Leseprobe

Nichts führt zurück
Flucht, Vertreibung, Integration 1944-1955

29 Zeitzeugen-Erinnerungen
Stark erweiterte Neuauflage 2007
Zeitgut Auswahl
320 Seiten mit vielen Abbildungen
Karte im Vor- und Nachsatz, gebunden
ISBN: 978-3-86614-133-9
Euro 9,95

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Leseproben aus dem Buch
Gisela Schoon, "Alles raus, so schnell es geht!"
Artur Wieland, Auf verlorenem Posten in Danzig
Siegfried Allzeit, Letzte Tage in Königsberg
Helga Naujoks,"Dai kusotschka chleba!"
Eva-Maria Otto, Glück im Unglück - kein Platz auf der "Gustloff"


Ruhheim, Kreis Mogilno, Warthegau – Stettin – Konikow bei Köslin, Hinterpommern; Januar 1945

"Alles raus, so schnell es geht!" (Auszug)
Gisela Schoon

...Die Kinder stürmten in die Schule und riefen aufgeregt: „Fräulein Wendt, wir müssen alle raus, so schnell es geht! Unsere Eltern sagen, wir müssen auf Planwagen und Schlitten und können nur das Notwendigste mitnehmen!“

Ich schickte die Kinder nach Hause und war mir nicht sicher, ob ich das durfte. Als ich mich draußen umschaute, bot sich mir ein chaotisches Bild: Um den sonst so friedlichen Dorfweiher fuhren unter Schreien und Peitschenknallen Fuhrwerke auf, Männer und Frauen warfen Truhen und Hausgeräte auf die Wagen. Graue Plane wurden über die Wagen gezogen und befestigt. Kleine Kinder schrien jämmerlich. Ich eilte zu meiner Bauernfamilie, bei der ich täglich zu Mittag aß. Die Mutter schwenkte ein Gewehr über den Köpfen der sich an sie drängenden Kinder und schrie mit sich überschlagender Stimme: „Ich schieße alle tot! Erst die Kinder und dann mich! Es ist zu spät! Die Russen schonen uns nicht und die Polen auch nicht!“



Vor unserer Lehrerinnenbildungsanstalt in Exin bei Bromberg*), Warthegau. In der vorletzten Reihe, direkt vor dem ganz oben stehenden Mädchen, stehe ich. Die vier gemeinsamen Ausbildungsjahre fern von zu Hause schmiedeten uns fester zusammen als Klassen anderer Schularten. Obwohl wir durch die Flucht oder spätere Ausweisung sehr verschiedene Lebenswege hatten und in alle Teile Deutschlands verschlagen wurden, treffen wir uns noch heute regelmäßig.

Als sie mich wahrnahm, rief sie mir zu: „Machen Sie schnell! Packen Sie einen Koffer, mehr nicht. Sie können bei den Kindern auf dem Schlitten sitzen.“

Ich rannte zum Schulhaus. An der Straße sah ich einige schwarzmeerdeutsche Frauen hocken. Ihre langen Röcke bauschten sich über verschnürten Kartons. Dicke Jacken hielten sie bei der eisigen Kälte von über 20 Grad minus vorn zu. Wie immer hatten sie bunte Tücher um die Köpfe geschlungen. Ängstlich und besorgt musterten sie mich.
Die Frau, die ich zur Reinigung der Schule eingestellt hatte, rief: „Fräulein, wissen Sie, wann wir abgeholt werden? Ein Lastwagen soll uns mitnehmen – wenn der nicht kommt, sind wir verloren.“

Ich lief die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Ein Koffer war schnell gefüllt. Vor dem Schreibtisch blieb ich stehen. Die Schulkasse: 124 Mark ... Sollte, durfte ich das Geld an mich nehmen?

Ich steckte es ein zusammen mit dem Einberufungsschein zu einem Fortbildungsseminar, der mich als Schulpraktikantin einer Lehrerinnenbildungsanstalt im fünften Ausbildungsjahr identifizierte. Das erwies sich später als glücklicher Zufall...

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Danzig– Rønne, Dänemark – Darsekau, Kreis Salzwedel, Altmark, Sachsen-Anhalt; 15. August 1944 –31. März 1945

Auf verlorenem Posten in Danzig (Auszüge)
Artur Wieland

In meiner Dienststelle, der Landesbauernschaft Danzig-Westpreußen am Krebsmarkt in Danzig, waren die Reihen der Kollegen durch kriegsbedingte Einsätze schon stark gelichtet. Neben der Einberufung Jüngerer an die Front waren viele bereits im August 1944 zum Schanzeinsatz rund um Danzig abberufen worden, wo sie in Lagern fernab der Familie campierten. Sämtliche übrigen Männer, darunter auch ich, hatten jeden Sonntag von 7 bis 15 Uhr zum Schippen anzutreten. Beruflich mußte ich zu meiner Abteilung II B I, Fachschulen und Wirtschaftsberatung, noch die Abteilung II A I, Berufsausbildung, hinzunehmen. Außerdem oblag mir ein Teil der Stabsleitergeschäfte...

