte. Die meisten hatten seit
Tagen nicht mehr geschlafen.
Es mag um Mitternacht gewesen sein, als ein scheußliches Prasseln
und Knallen uns aus dem Schlaf fahren ließ. Im selben Augenblick
war Fliegerbrummen zu hören.
Er wendet! rief jemand.
Schon kam mit dem anschwellenden Motorgeräusch das Tack-Tack-Tack
wieder, und es blitzte und krachte wie in der Hölle. Dann verlor
sich das Flugzeuggeräusch in der Ferne.
Das war ein Russe, sagte einer, der es wissen mußte,
denn ein Tommy oder ein Ami hätte so lange seine Schleifen
gezogen, bis keine Maus mehr über dem Wasser zu sehen gewesen
wäre. Blitzartig wurde uns unsere Situation bewußt. Wenn
man uns schon im Dunkeln entdeckte, was würde dann erst bei Tag
sein?
Der Kapitän ließ Schwimmwesten verteilen. Unser Schlepper
hatte zum Glück keine Schäden davongetragen, aber die Gepäckstücke,
die auf Deck lagen, waren ausnahmslos von Splittern und Kugeln durchlöchert.
Wäre das zahlreiche Gepäck nicht über der Kajüte
verteilt gewesen, als doppelte Schicht über dem Kohlenvorrat,
dann wäre dieser Angriff wohl nicht ohne menschliche Verluste
abgegangen. Unaufgefordert gingen wir daran, das Gepäck noch
zweckmäßiger zu verteilen. Über der spiegelglatten
und vollkommen ruhigen See lag ein wundervoller Morgen. Lautlos zogen
unsere Schiffe dahin, während im Osten blutrot die Sonne aufging.
Die friedvolle Stille durchströmte uns und gab uns neuen Mut.
Aber wir wußten auch, daß schon der geringste Wellenschlag
der überladenen Narva zum Verhängnis werden
konnte, lag doch der Wasserspiegel nur 20 Zentimeter unter dem offenen
Bullauge der Heizerkajüte. Wir beschlossen, Wachen aufzustellen.
Jeweils drei Mann sollten vom Sonnendach aus den Horizont nach allen
Seiten hin nach Flugzeugen absuchen. Das war gar nicht so einfach,
denn Seevögel und Luftspiegelungen führten die Blicke oft
in die Irre. Zum Glück fanden sich noch einige Ferngläser.
Große Sorge bereitete uns der kleinste Dampfer, dem es sichtlich
nur mit großer Anstrengung gelang, mit den anderen Schritt zu
halten. Seine ununterbrochen starke Rauchfahne hätte uns leicht
verraten können. Mehrfach sichtete unsere Wache am Horizont Tiefflieger,
aber sie blieben glücklicherweise in größerer Entfernung.
Gegen Mittag erschienen wieder zwei Flugzeuge dicht über der
Wasseroberfläche, mit bloßem Auge erkennbar. Die Russen
hatten offenbar einen Streifendienst eingerichtet, der uns nicht zur
Ruhe kommen lassen sollte.
Am Nachmittag folgte eine neue Überraschung: Die Wache meldete
ein U-Boot. Es folgten äußerst bange Minuten, weil sich
auf die große Entfernung nicht erkennen ließ, ob es sich
um ein deutsches oder ein russisches Boot handelte. Schließlich
wurde es von sachkundigen Werftmitarbeitern anhand von äußeren
Merkmalen als deutsches U-Boot ausgemacht. Das Boot hielt auf uns
zu. Als es auf unserer Höhe war, löste sich der Dampfer,
auf dem Werftpräsident Woermann fuhr, aus unserem Verband und
steuerte auf das U-Boot zu. Die Lage wurde verglichen. Wir befanden
uns auf der Höhe von Kolberg*). Nur langsam löste sich bei
uns die Anspannung. Abends suchten wir trotzdem mit mehr innerer Ruhe
als am Abend zuvor unsere Schlafstellen auf. Die Enge in der Kajüte
störte uns nicht mehr. Gegen Mitternacht erschütterte plötzlich
ein furchtbares Getöse das Schiff. Das elektrische Licht ging
aus. Über uns krachte und zischte es. Um uns herum ein Blitzen,
Bersten und Splittern, als wäre der Weltuntergang angebrochen.
