Leseproben:
Luise
Rüth: Ein schlechtes Zeugnis (Band 2)
Udo Wanke-Kreh: Meine schönste Lernmotivation
(Band 2)
Hasso Pacyna: Lateinische Adverbien (Band 1)
Ernst Swiderek: Das Pferdekinn (Band 3)
[Bonn
am Rhein; 1950]
Ein schlechtes Zeugnis
Luise Rüth
Vater
war gerade erst krank aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt.
Unsere wirtschaftlichen Verhältnisse waren sehr bescheiden. Vater
mußte neu eingekleidet werden; die schäbige Gefangenenkleidung
wollte er nicht mehr tragen. Seine alte Kleidung war zum Teil den Bomben
zum Opfer gefallen. Und wir hatten auf der Flucht nichts mitnehmen können.
Mutter meinte, sie hätte ihm sowieso nicht mehr gepaßt.
Vater war zwölf Jahre lang, mit nur kurzer Urlaubsunterbrechung
zu Beginn des Krieges, von uns fortgewesen. Hunger und Entbehrungen
hatten seinen Körper gezeichnet. Er hatte starkes Untergewicht.
Als wir ihn auf dem Bahnhof abholten, erkannten Mutter und ich ihn nicht
wieder. Als junger Mann war er gegangen, und als uralter kam er zurück.
So sah er jedenfalls in meinen Augen aus. Es machte uns sehr traurig.
Ich war acht Jahre alt. Wir bemühten uns, alles zu tun, daß
Vater immer satt wurde und sich vielleicht wieder wohl fühlte.
Daher mußten wir unsere eigenen Bedürfnisse weit zurückstellen.
Nun war der Frühling in diesem Jahr sehr früh gekommen und
außergewöhnlich warm. Es schien, als wollte uns die Natur
für die Entbehrungen der zurückliegenden Jahre entschädigen.
Meine Winterschuhe, klobige Lederschnürschuhe, einige Nummern zu
groß, was mit dicken selbstgestrickten Socken ausgeglichen wurde,
waren jetzt einfach zu warm.
Mutter holte meine Sandalen aus dem vergangen Jahr vom Speicher. Schon
im letzten Jahr waren sie mir etwas zu klein gewesen. Beim Anprobieren
stellten wir mit Entsetzen fest, daß meine Zehen bestimmt zwei
Zentimeter über die Schuhe hinausragten. Was tun?
Barfuß konnte ich nicht zur Schule gehen. Wir wohnten in der Stadt,
und vielen Leuten ging es damals schon wieder recht gut.
Mit diesen Sandalen war ich am ersten Schultag dem Gespött meiner
Klassenkameraden ausgeliefert. Sie liefen johlend hinter mir her und
lachten mich aus.
Ich war traurig, aber noch mehr wütend, und schämte mich.
Die Tränen liefen mir über die Wangen, ein ganz schlimmer
Jähzorn erfaßte mich. Ich zog die Sandalen aus und schlug
damit wild um mich. Dabei traf ich eine Schulkameradin am Kopf. Sie
trug eine Platzwunde davon, die heftig blutete. Zu Tode erschrocken
lief ich nach Hause.
Am nächsten Tag wurde ich mit Mutter zur Lehrerin bestellt. Mutter
wußte Bescheid. Ich hatte ihr abends alles erzählt, weil
mich das schlechte Gewissen nicht einschlafen ließ.
Die Lehrerin machte mir heftige Vorwürfe und drohte mit Strafe.
Warum es überhaupt zu diesem Vorfall gekommen war, wollte sie gar
nicht wissen.
Darüber empört, begann Mutter, mich zu trösten.
Zu meinem großen Pech war die verletzte Mitschülerin der
Liebling der Lehrerin. Die Eltern des Mädchens hatten nämlich
ein Lebensmittelgeschäft, und jeden Tag fiel etwas für die
Lehrerin ab: mal etwas Wurst, mal etwas Schokolade oder Kaffee. In diesen
Zeiten mußte man eine solche Beziehung pflegen, das wußte
die Lehrerin. Und so legte sie keinen Wert darauf, meine Begründungen
zu hören. Ich hatte keine Chance.

Das
bin ich als Schulkind etwa 1950. Ich besuchte die Karlschule in der
Dorotheestraße in Bonn.
Mutter suchte sich eine Putzstelle. Von ihrem ersten Geld bekam ich
neue Sandalen, zwei Nummern zu groß, damit sie noch im kommenden
Sommer paßten.
Mein nächstes Zeugnis war auffallend schlecht, und mit dem Vermerk
versehen: Luise ist bösartig und stört ständig
ihre Mitschülerinnen.