... Mit der Ankunft großer Flüchtlingsströme aus Ostpreußen in Danzig ergab sich für unsere Dienststelle die zwingende Notwendigkeit, ein Flüchtlingsmeldewesen einzurichten. Außerdem mußten die Trecks versorgt und wenn nötig neu zusammengestellt werden. Kurzentschlossen verwandelten wir die Baracke der Milchuntersuchungsstation in ein Flüchtlingsquartier und richteten eine Küche ein. Bald darauf dienten auch alle anderen verfügbaren Räume im Untergeschoß des Hauptgebäudes diesem Zweck. In den Danziger Vororten wurden, zunächst auf freiwilliger Basis, Räumlichkeiten für die Flüchtlinge bereitgestellt. In unsere Wohnung in Oliva, Steinstraße 8, nahm ich die Familie des Kreisbauernführers Knutti aus Pilkallen*) auf, so daß ich die Räume, wenn ich kurz nach Hause kam, nicht so öde vorfand. Danach brachte ich dort eine Frau mit ihren Kindern unter, bis die Wohnung von einem bunten Durcheinander dichtgedrängter Flüchtlinge überlagert war, die alles ruinierten, und ich sie freigab, um in die Landesbauernschaft überzusiedeln. Am 5. März wurde auch unser Wochenendhaus in Zoppot**), Taubenwasserweg 76, das uns zwei Jahre als Notwohnung dienen mußte, mit Flüchtlingen belegt.

In mein Ressort fielen unter anderem das Ausstellen von Bescheinigungen für Flüchtlinge sowie Verhandlungen mit Wehrmacht, Volkssturm, SA und sonstigen Dienststellen. Eine der größten Schwierigkeiten war die Erfassung der mit den Trecks ankommenden Männer für den Volkssturm. Die hierfür eingesetzten SA-Leute gingen mit brutaler Sturheit vor. Welche seelische Marter für die Betroffenen, wenn nach ihrer qualvollen Flucht vor den Russen Mann für Mann von den Treckwagen heruntergeholt und zum Volkssturm eingezogen wurde! Hier hatte ich nach Weisung des Landesbauernführers einzugreifen. Das war aber leichter gesagt als getan. Schließlich konnten wir uns mit der SA-Führung darauf einigen, daß bei jedem Treck ein Mann, möglichst der älteste, blieb. Er sollte die drei, vier oder auch mehr Wagen zum neuen Standort in Pommern begleiten und sich nach der Unterbringung seiner Schutzbefohlenen beim dortigen Volkssturm melden. Die anderen Männer hatten sich in den Danziger Volkssturm einzureihen...



Nach einem russischen Panzervorstoß Ende Januar 1945 von Süden bis nach Elbing war Ostpreußen fast vollständig vom übrigen Deutschen Reich abgeschnitten. Die Flüchtlinge strömten nun über das zugefrorene Frische Haff und über die Frische Nehrung nach Danzig. Später, im März 1945, war von dort ein Fortkommen nur noch per Schiff möglich.
Am 25. März gelang es mir, auf einem Schlepper über Bornholm und von dort auf einem U-Boot nach Rostock-Warnemünde zu flüchten.

... Nach und nach wurden alle verfügbaren Kreisbauernführer, Wirtschaftsberater, Stabsleiter, Direktoren und Lehrer der Landwirtschaftsschulen zur Organisierung der Rücktransporte eingesetzt. Sie unterzogen sich dieser Aufgabe ungeachtet der Tieffliegerangriffe und des Artilleriebeschusses. Auch Treckführer, die mit ihren Wagen tatenlos um Danzig lagerten, stellten uns Transportraum zur Verfügung. Als Gegenleistung erhielten sie Extrarationen an Nahrungs- und Futtermitteln. So sehr wir uns auch bemühten, verendeten dennoch zahllose Pferde. Die Kadaver mußten am Feldrand entsorgt werden. Ein besonders trauriges Bild boten die Äcker an der Straße kurz vor Oliva*), wo sich die Leichen dieser treuen Helfer des Menschen zum Pferdefriedhof türmten.

In Pillau**) warteten, von den inzwischen bis Königsberg vorgedrungenen Russen hart bedrängt, Hunderttausende auf einen Schiffsplatz. Die Ernährung dieser Menschenmassen wurde von Tag zu Tag problematischer. Die Stadt Danzig mußte mehrmals binnen kürzester Frist Brot liefern. Einmal innerhalb von 24 Stunden 100 000 Brote.

Wie die Katastrophe der „Wilhelm Gustloff“ gezeigt hatte, barg der Transport von Flüchtlingen mit derart großen Schiffen ein besonders hohes Risiko. Unter den Opfern befand sich leider auch die Familie unseres Landeshauptabteilungsleiters Riemann. Durch eine Verquickung unglücklicher Umstände hatte sie das für sie bestimmte Schiff verpaßt und war froh gewesen, in letzter Minute noch Plätze auf der „Wilhelm Gustloff“ bekommen zu haben.

Die Russen drangen aus Südosten über Dirschau – Hohenstein*) und aus Südwesten bis nahe Zoppot – Gdingen vor. Bald lagen die Vororte, aber auch Danzig selbst unter fortwährendem Artilleriebeschuß. Und von See her schossen unsere schweren Schiffsgeschütze ununterbrochen über Danzig hinweg in das von den Russen besetzte Umland. Die wenigen hundert Meter bis zur Reichsstatthalterei, wo ich täglich zu tun hatte, waren nur unter Lebensgefahr zu überwinden ...

Bleiben oder Danzig verlassen?