Die Frauen und Kinder kreischten, und uns Männern kroch ein Schauer
über den Rücken. Unwillkürlich versuchte jeder, seinen
Kopf zu schützen.
Kein Licht! Alles untenbleiben! Schwimmwesten an! kam
das scharfe Kommando des Kapitäns. Er mußte verhindern,
daß Panik ausbrach. Ruhe! Es wird alles gut! Der Angriff
ist schon vorüber.
Doch bald krachte es erneut. Wieder Blitzen und Bersten, Splitter
flogen im Raum herum, Querschläger heulten, Metall klirrte. Eine
gewaltige Detonation neben unserem Dampfer warf ihn hoch, als sollte
er aus dem Wasser gehoben werden. Das Schiff neigte sich zur Seite,
so daß alles durcheinanderfiel. Das ist das Ende, dachte ich.
Und wieder die scharfen, aber ermutigenden Worte des Kapitäns:
Ruhe! Keiner geht nach oben, es ist gleich vorbei!
Ich bewunderte den Mann. Tapfer verstummten die verängstigten
Frauen und Kinder. Das Trostloseste war das Hilferufen der Kinder.
Dann die dritte Salve. Sie prasselte über die Kajütendecke,
krachte quer durch den Raum, bohrte sich durch die Schiffswand. Wieder
hob eine Wasserbombe den Schiffskörper empor und schleuderte
ihn zur Seite, daß er in seinen Fugen auseinanderzubrechen drohte.
Noch einmal das Bewußtsein: Jetzt sinken wir!
Schließlich die erlösende Meldung, der Flieger drehe ab.
Im nächsten Moment stürzte der Kapitän die Treppe herunter
und befahl: Bodenbretter raus! und riß bereits das
erste Brett hoch. Und da sahen wir auch schon die Bescherung: Wir
hatten Wasser im Schiff!
Das salzige, ölige Naß stieg zusehends an. In rasender
Eile wurden Eimer und Kübel geholt, wurde eine Kette gebildet,
an der die vollen Eimer nach oben und die leeren nach unten flogen.
Keiner schonte sich, jeder holte das Letzte aus sich heraus. Der Kampf
mit dem nassen Element dünkte eine Ewigkeit, obwohl erst zwei
Stunden vergangen sein mochten. Schließlich war das Leck gefunden
und gestopft. Aufatmen. Das ölige Wasser hatte uns Gesicht und
Hände verschmiert und unsere Kleidung völlig durchnäßt.
An Reinigung war auch nach dem notdürftigen Flicken der Stromleitung
nicht zu denken, denn bald schon kam die nächste Schreckensbotschaft:
Unser Kompaß war getroffen worden und die anderen Schiffe waren
außer Sicht!
Fröstelnd hing jeder seinen Gedanken nach ...
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Königsberg,
Ostpreußen; JanuarAnfang April 1945
Letzte
Tage in Königsberg (Auszug)
Siegfried Allzeit
Der
letzte Zug aus der Festung Königsberg
Am letzten Sonntag des Januars wurden alle Familien mit Kindern aufgefordert,
um 18 Uhr zum Hauptbahnhof zu kommen. Es würde noch einmal ein
Transport zusammengestellt, der die Mütter mit Kindern aus dem
Kessel herausbringen sollte. Wir packten einige Sachen und machten
uns auf den Weg zum Bahnhof. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken.
Meine Mutter trug die kleine Schwester auf dem Arm, mein Bruder, 12
Jahre alt, schleppte eine Tasche und ich zwei Koffer. Es war kalt.
Während des ganzen Weges zum Bahnhof hörten wir Maschinengewehr-
und Geschützfeuer, auch einige Stalinorgeln.
Auf dem Hauptbahnhof herrschte Chaos. Niemand wußte, auf welchem
Bahnsteig oder wann überhaupt noch ein Zug abfahren sollte. Das
Bahnhofsgelände lag im Dunkeln. In der großen Bahnhofshalle
saßen und lagen Menschen auf ihrem bißchen Habe, die sie
bis hierher gebracht hatten. Man mußte aufpassen, daß
man nicht auf jemanden trat, denn im Schein einer Taschenlampe oder
einer Kerze war nicht viel zu sehen. Nicht nur Flüchtlinge und
Königsberger warteten auf einen Zug, sondern auch viele Militärangehörige.
