
Unserer
Wohnhausreihe »Am Schäfersee 29 und 31« nach dem
Bombenangriff vom 24. März 1945. Der dunkle Bereich im Vordergrund
ist der tiefe Krater einer Luftmine. Die Turmaufbauten oben gehören
zur Schokoladenfabrik Neetzelli. Im Keller unseres Hauses haben wir
den Bombenangriff knapp überlebt, fast wären wir dabei ertrunken.
Kriegsende
Aus
nördlicher Richtung sind heute, am 23. April 1945, Kampfgeräusche
zu hören, weit können die Russen nun nicht mehr sein. Ihre
Flugzeuge werfen kleine Bomben ab, die hier und da explodieren, auch
bei uns am Schäfersee. Die Piloten mit ihrer PO-2, einem langsam
fliegenden Doppeldecker, tun dies von Hand, das kann ich deutlich
erkennen, so tief fliegen sie.
Jemand
ruft bei Bekannten in Tegel an und hört, dass sich dort schon
die Russen befinden, knapp zehn Kilometer von uns entfernt. Es ist
schon verrückt. Da wird in dieser Stadt heftig gekämpft,
aber die Telefone funktionieren noch durch die Fronten hindurch. Zehn
Kilometer, vielleicht sind es inzwischen nur noch acht oder sieben
Kilometer bis zur Kampflinie! Wir sollten eigentlich den Keller nicht
mehr verlassen.
Dennoch
schleiche ich mit meinen Brüdern in der Gegend herum. Wir brauchen
Luft und Auslauf, sind vor allem jedoch neugierig auf jede Veränderung
um uns herum. Das Leben im Keller über so viele Wochen ist eine
Qual. Kein Strom, kein Wasser, es muss von Straßenpumpen per
Eimer geholt werden. Alles ist primitiv und staubig. Zum Kochen wird
Trümmerholz verbrannt. Wir haben kaum noch etwas zum Essen. Also
raus!
Die
Oberfläche des Schäfersees schäumt hin und wieder fontänenhaft
auf. Seltsam sieht das aus, wie bei Wasserspielen inszeniert. Ein
begleitendes Pfeifen und Rollen in der Luft lässt Gandhi »Vorsicht,
das sind Artilleriegeschosse!« rufen. Geduckt laufen wir weiter.
Auf
der Kreuzung Residenz-/Markstraße ist ein Flakgeschütz
in Stellung gegangen. Die dortigen Soldaten, unter ihnen jugendliche
Flakhelfer, üben hektisch an ihrer Kanone und drehen sie immerzu
in alle Himmelsrichtungen. Ihre Hauptrichtung scheint dabei die Residenzstraße
zu sein, auf der sie russische Panzer im direkten Beschuss am Weiterkommen
hindern sollen, wie uns ein Flakhelfer erzählt.
Wir
gehen schnell weiter, denn der Kommandant der Truppe fängt an,
sich für Uli zu interessieren. In Wedding, an der Schulstraße
und der Schwedenstraße, ist Schluss. Der Weg zur Innenstadt
ist gesperrt. Überall sind Panzersperren errichtet, die Straßen
von Häuserwand zu Häuserwand meterdick überwiegend
mit Trümmerschutt geschlossen. Dahinter befinden sich Volkssturmleute
mit Panzerfäusten, um ein zügiges Vordringen der Russen
zum Stadtkern zu verhindern.
Unter
ihnen sind auch einige Jungen in meinem Alter, denen der Stahlhelm,
den sie auf dem Kopf tragen, viel zu groß ist. Sie schaffen
es kaum, über die Sperren zu gucken. Kinder im Kampfeinsatz!
Ein Bild, das ich öfters sehe.
Ob die das freiwillig machen? Wir alle sind durch die Ereignisse und
persönlichen Erlebnisse der Vergangenheit hart geworden und abgestumpft,
aber freiwillig würde ich mich so einer aussichtslosen Sache
nicht zur Verfügung stellen. Und die Eltern, meistens die Mütter,
was sagen die dazu? Sie sind entweder tot oder verzweifelt und haben
kaum noch die Kraft, auf das Geschehen einzuwirken.