Mutter meinte nur, es kämen auch wieder andere Zeiten, und dann
würde auch mein Zeugnis wieder besser. Es blieb das schlechteste
Zeugnis meiner ganzen Schulzeit.
Aus: "Nachkriegs-Kinder",
Reihe ZEITGUT, Band 2.
[nach
oben]
[Berlin-Prenzlauer
Berg, damals DDR; 1955]
Meine
schönste Lernmotivation
Udo Wanke-Kreh
Die Grundschule
ging Mitte der fünfziger Jahre in der DDR von der ersten bis zur
achten Klasse. Danach entschied es sich, ob man eine Lehre begann oder
die Leistungen für die Mittelschule mit zehn Klassen oder für
die Erweiterte Oberschule mit zwölf Klassen und Abiturabschluß
ausreichten. Jungen und Mädchen wurden weitgehend in gemischten Klassen
unterrichtet. In meiner Grundschulklasse in Berlin waren 15 Jungen und
19 Mädchen.
Rückblickend
wäre ich in Dessau in der 5. Klasse garantiert sitzengeblieben. Meine
Chance, versetzt zu werden, tendierte gegen Null. Nach unserem Umzug nach
Berlin war mir das Glück gleich doppelt hold. Als Neuzugang bekam
ich die übliche Schonzeit, und zusätzlich begegnete mir, dem
elfjährigen Schüler, die schönste aller Lernmotivationen:
Sie hieß Fräulein Ludwig und war unsere Klassenlehrerin. Ein
Blick, und ich verliebte mich unsterblich in sie. Allerdings war ich nicht
der Einzige. Vom Abc-Schützen bis zum Schüler der 8. Klasse,
vom Hausmeister bis zum Direktor, allen war sie ein stiller Traum mit
blauschwarzem Bubikopf.
Ihre großen, dunklen Samtaugen glühten in verhaltener Leidenschaft,
verheißungsvoll, wie mir schien, und ihr Teint war von hellbraun
getönter, natürlicher Reinheit. Ihre ebenmäßigen
Gesichtszüge und ihr zauberhaftes Profil wirkten nicht langweilig
und dümmlich wie bei mancher Filmschauspielerin, sondern interessant,
intelligent, lebendig und ausdrucksvoll. Sie war schlank, jedoch keineswegs
dünn. Die zauberhaften Proportionen ihres Körpers kamen durch
enganliegende, hoch geschlossene, glänzende Kleider, die sie gern
trug, herrlich zur Geltung. Die Kleider reichten leider züchtig bis
über die Knie.
Ihre klare, engelhafte Stimme mit dem ihr eigenen Timbre war die reinste
Beglückung. Wenn sie mich aufrief, empfand ich das als Auszeichnung,
das Herz klopfte mir bis zum Hals, ich wurde rot und stumm, bis sich die
Spannung löste und ich schmachtend die Antwort säuselte.
Am Spätnachmittag und Abend traf ich viele Schulkameraden, die alle,
rein zufällig, gerade in der Straße flanierten, wo sie wohnte,
und verstohlen, voller Sehnsucht, zu ihrem Fenster aufschauten.
Ein schwerer Schock traf mich, als ich herausfand, daß sie einen
Freund mit Motorroller hatte. Doch meine Liebe war zu erhaben, um ihr
diesen Fehltritt nicht zu verzeihen. In den Schulpausen umringten wir
unser Herzensfräulein, fein gestaffelt nach Hackordnung. Detlef hatte
immer den besten Platz, ganz nah bei ihr. Er war zweimal sitzengeblieben
und der Klassenstärkste. Wie habe ich ihn beneidet, doch gegen ihn
hatte ich keine Chance.
Ein Alter hatte Fräulein Ludwig für uns nicht, sie war einfach
zeitlos schön und begehrenswert. Wer die Liebe kennt, wird verstehen,
daß Fräulein Ludwig für mich die schönste aller Lernmotivationen
war. Ich sagte mir, von einem Dummkopf will sie bestimmt nichts wissen.
Mein Notendurchschnitt verbesserte sich in der 6. Klasse von 3,5 auf 2,5
und wäre ohne Russisch noch besser ausgefallen. Russischunterricht
gab es ab der 5. Klasse.
Bedingt durch die politische Situation in Berlin, war Russisch für
die meisten Schüler ein Unfach. Alles, was in Ost-Berlin im Vergleich
mit West-Berlin schlecht abschnitt, wurde den Russen in die Schuhe geschoben.