Einige schimpften auf den Krieg, auf Hitler und die Bonzen so laut,
daß es alle hören konnten. Zwischendurch suchten die Kettenhunde
von der SS nach desertierten Soldaten.
Unterdessen war es 20 Uhr, aber nichts passierte. Immer mehr Menschen
strömten zum Hauptbahnhof. Endlich lief ein Zug ein, aber nicht
auf dem Bahnsteig, auf dem wir standen. Die Menschenmassen bewegten
sich jetzt auf diesen Bahnsteig zu, es war ein großes Geschubse
und Gedränge. Man mußte aufpassen, daß man nicht
noch stolperte. Als wir endlich auf dem Bahnsteig standen, war der
Zug bereits übervoll. Die Menschen waren eingepreßt in
den Abteilen, auch auf den Trittbrettern standen sie. Doch der Zug
fuhr nicht ab. Alles lag in einem gespenstischen Halbdunkel. Eisenbahner
liefen hin und her; auf Fragen nach der Abfahrt des Zuges oder ob
weitere Züge fahren würden, konnten sie keine Auskunft geben.
So standen wir eingepfercht in dieser Menschenmasse und warteten.
Wir hielten uns aneinander fest, damit wir nicht getrennt wurden.
Von draußen hörte man weiter das Schießen, manchmal
wurde auch die Bahnsteigüberdachung getroffen. Es klirrte kräftig,
zerbrochene Scheiben schienen herunterzufallen, aber das war im Dunkeln
nicht auszumachen, auch nicht, ob jemand verletzt wurde.
Wir blieben bis gegen 22 Uhr, doch es geschah nichts. Meine kleine
Schwester hatte durch das ganze Hin und Her ihren Handschuh verloren.
Ihre Finger waren kalt geworden, sie wurde quengelig, so gingen wir
wieder nach Hause. Wir stellten unser Gepäck ab und gingen schlafen,
denn wir waren müde und durchgefroren. Nur Mutter ist aufgeblieben
und hat angefangen, den Handschuh zu stricken. Zwei Tage später
haben wir durch Zeitung und Rundfunk erfahren, daß der letzte
Zug, der Königsberg verlassen hatte, von den Russen bei Metgethen
gestoppt worden war, und sie ein schreckliches Massaker unter den
Flüchtlingen angerichtet hatten.
Aus dem
Radio ertönten weiterhin Durchhalteparolen. Der Gauleiter von
Ostpreußen, Erich Koch, rief die Bevölkerung von Königsberg
auf, alles zu unternehmen, um den Endsieg doch noch zu erreichen.
Königsberg war jetzt vollkommen eingeschlossen und zur Festung
erklärt worden. Das hieß, der Festungskommandant konnte
Gesetze außer kraft setzen, Anordnungen herausgeben, um die
Verteidigungsfähigkeit der Stadt zu gewährleisten*). Fliegeralarm
wurde auch nicht mehr gegeben, die unmittelbare Frontnähe erübrigte
dies. Militär war überall präsent. Auf unserer Seite
der Hippelstraße war der Bürgersteig ziemlich breit. Auf
der ganzen Länge parkten Militärfahrzeuge, Mannschaftswagen,
Werkstatt- und Versorgungsfahrzeuge. Jeder Motor war mit einem Splitterschutz
aus Balken oder Eisenbahnschwellen versehen.
Das Leben in der Stadt ging weiter. Die Menschen verrichteten ihre
Arbeit, soweit dies noch möglich war. Die Frauen und größeren
Kinder waren damit beschäftigt, etwas zum Essen und zum Heizen
zu besorgen. Da sich alle im Luftschutzkeller aufhielten, wurden die
Wohnungen nur so viel beheizt, daß nichts einfror. Wir gingen
nur nach oben, um die Speisen zuzubereiten.
Anfang Februar übergab mir der Blockleiter die schriftliche Aufforderung,
mich auf der Ortsgruppengeschäftsstelle der NSDAP zu melden.
Außer mir stellten sich noch zwei Jungen vor. Ab sofort würden
wir dem Volkssturm angehören und der Befehlsgewalt des Ortsgruppenleiters
unterstehen. Wir erhielten Uniformstücke, die nicht zusammenpaßten.