Der große Luftschutzbunker, der zu unserem Gebäudekomplex gehörte, diente Hunderten von Zivilisten als Daueraufenthaltsort. Bei jedem weiteren Bombenangriff strömten erneut Menschenmassen nach und verstopften die Treppen. Wir stellten einen Mauerdurchbruch ins benachbarte Raiffeisenhaus her, um einen Notausgang zu schaffen. Außerdem befand sich dort unsere Lebensmittel-Notration: für jeden eine Sardinen- und eine Fleischbüchse, eine Mettwurst, zwei Brote, einige Kerzen und ein paar Zigaretten. Am 23. März gegen 22 Uhr erlebten wir den bisher schwersten Bombenangriff auf Danzig. Der Nordflügel unseres Gebäudes wurde zerstört, das Raiffeisenhaus abermals getroffen. Im Luftschutzkeller konnten wir nur mit äußerster Anstrengung eine Massenpanik verhindern.



Ansicht von Danzig in den dreißiger Jahren. Noch im Januar 1945 war die Stadt, abgesehen von den Folgen einiger weniger Bombenangriffe, praktisch unzerstört.

In der Nacht vom 24. zum 25. März gab es wieder schwere Artillerie- und Luftangriffe. Nachdem Dr. Plum die Wache übernommen hatte, konnte ich mich ein wenig ausstrecken und fiel auch gleich in einen kurzen, tiefen Schlaf. Gegen 3 Uhr wurde ich geweckt. Über uns vernahmen wir ein ununterbrochenes Rumpeln. Wir eilten hinauf und sahen, daß in der Nacht die Militärpolizei unsere Räume verlassen hatte. Auf Fahrdamm und Bürgersteigen wälzte sich in ganzer Breite eine Kolonne flüchtender Soldaten und Zivilisten in östliche Richtung. Die Räumung Danzigs war in vollem Gange. Wir Fünf hielten Kriegsrat. Sollten wir bleiben oder unseren Posten ebenfalls verlassen?

Wir kamen zu dem Schluß, daß ein Verbleiben in den Trümmern Danzigs zwecklos sei, daß wir versuchen sollten, aus der Stadt herauszukommen, ehe der Morgen graut und Tiefflieger uns aufhalten. Mit dem Auto aus der Toreinfahrt auf die Straße zu gelangen versuchten wir erst gar nicht, es wäre zwecklos gewesen. Mit wenig Gepäck und zwei Decken für jeden warfen wir uns in den Strom von Menschen und Fahrzeugen ...

Backbord Land in Sicht!

Hinter, neben und vor uns rauchten die Schlote der anderen vier Schlepper. Wie dunkle Schatten huschten sie über die glatte See. Alle Lichter waren gelöscht. Nur die Sterne begleiteten uns. Ein so ruhiger, lauer Abend an diesem 25. März 1945. Nach und nach fand jeder eine Stelle, wo er sich hinkauern konnte. Die meisten hatten seit Tagen nicht mehr geschlafen.

Es mag um Mitternacht gewesen sein, als ein scheußliches Prasseln und Knallen uns aus dem Schlaf fahren ließ. Im selben Augenblick war Fliegerbrummen zu hören.
„Er wendet!“ rief jemand.
Schon kam mit dem anschwellenden Motorgeräusch das Tack-Tack-Tack wieder, und es blitzte und krachte wie in der Hölle. Dann verlor sich das Flugzeuggeräusch in der Ferne.
„Das war ein Russe“, sagte einer, der es wissen mußte, „denn ein Tommy oder ein Ami hätte so lange seine Schleifen gezogen, bis keine Maus mehr über dem Wasser zu sehen gewesen wäre. Blitzartig wurde uns unsere Situation bewußt. Wenn man uns schon im Dunkeln entdeckte, was würde dann erst bei Tag sein?

Der Kapitän ließ Schwimmwesten verteilen. Unser Schlepper hatte zum Glück keine Schäden davongetragen, aber die Gepäckstücke, die auf Deck lagen, waren ausnahmslos von Splittern und Kugeln durchlöchert. Wäre das zahlreiche Gepäck nicht über der Kajüte verteilt gewesen, als doppelte Schicht über dem Kohlenvorrat, dann wäre dieser Angriff wohl nicht ohne menschliche Verluste abgegangen. Unaufgefordert gingen wir daran, das Gepäck noch zweckmäßiger zu verteilen. Über der spiegelglatten und vollkommen ruhigen See lag ein wundervoller Morgen. Lautlos zogen unsere Schiffe dahin, während im Osten blutrot die Sonne aufging. Die friedvolle Stille durchströmte uns und gab uns neuen Mut. Aber wir wußten auch, daß schon der geringste Wellenschlag der überladenen „Narva“ zum Verhängnis werden konnte, lag doch der Wasserspiegel nur 20 Zentimeter unter dem offenen Bullauge der Heizerkajüte. Wir beschlossen, Wachen aufzustellen. Jeweils drei Mann sollten vom Sonnendach aus den Horizont nach allen Seiten hin nach Flugzeugen absuchen. Das war gar nicht so einfach, denn Seevögel und Luftspiegelungen führten die Blicke oft in die Irre. Zum Glück fanden sich noch einige Ferngläser.