Das haben uns die Russen eingebrockt, war eine gängige
Redensart. Deshalb war es bei uns Jungen geradezu verpönt, in Russisch
eine gute Note zu haben. Ein Befriedigend galt bereits als
sehr peinlich, ein Genügend wurde anerkannt und ein Ungenügend
das war die schlechteste Note in der DDR hatte zwar einen
hohen Imagewert, stellte aber ein unkalkulierbares Risiko dar. Es konnte
leicht zum Sitzenbleiben führen, wenn nicht alle anderen Noten Gut
bis Sehr gut waren. Bis zur 8. Klasse hielt ich mich, mit
Vorsagenlassen und Abschreiben, gerade so zwischen Genügend
und Ungenügend und schaffte im Zeugnis ein knappes Genügend.
In den großen Ferien, zwischen meinem sechsten und siebten. Schuljahr,
flüchtete unser Fräulein Ludwig in den Westen. Mit ihr verschwand
meine erste und einzige Lernmotivation seit meiner Einschulung. Das Ende
eines Schuljahres war für viele DDR-Lehrer der gängige Fluchtzeitpunkt.
Sie hatten dann keine Bedenken, ihre Klassen in Stich gelassen zu haben.
Aus: Udo
Wanke-Kreh, "Das erste Leben" Erinnerungen eines Nichtangepaßten
1947 - 1972, Sammlung der Zeitzeugen, Zeitgut Verlag 2003.
[nach oben]
[Berlin;1943]
Lateinische
Adverbien
Hasso Pacyna
Die nächtlichen
Fliegeralarme beherrschten das Leben. Wenn die Sirenen, auf und ab heulend,
ertönten, mußten wir Kinder schnellstens unser stets bereitstehendes
Notgepäck schnappen und in den Luftschutzkeller hinunter. Dabei hatten
wir die hintere Treppe zu benutzen. Wir eilten vorbei an Wassereimern
und Feuerpatschen, die auf jeder Etage standen. Auch Säcke mit Löschsand
lagen bereit. Das waren die vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen.
Fliegeralarm dauerte meist Stunden. Oft schliefen wir im Keller in fast
unmöglichen Lagen und quälten uns, wenn die Sirenen durch einen
langanhaltenden Dauerton Entwarnung gaben, wieder nach oben. Schnell krochen
wir in unsere Betten und schliefen weiter. Es gab Nächte, in denen
sich das Ganze ein- bis zweimal wiederholte. Daß wir wie gerädert
waren, wenn wir nun wirklich aufstehen sollten, hat niemanden verwundert.
Zwar fing der Unterricht nach solchen Alarmnächten später an,
aber sonst ging alles seinen fast normalen Gang.
Da die Treitschkeschule von Brandbomben getroffen worden und die Zahl
der Schüler durch private Landverschickung geringer als
normal war, wurde der Unterricht in eine andere Schule am Stadtpark verlagert.
Es könnte die Hindenburg-Schule gewesen sein. Zu dieser Zeit hatte
ich so meine Probleme mit dem Lernen. Besonders schwer fiel mir Latein.
Das war mir ein Greuel. Dr. Johannes Brücken, alias Bully, hatte
wahrlich keine Freude an mir. Einmal rief mich Bully in seinem typischen
Rheinländer Dialekt auf: Pattschina, Menneken, Menneken, komm
ens vör die Front! Häste ding Adverbie jeliert? Äh, wat
sachen isch, kannste ding Adverbie? Ze liere bruchste se net! Könne
mußte se!

Dr. Johannes
Brücken, dem wir den Spitznamen Bully gaben, beim Unterricht. Er
war bei meiner ersten Kinderlandverschickung unser Lagerleiter in St.
Joachimsthal, Erzgebirge.
Doch bei der Abfragerei kam nicht viel heraus, und Bully, ein durchaus
väterliches Exemplar von Pauker, geriet wieder einmal außer
sich. Sein ohnehin meist rotgefärbtes Gesicht wurde glühend,
sein Blutdruck stieg sichtlich, bis er schließlich platzte.
Zentgraf, schreibe mal auf! schrie er. Carl Zentgraf
war in unserer Klasse beauftragt, alle zu ahndenden Missetaten seiner
Kameraden zu notieren. De Pattschina bringt morje en Onderschriff
vun singem Vatter!
Zu mir: Pattschina, hol ens ding Kladde eruss!
Und dann wurde mir folgender Text diktiert: Ich lerne mit konstanter
Bosheit meine lateinischen Adverbien nicht!
Ziemlich bedrückt bat ich am Abend meinen Vater, seine Unterschrift
unter diesen Satz zu setzen. Er aber schüttelte den Kopf: Das
mache ich nicht, schließlich brauche ich keine Adverbien zu lernen!
Nun diktierte er mir eine Neufassung: Ich habe davon Kenntnis genommen,
daß mein Sohn Hasso mit konstanter Bosheit die lateinischen Adverbien
nicht lernt.
Diesen Text unterzeichnete er.