Ich hatte Jacke und Hose von der Luftwaffe, den Mantel vom Heer und
das Käppi von der Polizei. Wir wurden als Kuriere eingesetzt,
denn über Telefon und Funk hörte der Gegner die Meldungen
ab. Die Befehlsstelle, die sich auf dem Gelände einer Molkerei
befand, war tief in die Erde eingegraben. Die Wachstube hingegen lag
zu ebener Erde, hier waren auch die Männer vom Volkssturm untergebracht,
die das Objekt schützen sollten. Der älteste war 70 Jahre
alt. Die Kuriere hatten 36 Stunden Dienst, jede zweite Nacht durften
wir nach Hause gehen. Jeden Morgen hieß es antreten zum Befehlsempfang
und zur Parolenausgabe, denn ohne Parole kam man nirgendwo hinein.
An einige Parolen kann ich mich noch erinnern: Gold Silber,
Dienstzeit Urlaub, Auto Zug. Am Tage mußten wir
einzeln, nachts durften wir zu zweit gehen. Die wichtigsten Anlaufstellen
waren die Bezirksleitung der NSDAP, die im Roßgarten im Haus
der Arbeit, und die Gauleitung, die im Rundfunkhaus untergebracht
waren, weitere die Polizei, die Redaktion der Königsberger
Zeitung und einige Konsulate ...
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Preußisch
Eylau Königsberg Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern
Koserow, Usedom Falkensee bei Berlin; 1946194
Dai
kusotschka chleba!
Helga Naujoks
Unsere
Mutter war kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee am 9. Februar 1945
in Preußisch Eylau von einer sowjetischen Militärstreife
verhaftet und wie wir erst später erfuhren nach
Sibirien deportiert worden. Im August 1945 war unser Vater aus Gram
darüber gestorben. Kurz darauf starben auch unsere Großeltern.
Nach ihrem Tod lebten wir drei Geschwister allein. Ob unsere große
Schwester Eleonore noch lebte, wußten wir nicht. Sie war mit
der Familie unseres Nachbarn Poerschke geflüchtet. Mit meinen
14 Jahren fühlte ich mich für meine beiden jüngeren
Geschwister Marga, zwölf, und Bernhard, zehn Jahre alt, verantwortlich.
Als die ersten russischen Familien nach Preußisch Eylau kamen,
nahmen sie von allem Besitz. Aus den Wohnungen, in denen wir Unterschlupf
gefunden hatten, wurden wir vertrieben. Für uns, die letzten
Deutschen hier, blieben nur noch die Ruinen. Es herrschte Hungersnot,
selbst die Russen hatten kaum etwas zu essen. Im Magazin erhielten
sie ihre Rationen, sorgfältig auf einer deutschen Waage ausgewogen.
Eine Schnitte wurde in vier Stückchen geteilt und oben auf die
Ration gelegt. Deutsche hatten dort keinen Zutritt. Wenn die Russen
herauskamen, streckten sich ihnen viele dünne Kinderarme entgegen:
Poschaluista, dai kusotschka chleba! Bitte,
gib mir ein Stück Brot!
Die einfachen Soldaten teilten fast immer.
Der Dezember 1946 war auch für ostpreußische Verhältnisse
ungewöhnlich kalt. Unsere größte Sorge war, neben
Eßbarem unbedingt etwas Brennbares auftreiben zu können.
In die Umgebung von Preußisch Eylau, in die Wälder mit
dichtem Unterholz, wagte sich niemand mehr. Es wäre zu gefährlich
gewesen, denn überall streiften sowjetische Soldaten umher, immer
auf der Suche nach Wertvollem oder nach Frauen, wobei
das Alter keine Rolle spielte, ein achtjähriges kleines Mädchen
war genauso gefährdet wie eine achtzigjährige Großmutter.
Längst waren alle Holzzäune abgerissen und verfeuert worden.
Die wenigen deutschen Einwohner, die nicht geflüchtet oder noch
nicht vor Hunger gestorben waren, begannen allmählich, die Treppengeländer
und Möbel zu verheizen.