Zurück
am Schäfersee saust ein deutsches Jagdflugzeug schießend
über unsere Köpfe. Es brennt dabei und verschwindet mit
einer starken Rauchfahne in Richtung Wedding.
»Da sind Russen drin, unsere fliegen längst nicht mehr!«,
meint ein Soldat, der mit anderen zu den Panzersperren im Wedding
will. Überhaupt sehen wir bei uns wenig deutsche Soldaten. Alle
ziehen sich, soweit wir es erkennen können, Richtung Innenstadt
zurück. Nur die Flakbesatzung an der Kreuzung bleibt. Gewiss
hat sie eine verdeckte Seitensicherung.
Überleben
ist alles
Wir
brauchen Lebensmittel, egal was. Frau Reschke, die Inhaberin unseres
Tante-Emma-Ladens in der Holländerstraße, verkauft beziehungsweise
verschenkt alles, was nur nach Essen riecht. Egon hört davon
und geht mit mir hin. Eine lange Schlange von Menschen steht geordnet
vor dem Geschäft und nimmt uns die Hoffnung auf etwas Essbares.
Ehe wir dran sind, ist der Laden bestimmt leer.
Gerade
wollen wir kehrtmachen, als eine russsische »Ratta« im
Tiefflug die Straße entlangfliegt und fast die Häuser berührt.
Der Kopf des Piloten ist deutlich zu erkennen. Er sieht unsere Schlange
und fliegt eine Kehre. Dann kommt er von der Brienzer Straße
her sehr niedrig zurück und schießt in die Holländerstraße
hinein. Die wartenden Leute rennen Schutz suchend auseinander.
Egon
und ich drücken uns fest an die Häuserwand, während
die Geschosse durch die Gegend pfeifen. Einem Luftwaffensoldaten wird
direkt vor der Einfahrt zu Neetzelli sein Fahrrad unter dem Gesäß
weggeschossen. Er fällt leicht verletzt zu Boden, das Rad wirbelt
durch die Luft und rutscht den Gehweg entlang.
So
schnell, wie er begann, ist der Angriff vorbei. Im Nu rennen wir in
den Laden und bekommen doch noch einige Esswaren, die wir dringend
benötigen. Ein Stück Margarine, etwas Kunsthonig, ein bisschen
Käse, Mehl und Salz sind nicht mit Gold aufzuwiegen. Frau Reschke
verteilt gerecht. Wir gehen zufrieden nach Hause.
Am
Nachmittag treibe ich mich auf der Residenzstraße herum. Die
Flakbatterie wirkt wie ein Anziehungspunkt. Ich beobachte die meist
jungen Soldaten aus gebührendem Abstand und sehe sie um sich
herum hinter Sandsäcken Granaten aufstapeln. Wenn die getroffen
werden, bleibt von Geschütz und Bedienungsmannschaft nichts mehr
übrig, da bin ich sicher. Als ich was sage, jagen sie mich fort.
Wie
kann man nur so dumm sein, denke ich, werde aber gleich wieder abgelenkt.
Gegenüber dem Polizeirevier 296, vor dem Eisenwarengeschäft
Kirchner, werfen Soldaten der Wehrmacht von einem Kübelwagen
Flugblätter, wie schon zuvor an anderen Stellen der Residenzstraße.
Es ist eine neue Frontzeitung mit Namen »Panzerbär«,
in der üble Drohungen an »Verräter« und Durchhalteparolen
enthalten sein sollen sowie die Meldung, dass es im Norden Berlins
einzelnen Feindverbänden gelungen sei, in das Gebiet der Reichshauptstadt
einzudringen.
Zu
gern hätte ich ein Exemplar erwischt, jedoch schaffe ich es nicht;
sie sind sofort vergriffen. Manche Leute haben mehrere, geben aber
keines ab. Einer sagt mir wenigstens, was da geschrieben ist. Dann
rennen alle davon. Granaten fliegen pfeifend durch die Luft und explodieren
irgendwo in der Nähe. Der Kübelwagen wendet und rast mit
hoher Geschwindigkeit in Richtung Innenstadt. Kaum ist er weg, hört
man das unverkennbare Geräusch von Panzern mit ihren Motoren
und Fahrketten. Die Russen!