Große Sorge bereitete uns der kleinste Dampfer, dem es sichtlich nur mit großer Anstrengung gelang, mit den anderen Schritt zu halten. Seine ununterbrochen starke Rauchfahne hätte uns leicht verraten können. Mehrfach sichtete unsere Wache am Horizont Tiefflieger, aber sie blieben glücklicherweise in größerer Entfernung. Gegen Mittag erschienen wieder zwei Flugzeuge dicht über der Wasseroberfläche, mit bloßem Auge erkennbar. Die Russen hatten offenbar einen Streifendienst eingerichtet, der uns nicht zur Ruhe kommen lassen sollte.

Am Nachmittag folgte eine neue Überraschung: Die Wache meldete ein U-Boot. Es folgten äußerst bange Minuten, weil sich auf die große Entfernung nicht erkennen ließ, ob es sich um ein deutsches oder ein russisches Boot handelte. Schließlich wurde es von sachkundigen Werftmitarbeitern anhand von äußeren Merkmalen als deutsches U-Boot ausgemacht. Das Boot hielt auf uns zu. Als es auf unserer Höhe war, löste sich der Dampfer, auf dem Werftpräsident Woermann fuhr, aus unserem Verband und steuerte auf das U-Boot zu. Die Lage wurde verglichen. Wir befanden uns auf der Höhe von Kolberg*). Nur langsam löste sich bei uns die Anspannung. Abends suchten wir trotzdem mit mehr innerer Ruhe als am Abend zuvor unsere Schlafstellen auf. Die Enge in der Kajüte störte uns nicht mehr. Gegen Mitternacht erschütterte plötzlich ein furchtbares Getöse das Schiff. Das elektrische Licht ging aus. Über uns krachte und zischte es. Um uns herum ein Blitzen, Bersten und Splittern, als wäre der Weltuntergang angebrochen. Die Frauen und Kinder kreischten, und uns Männern kroch ein Schauer über den Rücken. Unwillkürlich versuchte jeder, seinen Kopf zu schützen.

„Kein Licht! Alles untenbleiben! Schwimmwesten an!“ kam das scharfe Kommando des Kapitäns. Er mußte verhindern, daß Panik ausbrach. „Ruhe! Es wird alles gut! Der Angriff ist schon vorüber.“
Doch bald krachte es erneut. Wieder Blitzen und Bersten, Splitter flogen im Raum herum, Querschläger heulten, Metall klirrte. Eine gewaltige Detonation neben unserem Dampfer warf ihn hoch, als sollte er aus dem Wasser gehoben werden. Das Schiff neigte sich zur Seite, so daß alles durcheinanderfiel. Das ist das Ende, dachte ich. Und wieder die scharfen, aber ermutigenden Worte des Kapitäns: „Ruhe! Keiner geht nach oben, es ist gleich vorbei!“

Ich bewunderte den Mann. Tapfer verstummten die verängstigten Frauen und Kinder. Das Trostloseste war das Hilferufen der Kinder.
Dann die dritte Salve. Sie prasselte über die Kajütendecke, krachte quer durch den Raum, bohrte sich durch die Schiffswand. Wieder hob eine Wasserbombe den Schiffskörper empor und schleuderte ihn zur Seite, daß er in seinen Fugen auseinanderzubrechen drohte. Noch einmal das Bewußtsein: Jetzt sinken wir!

Schließlich die erlösende Meldung, der Flieger drehe ab. Im nächsten Moment stürzte der Kapitän die Treppe herunter und befahl: „Bodenbretter raus!“ und riß bereits das erste Brett hoch. Und da sahen wir auch schon die Bescherung: Wir hatten Wasser im Schiff!

Das salzige, ölige Naß stieg zusehends an. In rasender Eile wurden Eimer und Kübel geholt, wurde eine Kette gebildet, an der die vollen Eimer nach oben und die leeren nach unten flogen. Keiner schonte sich, jeder holte das Letzte aus sich heraus. Der Kampf mit dem nassen Element dünkte eine Ewigkeit, obwohl erst zwei Stunden vergangen sein mochten. Schließlich war das Leck gefunden und gestopft. Aufatmen. Das ölige Wasser hatte uns Gesicht und Hände verschmiert und unsere Kleidung völlig durchnäßt. An Reinigung war auch nach dem notdürftigen Flicken der Stromleitung nicht zu denken, denn bald schon kam die nächste Schreckensbotschaft: Unser Kompaß war getroffen worden und die anderen Schiffe waren außer Sicht!

Fröstelnd hing jeder seinen Gedanken nach ...

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Königsberg, Ostpreußen; Januar–Anfang April 1945

Letzte Tage in Königsberg (Auszug)
Siegfried Allzeit

Der letzte Zug aus der Festung Königsberg

Am letzten Sonntag des Januars wurden alle Familien mit Kindern aufgefordert, um 18 Uhr zum Hauptbahnhof zu kommen. Es würde noch einmal ein Transport zusammengestellt, der die Mütter mit Kindern aus dem Kessel herausbringen sollte. Wir packten einige Sachen und machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Meine Mutter trug die kleine Schwester auf dem Arm, mein Bruder, 12 Jahre alt, schleppte eine Tasche und ich zwei Koffer. Es war kalt. Während des ganzen Weges zum Bahnhof hörten wir Maschinengewehr- und Geschützfeuer, auch einige „Stalinorgeln“.