Wenn wir auf unseren Streifzügen durch die Trümmer nach
einem Stück Holz oder nach Fischköpfen suchten, die die
sowjetischen Soldaten weggeworfen hatten, trafen wir nur noch wenige
Deutsche, meist in Lumpen gehüllte, fürchterlich abgemagerte
Gestalten. Bernhard, unser kleiner Bruder, sah schon genauso aus
in Vatis ehemaliger eleganter, mit braunen Husarenschnüren verzierter,
dunkelgrüner Hausjoppe, die er als langen Mantel trug, erregte
er Mitleid. Sein kleines Gesicht war blaß und unendlich müde.
Bernhard war zehn Jahre alt, wirkte aber durch seine Magerkeit viel
jünger und kleiner. Wenn er an ihren Haustüren bettelte,
gaben ihm die Russen fast immer ein paar Kartoffelschalen, ein winziges
Stückchen Brot oder etwas Suppe in sein Töpfchen, das er
immer bei sich trug.
Ich wartete mitunter den ganzen Tag, daß Bernhard zurückkäme
und mir von seinen Bettelgängen etwas zu essen mitbringen würde.
Ich hatte keine Chance, etwas zu bekommen, ich war ungewöhnlich
groß und mit meinen 14 Jahren schon zu alt, ich erregte bei
den Russen, die, bis auf wenige Ausnahmen, alles was deutsch war,
haßten, kein Mitleid. Ich konnte überall anklopfen, wenn
die Leute mich sahen, schlugen sie wortlos die Türe wieder zu.
Ich war auch viel zu sauber. Seit dem Tag, an dem mich ein sowjetischer
Offizier mit vorgehaltener Pistole auf den viele Male durchwühlten,
von unzähligen zerrissenen, schmutzigen Kleidungsstücken
übersäten Boden geworfen und vergewaltigt hatte, wurde ich
das Gefühl nicht mehr los, mich ständig waschen zu müssen.
Im Sommer reinigten wir uns mit Regenwasser, im Winter mit Schnee,
davon hatten wir hier ja genug. Bernhard, Marga und ich waren die
saubersten deutschen Kinder in der Stadt, und das ganz ohne Waschpulver
und Seife. Unser kleines Zimmerchen und die winzige Küche unter
dem schrägen Dach waren stets aufgeräumt. Wir überlebten
wahrscheinlich auch deshalb, weil wir uns nie aufgaben und nicht,
wie viele Ältere, nur der Vergangenheit nachtrauerten. Unsere
allergrößte Hoffnung war: Eines Tages würden wir unsere
Mama wiederfinden!
Immer, wenn wir uns gerade ein neues Zuhause zusammengetragen hatten
und uns ein wenig heimisch fühlten, erschienen russische Soldaten
mit roten Armbinden und befahlen laut: Alles rrrauskommen! Alle
Sachen stehenlassen!
Alle Deutschen wurden dann unter Bewachung in einen anderen Stadtteil
geführt. Die uns zugewiesenen Wohnungen waren jedesmal in einem
schrecklichen Zustand, nur nach mehrmaligem, gründlichem Saubermachen
konnten sie benutzt werden. Da wir alles zurücklassen mußten,
war das, was wir am Körper trugen, unser einziger Besitz.
Die längste Zeit lebten die Deutschen in den kleinen Häuschen
der Erich-Koch-Siedlung, benannt nach dem Gauleiter von Ostpreußen.
Es waren hübsche, weiße Häuser mit eingezäunten
kleinen Gärten. Die Zäune waren aus Draht oder Eisengitter,
sie ließen sie sich leider nicht verheizen, dadurch sah es in
diesem Viertel noch recht ordentlich aus.
Wenn Bernhard, winzigklein, in seiner viel zu großen Joppe und
mit einer Mütze mit viel zu großem Schirm auf dem kleinen
Kopf am Anfang der langen Straße auftauchte, durchströmte
mich ein Glücksgefühl. Seine Beine, so dünn wie Stöckchen,
steckten in unförmigen Gebilden, die ich als Ersatz für
Schuhe angefertigt hatte. Bei unseren etwas längeren Streifzügen
in die Umgebung hatte ich in einer Scheune übergroße Knäuel
dickes, festes Band gefunden. Die ostpreußischen Bauern hatten
es zum Binden der Garben benutzt. Wir hatten davon Unmengen in unsere
Behausung geschleppt, in diesen Zeiten ließ man nichts liegen.