Ich
sehe drei Panzer, die in Höhe Beba-Kino, an der Ecke Residenz/Amendestraße
stoppen. Ihre Geschütztürme drehen sich bedrohlich hin und
her. Keine 200 Meter sind das bis zu mir, und ich bemerke es erst
jetzt! Mich erfasst Panik; ich laufe weg, ja sprinte, so schnell es
geht. Nur zurück in den verhassten Keller.
Die
Flakbatterie fängt zu schießen an. Ein ohrenbetäubendes
Donnern ist zu hören. Bei jedem Abschuss erfasst mich eine Druckwelle,
bis ich an der Druckerei Schemmel am Schäfersee vorbei bin. Offensichtlich
läuft ein Geschützduell zwischen den Panzern und unserem
Flakgeschütz, dort, wo ich noch vor wenigen Augenblicken gestanden
habe. Granaten schlagen ein, Splitter fliegen durch die Luft, treffen
mich aber nicht. Zu
Hause angekommen, schließt mich meine Mutter in die Arme und
drückt mich ganz fest.
»Mein
Gott, die Medikamente für Frau Fuß. Ich habe vergessen,
sie ihr zu bringen! Sie braucht sie dringend, hätte schon heute
früh etwas einnehmen müssen!« Meine Mutter hält
eine kleine Tüte in ihrer Hand und sieht verzweifelt aus. Frau
Fuß, Am Schäfersee 49 wohnend, ist sehr krank. Sie lebt
genau wie wir mit ihren Hausbewohnern im Keller des beschädigten
Gebäudes und wartet gewiss schon seit Stunden auf das, was meine
Mutter ihr besorgen wollte.
»Gib
her«, sage ich und reiße die Tüte an mich. Mit schnellen
Sprüngen versuche ich, die zwischen unseren Häusern liegende
Kraterlandschaft zu überwinden. Weit komme ich nicht. Etwa auf
der Hälfte des Weges schlägt eine Granate ein. Ich werfe
mich zu Boden, Deckung suchend. Erneut krepiert dicht neben mir eine
weitere Granate, deren Splitter zischend um mich herum in den Boden
sausen.
Ich
muss hier weg, aber wann aufspringen und losrennen? Eigenartig, warum
höre ich die Granaten nicht anfliegen, sondern erst, wenn sie
explodieren? Mein Kopf rauscht, es summt mir in den Ohren, ist das
Ulis Stimme? »Hinlegen, auf, volle Deckung!«
Uli, der mich jetzt sieht und den Flug der Granaten nach dem Geräusch
von seinem Standort aus besser einschätzen kann als ich, schreit
sich die Lunge aus dem Leib. Ich befolge seine Anweisungen. Beim letzten
Satz ins Haus von Frau Fuß schlägt erneut eine Granate
in die Eingangstür und schleudert mich die Treppe hinab in den
schützenden Keller, den dortigen Bewohnern vor die Füße.
Bis auf kleinere Schrammen ist mir nichts passiert.
Frau
Fuß geht es schlecht; sie nimmt sogleich die Medikamente. Als
»meine« Beschießung beendet ist, schleiche ich mich
vorsichtig nach Hause zurück. Dort erfahre ich, dass nicht ich,
sondern der Turm von Neetzelli das Zielobjekt sich einschießender
Panzer war.
Angst
vor den Russen
Die Spannung steigt. Russische Panzer stehen etwa 400 Meter von uns
entfernt, kommen aber nicht näher. Das Duell mit unserer Flakbatterie
scheint beendet. Wir hören sie nicht mehr schießen. Wie
mag es da jetzt aussehen? Wir trauen uns nicht mehr aus dem Keller.
Lediglich jeweils zwei Mann schieben »Russenwache«, um
uns zu warnen, wenn sie kommen. Wird das noch heute Abend sein oder
erst morgen früh?
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