Auf dem Hauptbahnhof herrschte Chaos. Niemand wußte, auf welchem Bahnsteig oder wann überhaupt noch ein Zug abfahren sollte. Das Bahnhofsgelände lag im Dunkeln. In der großen Bahnhofshalle saßen und lagen Menschen auf ihrem bißchen Habe, die sie bis hierher gebracht hatten. Man mußte aufpassen, daß man nicht auf jemanden trat, denn im Schein einer Taschenlampe oder einer Kerze war nicht viel zu sehen. Nicht nur Flüchtlinge und Königsberger warteten auf einen Zug, sondern auch viele Militärangehörige. Einige schimpften auf den Krieg, auf Hitler und die Bonzen so laut, daß es alle hören konnten. Zwischendurch suchten die Kettenhunde von der SS nach desertierten Soldaten.

Unterdessen war es 20 Uhr, aber nichts passierte. Immer mehr Menschen strömten zum Hauptbahnhof. Endlich lief ein Zug ein, aber nicht auf dem Bahnsteig, auf dem wir standen. Die Menschenmassen bewegten sich jetzt auf diesen Bahnsteig zu, es war ein großes Geschubse und Gedränge. Man mußte aufpassen, daß man nicht noch stolperte. Als wir endlich auf dem Bahnsteig standen, war der Zug bereits übervoll. Die Menschen waren eingepreßt in den Abteilen, auch auf den Trittbrettern standen sie. Doch der Zug fuhr nicht ab. Alles lag in einem gespenstischen Halbdunkel. Eisenbahner liefen hin und her; auf Fragen nach der Abfahrt des Zuges oder ob weitere Züge fahren würden, konnten sie keine Auskunft geben. So standen wir eingepfercht in dieser Menschenmasse und warteten. Wir hielten uns aneinander fest, damit wir nicht getrennt wurden. Von draußen hörte man weiter das Schießen, manchmal wurde auch die Bahnsteigüberdachung getroffen. Es klirrte kräftig, zerbrochene Scheiben schienen herunterzufallen, aber das war im Dunkeln nicht auszumachen, auch nicht, ob jemand verletzt wurde.

Wir blieben bis gegen 22 Uhr, doch es geschah nichts. Meine kleine Schwester hatte durch das ganze Hin und Her ihren Handschuh verloren. Ihre Finger waren kalt geworden, sie wurde quengelig, so gingen wir wieder nach Hause. Wir stellten unser Gepäck ab und gingen schlafen, denn wir waren müde und durchgefroren. Nur Mutter ist aufgeblieben und hat angefangen, den Handschuh zu stricken. Zwei Tage später haben wir durch Zeitung und Rundfunk erfahren, daß der letzte Zug, der Königsberg verlassen hatte, von den Russen bei Metgethen gestoppt worden war, und sie ein schreckliches Massaker unter den Flüchtlingen angerichtet hatten.

Aus dem Radio ertönten weiterhin Durchhalteparolen. Der Gauleiter von Ostpreußen, Erich Koch, rief die Bevölkerung von Königsberg auf, alles zu unternehmen, um den Endsieg doch noch zu erreichen. Königsberg war jetzt vollkommen eingeschlossen und zur Festung erklärt worden. Das hieß, der Festungskommandant konnte Gesetze außer kraft setzen, Anordnungen herausgeben, um die Verteidigungsfähigkeit der Stadt zu gewährleisten*). Fliegeralarm wurde auch nicht mehr gegeben, die unmittelbare Frontnähe erübrigte dies. Militär war überall präsent. Auf unserer Seite der Hippelstraße war der Bürgersteig ziemlich breit. Auf der ganzen Länge parkten Militärfahrzeuge, Mannschaftswagen, Werkstatt- und Versorgungsfahrzeuge. Jeder Motor war mit einem Splitterschutz aus Balken oder Eisenbahnschwellen versehen.
Das Leben in der Stadt ging weiter. Die Menschen verrichteten ihre Arbeit, soweit dies noch möglich war. Die Frauen und größeren Kinder waren damit beschäftigt, etwas zum Essen und zum Heizen zu besorgen. Da sich alle im Luftschutzkeller aufhielten, wurden die Wohnungen nur so viel beheizt, daß nichts einfror. Wir gingen nur nach oben, um die Speisen zuzubereiten.

Anfang Februar übergab mir der Blockleiter die schriftliche Aufforderung, mich auf der Ortsgruppengeschäftsstelle der NSDAP zu melden. Außer mir stellten sich noch zwei Jungen vor. Ab sofort würden wir dem Volkssturm angehören und der Befehlsgewalt des Ortsgruppenleiters unterstehen. Wir erhielten Uniformstücke, die nicht zusammenpaßten. Ich hatte Jacke und Hose von der Luftwaffe, den Mantel vom Heer und das Käppi von der Polizei. Wir wurden als Kuriere eingesetzt, denn über Telefon und Funk hörte der Gegner die Meldungen ab. Die Befehlsstelle, die sich auf dem Gelände einer Molkerei befand, war tief in die Erde eingegraben. Die Wachstube hingegen lag zu ebener Erde, hier waren auch die Männer vom Volkssturm untergebracht, die das Objekt schützen sollten. Der älteste war 70 Jahre alt. Die Kuriere hatten 36 Stunden Dienst, jede zweite Nacht durften wir nach Hause gehen. Jeden Morgen hieß es antreten zum Befehlsempfang und zur Parolenausgabe, denn ohne Parole kam man nirgendwo hinein. An einige Parolen kann ich mich noch erinnern: Gold – Silber, Dienstzeit – Urlaub, Auto – Zug. Am Tage mußten wir einzeln, nachts durften wir zu zweit gehen. Die wichtigsten Anlaufstellen waren die Bezirksleitung der NSDAP, die im Roßgarten im Haus der Arbeit, und die Gauleitung, die im Rundfunkhaus untergebracht waren, weitere die Polizei, die Redaktion der „Königsberger Zeitung“ und einige Konsulate ...