Im Sommer liefen wir zwar barfuß, aber als es kalt wurde, häkelte
ich aus dem Band Schuhe, immer rundherum, in der Mitte ließ
ich ein Loch zum Hineinschlüpfen.
Voller Hoffnung starrte ich auf den vielleicht mit Brotresten oder
Kartoffelschalen gefüllten Stoffbeutel, den er immer quer umgehängt
hatte, oder auf das Töpfchen, das er vorsichtig vor sich hertrug,
weil ein bißchen Suppe oder Kascha darin war. Als Dank las ich
ihm dann bis zum Dunkelwerden die schönsten Märchen vor.
Bücher, wunderschöne Bücher, hatten wir uns von überall
her aus den leerstehenden Häusern zusammengetragen. Das einzige,
was die Russen liegenließen, waren Bücher. Nur, wenn irgendwo
ein Hakenkreuz oder ein Hitlerbild zu sehen war, hatte bestimmt ein
Soldat einen Haufen draufgemacht.
Wir standen auf, wenn es draußen hell wurde und gingen schlafen,
wenn die Dunkelheit anbrach. Es war zwei Tage vor Heiligabend 1946.
Der strenge Frost hatte die schönsten Eisblumen an die wie ein
Wunder heilgebliebenen Fensterscheiben gemalt. Die aufgehende Sonne
ließ die Eispracht derart glitzern, daß unsere zwei winzigen
Räume ein märchenhaftes Aussehen bekamen. Mit größter
Willenskraft wühlte ich mich aus den dicken Federbetten, unserem
wertvollsten Besitz, um die tägliche Kartoffelsuppe
zu kochen. Sie bestand aus etwa zwei Litern Wasser, zwei roh geriebenen
Kartoffeln und einigen Krümelchen Salz. Das Salz war eine große
Kostbarkeit, die Russen verkauften es auf dem Basar für zwei
Rubel je Tasse. Es war sehr grob und schmutziggrau, aber es würzte.
An diesem Morgen hatte der klirrende Frost das Wasser in dem auf dem
kalten Herd stehenden Topf gefrieren lassen. Darin eingefroren war
eine winzige Maus, nur der Schwanz wirkte unnatürlich lang und
sah aus wie ein dünner, schwarzer Strich auf dem Eis. Ich weckte
Marga und Bernhard. Wir standen da und starrten auf die tote kleine
Maus. Sie tat uns furchtbar leid. Ich brachte den Topf hinaus in den
Garten, stellte ihn unter eine Hecke und schippte Schnee darüber.
Nie mehr hätte ich ihn benutzen können. Aber wir hatten
uns ja genügend Gefäße aus leerstehenden Wohnungen
besorgt. Der Schnee um unser Haus herum war so zartweiß,
ein Topf davon ergab unsere Wassersuppe.
Nach dem Frühstück begann das Organisieren.
Marga schaffte das am besten. Sie war mutig genug, dazu mit ihren
12 Jahren noch klein und dünn, um in die winzigen Kellerlöcher
mit tonnenschwerem Schutt darüber zu klettern. Was für Herrlichkeiten
beförderte sie manchmal an das Tageslicht: Fleisch, Wurst, Sülze,
Erdbeeren, Kirschen, alles eingeweckt, und jede Menge Marmelade.
Unser Nachbar von gegenüber ging fast jeden Morgen irgendwohin,
um Glut zu holen, denn Streichhölzer gab es nicht. Diesen Zeitpunkt
paßten wir genau ab. Das vereiste Fenster leicht geöffnet,
beobachtete ich, wenn Herr Zahlmann das Haus verließ. Marga
wartete indessen schon unten an der Haustür auf mein Zeichen:
Jetzt!
Daraufhin sprintete sie über die Straße und rein in Zahlmanns
Wohnung. Die Tür ließ er merkwürdigerweise immer offen,
obwohl er manchmal ziemlich lange wegblieb, wenn in den näherliegenden
Häusern die Glut auch ausgegangen war. Aber meist hatte irgendein
Nachbar das Feuer doch über Nacht gerettet.