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Preußisch Eylau– Königsberg– Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern –
Koserow, Usedom – Falkensee bei Berlin; 1946–194

„Dai kusotschka chleba!“
Helga Naujoks

Unsere Mutter war kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee am 9. Februar 1945 in Preußisch Eylau von einer sowjetischen Militärstreife verhaftet und – wie wir erst später erfuhren – nach Sibirien deportiert worden. Im August 1945 war unser Vater aus Gram darüber gestorben. Kurz darauf starben auch unsere Großeltern. Nach ihrem Tod lebten wir drei Geschwister allein. Ob unsere große Schwester Eleonore noch lebte, wußten wir nicht. Sie war mit der Familie unseres Nachbarn Poerschke geflüchtet. Mit meinen 14 Jahren fühlte ich mich für meine beiden jüngeren Geschwister Marga, zwölf, und Bernhard, zehn Jahre alt, verantwortlich.

Als die ersten russischen Familien nach Preußisch Eylau kamen, nahmen sie von allem Besitz. Aus den Wohnungen, in denen wir Unterschlupf gefunden hatten, wurden wir vertrieben. Für uns, die letzten Deutschen hier, blieben nur noch die Ruinen. Es herrschte Hungersnot, selbst die Russen hatten kaum etwas zu essen. Im Magazin erhielten sie ihre Rationen, sorgfältig auf einer deutschen Waage ausgewogen. Eine Schnitte wurde in vier Stückchen geteilt und oben auf die Ration gelegt. Deutsche hatten dort keinen Zutritt. Wenn die Russen herauskamen, streckten sich ihnen viele dünne Kinderarme entgegen: „Poschaluista, dai kusotschka chleba!“ – „Bitte, gib mir ein Stück Brot!“
Die einfachen Soldaten teilten fast immer.

Der Dezember 1946 war auch für ostpreußische Verhältnisse ungewöhnlich kalt. Unsere größte Sorge war, neben Eßbarem unbedingt etwas Brennbares auftreiben zu können. In die Umgebung von Preußisch Eylau, in die Wälder mit dichtem Unterholz, wagte sich niemand mehr. Es wäre zu gefährlich gewesen, denn überall streiften sowjetische Soldaten umher, immer auf der Suche nach „Wertvollem“ oder nach Frauen, wobei das Alter keine Rolle spielte, ein achtjähriges kleines Mädchen war genauso gefährdet wie eine achtzigjährige Großmutter.

Längst waren alle Holzzäune abgerissen und verfeuert worden. Die wenigen deutschen Einwohner, die nicht geflüchtet oder noch nicht vor Hunger gestorben waren, begannen allmählich, die Treppengeländer und Möbel zu verheizen.
Wenn wir auf unseren Streifzügen durch die Trümmer nach einem Stück Holz oder nach Fischköpfen suchten, die die sowjetischen Soldaten weggeworfen hatten, trafen wir nur noch wenige Deutsche, meist in Lumpen gehüllte, fürchterlich abgemagerte Gestalten. Bernhard, unser kleiner Bruder, sah schon genauso aus – in Vatis ehemaliger eleganter, mit braunen Husarenschnüren verzierter, dunkelgrüner Hausjoppe, die er als langen Mantel trug, erregte er Mitleid. Sein kleines Gesicht war blaß und unendlich müde. Bernhard war zehn Jahre alt, wirkte aber durch seine Magerkeit viel jünger und kleiner. Wenn er an ihren Haustüren bettelte, gaben ihm die Russen fast immer ein paar Kartoffelschalen, ein winziges Stückchen Brot oder etwas Suppe in sein Töpfchen, das er immer bei sich trug.

Ich wartete mitunter den ganzen Tag, daß Bernhard zurückkäme und mir von seinen Bettelgängen etwas zu essen mitbringen würde. Ich hatte keine Chance, etwas zu bekommen, ich war ungewöhnlich groß und mit meinen 14 Jahren schon zu alt, ich erregte bei den Russen, die, bis auf wenige Ausnahmen, alles was deutsch war, haßten, kein Mitleid. Ich konnte überall anklopfen, wenn die Leute mich sahen, schlugen sie wortlos die Türe wieder zu. Ich war auch viel zu sauber. Seit dem Tag, an dem mich ein sowjetischer Offizier mit vorgehaltener Pistole auf den viele Male durchwühlten, von unzähligen zerrissenen, schmutzigen Kleidungsstücken übersäten Boden geworfen und vergewaltigt hatte, wurde ich das Gefühl nicht mehr los, mich ständig waschen zu müssen.

Im Sommer reinigten wir uns mit Regenwasser, im Winter mit Schnee, davon hatten wir hier ja genug. Bernhard, Marga und ich waren die saubersten deutschen Kinder in der Stadt, und das ganz ohne Waschpulver und Seife. Unser kleines Zimmerchen und die winzige Küche unter dem schrägen Dach waren stets aufgeräumt. Wir überlebten wahrscheinlich auch deshalb, weil wir uns nie aufgaben und nicht, wie viele Ältere, nur der Vergangenheit nachtrauerten. Unsere allergrößte Hoffnung war: Eines Tages würden wir unsere Mama wiederfinden!

Immer, wenn wir uns gerade ein neues Zuhause zusammengetragen hatten und uns ein wenig heimisch fühlten, erschienen russische Soldaten mit roten Armbinden und befahlen laut: „Alles rrrauskommen! Alle Sachen stehenlassen!“

Alle Deutschen wurden dann unter Bewachung in einen anderen Stadtteil geführt. Die uns zugewiesenen Wohnungen waren jedesmal in einem schrecklichen Zustand, nur nach mehrmaligem, gründlichem Saubermachen konnten sie benutzt werden. Da wir alles zurücklassen mußten, war das, was wir am Körper trugen, unser einziger Besitz.
Die längste Zeit lebten die Deutschen in den kleinen Häuschen der Erich-Koch-Siedlung, benannt nach dem Gauleiter von Ostpreußen. Es waren hübsche, weiße Häuser mit eingezäunten kleinen Gärten. Die Zäune waren aus Draht oder Eisengitter, sie ließen sie sich leider nicht verheizen, dadurch sah es in diesem Viertel noch recht ordentlich aus.

Wenn Bernhard, winzigklein, in seiner viel zu großen Joppe und mit einer Mütze mit viel zu großem Schirm auf dem kleinen Kopf am Anfang der langen Straße auftauchte, durchströmte mich ein Glücksgefühl. Seine Beine, so dünn wie Stöckchen, steckten in unförmigen Gebilden, die ich als Ersatz für Schuhe angefertigt hatte. – Bei unseren etwas längeren Streifzügen in die Umgebung hatte ich in einer Scheune übergroße Knäuel dickes, festes Band gefunden. Die ostpreußischen Bauern hatten es zum Binden der Garben benutzt. Wir hatten davon Unmengen in unsere Behausung geschleppt, in diesen Zeiten ließ man nichts liegen. Im Sommer liefen wir zwar barfuß, aber als es kalt wurde, häkelte ich aus dem Band Schuhe, immer rundherum, in der Mitte ließ ich ein Loch zum Hineinschlüpfen. –

Voller Hoffnung starrte ich auf den vielleicht mit Brotresten oder Kartoffelschalen gefüllten Stoffbeutel, den er immer quer umgehängt hatte, oder auf das Töpfchen, das er vorsichtig vor sich hertrug, weil ein bißchen Suppe oder Kascha darin war. Als Dank las ich ihm dann bis zum Dunkelwerden die schönsten Märchen vor.
Bücher, wunderschöne Bücher, hatten wir uns von überall her aus den leerstehenden Häusern zusammengetragen. Das einzige, was die Russen liegenließen, waren Bücher. Nur, wenn irgendwo ein Hakenkreuz oder ein Hitlerbild zu sehen war, hatte bestimmt ein Soldat einen „Haufen“ draufgemacht.

Wir standen auf, wenn es draußen hell wurde und gingen schlafen, wenn die Dunkelheit anbrach. Es war zwei Tage vor Heiligabend 1946. Der strenge Frost hatte die schönsten Eisblumen an die wie ein Wunder heilgebliebenen Fensterscheiben gemalt. Die aufgehende Sonne ließ die Eispracht derart glitzern, daß unsere zwei winzigen Räume ein märchenhaftes Aussehen bekamen. Mit größter Willenskraft wühlte ich mich aus den dicken Federbetten, unserem wertvollsten Besitz, um die tägliche „Kartoffelsuppe“ zu kochen. Sie bestand aus etwa zwei Litern Wasser, zwei roh geriebenen Kartoffeln und einigen Krümelchen Salz. Das Salz war eine große Kostbarkeit, die Russen verkauften es auf dem Basar für zwei Rubel je Tasse. Es war sehr grob und schmutziggrau, aber es würzte. An diesem Morgen hatte der klirrende Frost das Wasser in dem auf dem kalten Herd stehenden Topf gefrieren lassen. Darin eingefroren war eine winzige Maus, nur der Schwanz wirkte unnatürlich lang und sah aus wie ein dünner, schwarzer Strich auf dem Eis. Ich weckte Marga und Bernhard. Wir standen da und starrten auf die tote kleine Maus. Sie tat uns furchtbar leid. Ich brachte den Topf hinaus in den Garten, stellte ihn unter eine Hecke und schippte Schnee darüber. Nie mehr hätte ich ihn benutzen können. Aber wir hatten uns ja genügend Gefäße aus leerstehenden Wohnungen besorgt. Der Schnee um „unser“ Haus herum war so zartweiß, ein Topf davon ergab unsere Wassersuppe.