In Zahlmanns Wohnung lagerten unglaubliche Schätze, denn er war
ganz groß im Organisieren. In Regalen standen fein
säuberlich Einweckgläser aus den Kellern der durch Bombenangriffe
eingestürzten Häuser. Da gab es eingewecktes Pferdefleisch,
Pferdeklopse, da standen Schüsseln mit Korn und Mehl und andere
Herrlichkeiten.
Irgendwie ernährten wir uns. Ein Faß Flugzeugmotorenöl,
sorgsam beiseite geschafft und versteckt, war unsere Rettung. Schuhcreme,
Hundekuchen alles ließ sich essen. Manchmal konnte man
auf den völlig verunkrauteten Feldern noch Brennesseln oder Melde
finden. Längst waren auch die Keller der zerbombten Häuser
leergeräumt.
Mit Wehmut dachten wir an früher. Wenn wir, in alte Steppdecken
eingehüllt, rumlagen und in Kochbüchern blätterten,
spielten wir das Spiel: Das ist meins!
Dabei zeigten wir mit dem Finger auf eine Stelle im Buch, wo eine
köstliche Torte oder ein Teller mit Wurst und Käse abgebildet
waren. Wir unterhielten uns nur noch über Essen...
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Tolkemit
bei Elbing, Ermland-Masuren, Westpreußen Danzig
Rostock Stäbelow, Kreis Rostock; Januar/Februar 1945
Glück
im Unglück kein Platz auf der Gustloff
(Auszug)
Eva-Maria Otto
... Nun
wurde auch mein Vater noch zum Volkssturm eingezogen. Zuvor war ihm
die Einberufung wegen seiner Tätigkeit in der landwirtschaftlichen
Produktion er war auf einem Gut als Inspektor tätig
erspart geblieben. Zudem hatte er bereits als ganz junger Mann im
Ersten Weltkrieg gedient.
Im Januar 1945 war es dann so weit. Die Russen rückten näher,
Ostpreußen hatten sie bereits eingenommen. Eine höllische
Angst ging um. Man sprach von einer riesigen Fluchtbewegung. Vermutlich
hatte unsere Mutter bis zu diesem Zeitpunkt an den Endsieg geglaubt
und sich auf die Tapferkeit der deutschen Soldaten verlassen, oder
wie so viele auf die Wunderwaffe gehofft.
Am 21. Januar 1945 verließen wir Tolkemit. Mutti hatte in aller
Eile das Nötigste zusammengepackt, was sicher gut überlegt
sein mußte. Was brauchten wir vier Mutti, meine zwei
kleinen Brüder und ich zum Überleben? Bei den sehr
niedrigen Wintertemperaturen mußte sie sich für warme Kleidung
entscheiden, die viel Platz benötigte. Einige Lebensmittel wird
sie auch mitgenommen haben. Der fast zweijährige Dieter saß,
in eine Steppdecke gehüllt, auf dem Schlitten. Mutti trug einen
kleinen Koffer, ich einen Rucksack. Der Schlitten mußte gezogen,
der Kinderwagen mit Baby Eckehard geschoben werden. Wieviel Mut und
wohl auch Angst vor der Rache der Sieger gehörten dazu, um sich
auf eine so abenteuerliche Flucht zu begeben!
Der Abend war mondhell und die Luft klirrend kalt, als sich Mutti
mit uns drei Kindern und einer beginnenden Schwangerschaft auf den
Weg machte. Das Ziel war Kahlberg, ein kleiner Ort auf der Frischen
Nehrung, wo größere Schiffe anlegen konnten. Um dorthin
zu gelangen, mußten wir das zugefrorene Frische Haff überqueren.
Es waren etwa zwanzig Kilometer zurückzulegen, und das bei minus
20 Grad!
Viele Menschen sind an diesem Tag und Abend losgezogen. Es war eine
endlos lange Schlange, die sich über das mit Schnee verwehte
Eis bewegte. Das Haff war streckenweise in Wellen vereist. Das machte
ein Fortkommen mit Schlitten und Kinderwagen nicht leicht. Glücklicherweise
gab es einige versprengte Soldaten, die den Flüchtlingen halfen.
Als etwa die Hälfte des Weges geschafft war, gab es für
viele ein Schockerlebnis: Ein Eisbrecher war quer durch das Haff gefahren
und hatte in seiner ganzen Breite eine Rinne hinterlassen! ...
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