Nach dem Frühstück begann das „Organisieren“. Marga schaffte das am besten. Sie war mutig genug, dazu mit ihren 12 Jahren noch klein und dünn, um in die winzigen Kellerlöcher mit tonnenschwerem Schutt darüber zu klettern. Was für Herrlichkeiten beförderte sie manchmal an das Tageslicht: Fleisch, Wurst, Sülze, Erdbeeren, Kirschen, alles eingeweckt, und jede Menge Marmelade.

Unser Nachbar von gegenüber ging fast jeden Morgen irgendwohin, um Glut zu holen, denn Streichhölzer gab es nicht. Diesen Zeitpunkt paßten wir genau ab. Das vereiste Fenster leicht geöffnet, beobachtete ich, wenn Herr Zahlmann das Haus verließ. Marga wartete indessen schon unten an der Haustür auf mein Zeichen: „Jetzt!“
Daraufhin sprintete sie über die Straße und rein in Zahlmanns Wohnung. Die Tür ließ er merkwürdigerweise immer offen, obwohl er manchmal ziemlich lange wegblieb, wenn in den näherliegenden Häusern die Glut auch ausgegangen war. Aber meist hatte irgendein Nachbar das Feuer doch über Nacht gerettet.

In Zahlmanns Wohnung lagerten unglaubliche Schätze, denn er war ganz groß im „Organisieren“. In Regalen standen fein säuberlich Einweckgläser aus den Kellern der durch Bombenangriffe eingestürzten Häuser. Da gab es eingewecktes Pferdefleisch, Pferdeklopse, da standen Schüsseln mit Korn und Mehl und andere Herrlichkeiten.

Irgendwie ernährten wir uns. Ein Faß Flugzeugmotorenöl, sorgsam beiseite geschafft und versteckt, war unsere Rettung. Schuhcreme, Hundekuchen – alles ließ sich essen. Manchmal konnte man auf den völlig verunkrauteten Feldern noch Brennesseln oder Melde finden. Längst waren auch die Keller der zerbombten Häuser leergeräumt.
Mit Wehmut dachten wir an früher. Wenn wir, in alte Steppdecken eingehüllt, rumlagen und in Kochbüchern blätterten, spielten wir das Spiel: „Das ist meins!“
Dabei zeigten wir mit dem Finger auf eine Stelle im Buch, wo eine köstliche Torte oder ein Teller mit Wurst und Käse abgebildet waren. Wir unterhielten uns nur noch über Essen...

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Tolkemit bei Elbing, Ermland-Masuren, Westpreußen – Danzig– Rostock – Stäbelow, Kreis Rostock; Januar/Februar 1945

Glück im Unglück – kein Platz auf der „Gustloff“ (Auszug)
Eva-Maria Otto

... Nun wurde auch mein Vater noch zum Volkssturm eingezogen. Zuvor war ihm die Einberufung wegen seiner Tätigkeit in der landwirtschaftlichen Produktion – er war auf einem Gut als Inspektor tätig – erspart geblieben. Zudem hatte er bereits als ganz junger Mann im Ersten Weltkrieg gedient.

Im Januar 1945 war es dann so weit. Die Russen rückten näher, Ostpreußen hatten sie bereits eingenommen. Eine höllische Angst ging um. Man sprach von einer riesigen Fluchtbewegung. Vermutlich hatte unsere Mutter bis zu diesem Zeitpunkt an den Endsieg geglaubt und sich auf die Tapferkeit der deutschen Soldaten verlassen, oder – wie so viele – auf die „Wunderwaffe“ gehofft. Am 21. Januar 1945 verließen wir Tolkemit. Mutti hatte in aller Eile das Nötigste zusammengepackt, was sicher gut überlegt sein mußte. Was brauchten wir vier – Mutti, meine zwei kleinen Brüder und ich – zum Überleben? Bei den sehr niedrigen Wintertemperaturen mußte sie sich für warme Kleidung entscheiden, die viel Platz benötigte. Einige Lebensmittel wird sie auch mitgenommen haben. Der fast zweijährige Dieter saß, in eine Steppdecke gehüllt, auf dem Schlitten. Mutti trug einen kleinen Koffer, ich einen Rucksack. Der Schlitten mußte gezogen, der Kinderwagen mit Baby Eckehard geschoben werden. Wieviel Mut und wohl auch Angst vor der Rache der Sieger gehörten dazu, um sich auf eine so abenteuerliche Flucht zu begeben!

Der Abend war mondhell und die Luft klirrend kalt, als sich Mutti mit uns drei Kindern und einer beginnenden Schwangerschaft auf den Weg machte. Das Ziel war Kahlberg, ein kleiner Ort auf der Frischen Nehrung, wo größere Schiffe anlegen konnten. Um dorthin zu gelangen, mußten wir das zugefrorene Frische Haff überqueren. Es waren etwa zwanzig Kilometer zurückzulegen, und das bei minus 20 Grad!

Viele Menschen sind an diesem Tag und Abend losgezogen. Es war eine endlos lange Schlange, die sich über das mit Schnee verwehte Eis bewegte. Das Haff war streckenweise in Wellen vereist. Das machte ein Fortkommen mit Schlitten und Kinderwagen nicht leicht. Glücklicherweise gab es einige versprengte Soldaten, die den Flüchtlingen halfen. Als etwa die Hälfte des Weges geschafft war, gab es für viele ein Schockerlebnis: Ein Eisbrecher war quer durch das Haff gefahren und hatte in seiner ganzen Breite eine Rinne hinterlassen! ...

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