Als Bully am nächsten Tag nach der Unterschrift fragte, schmunzelte
er angesichts des abgeänderten Textes, sagte aber kein Wort. Zur
Strafe mußte ich die Adverbien auch noch sechsmal abschreiben. Das
war eine Mordsarbeit, die ich, Hefte waren damals knapp, auf einem riesigen,
fast tafelgroßen Packpapierbogen erledigte. Das änderte trotzdem
nichts daran, daß ich ständig mit Adverbien und dem Latein
auf Kriegsfuß stand und bei Dr. Brücken nie gut abschnitt.
Aus: Hasso
Pacyna, Ein deutscher Junge weint nicht, Sammlung der Zeitzeugen,
Zeitgut Verlag, Berlin 2003.
[nach oben]
[Oderberg*),
Mährisch-Schlesien; 19321938]
Oderberger
Gymnasialgeschichten
gesammelt von Ernst Swiderek
Das Pferdekinn
Wer könnte
ihn vergessen, unseren Englischlehrer Professor Dr. Karl Pohl?
Ich sehe ihn noch vor mir, meist sorgsam einen Schal um den Hals geschlungen,
leicht hüstelnd, aber von gutgetarnter robuster Gesundheit. Englisch
war für ihn mehr als ein Unterrichtsfach, es war fast eine Ersatzreligion.
Und Mister McCallum von Radio Wien, der dort eine Englischsendung für
Schüler betreute, war sein Prophet. Im Laufe der Zeit etablierte
sich eine feste Bindung zwischen dem Englischlehrer der RAVAG*) und unserer
Klasse. Die Korrespondenz florierte. Wiederholt wurden wir in den Sendungen
aus Wien lobend erwähnt. Das war jedesmal ein Festtag für Professor
Pohl. Als McCallum uns schließlich sein Foto mit Widmung schickte,
bekam der Radiomann den Rang eines Idols. In jeder Englischstunde lächelte
uns McCallum vom Katheder per Foto freundlich zu.
Doch nicht von unserem Äther-Flirt mit dem englischen Radiodozenten
soll hier die Rede sein, sondern von einem in der Geschichte des Englischunterrichtes
wohl einmaligen Experiment. Ausgangspunkt war der sogenannte but-Laut,
jenes dunkel eingefärbte phonetische Mittelding zwischen a und e,
wie es im englischen Wort but (= aber) vorkommt. Laut Pohl
konnte man diesen Laut einwandfrei nur hervorbringen, wenn man ein Pferdekinn
besaß. Da solche Kinnpartien in Mitteleuropa selten seien, meinte
er, müsse man eben versuchen, wenigstens Annäherungswerte an
diese anatomische Besonderheit vieler Engländer zu erreichen. Zu
diesem Zweck erfand Professor Pohl eine wohlausgeklügelte Kinn-Gymnastik.
Im Kern bestand sie darin, Kinn und Unterkiefer in kurzen Intervallen
ruckartig, eigentlich fast schon krampfartig vorwärts und rückwärts
zu bewegen.
Ob sich Knochen, Sehnen und Muskeln durch so eine Übung wirklich
verändern lassen, ist sicher mehr als zweifelhaft Pohl glaubte
daran. Und deshalb begann ab sofort jede Englischstunde bei uns mit fünf
Minuten Kinn-Gymnastik heute würde man sagen: eine Art Aerobic
des Unterkiefers. Hingebungsvoll und völlig lautlos widmeten wir
uns dieser Gymnastik. Oben auf dem Katheder betätigte sich Pohl ebenso
lautlos als Vorturner der Kinnmuskulaturübungen. Allmählich
war uns die Prozedur so vertraut, daß wir sie ganz mechanisch ausführten.
Eines Morgens öffnete sich unvermutet die Tür des Klassenzimmers.
Im Türrahmen stand Direktor Günzl. Wie immer in solchen Situationen
blickten alle, der Professor eingeschlossen, in einem kollektiven Reflex
zur Tür. Und niemandem fiel es ein, mit der Kinngymnastik aufzuhören.
Direktor Günzl sah deshalb annähernd 30 Schüler und einen
Lehrer, die ihm in gespenstischer Lautlosigkeit mit rhythmischem
Schwung den Unterkiefer entgegenstreckten.
Was damals im Geiste unseres Direktors vorgegangen sein mag, kann man
nur ahnen. Vermutlich glaubte er, in eine Irrenanstalt geraten zu sein.
Wortlos retirierte er vor der Phalanx der vorwärtsschnellenden Kinnbacken.
Wenige Minuten später kam Schuldiener Peter mit der Nachricht, Professor
Pohl möge sich doch bitte zum Herrn Direktor begeben. Den Inhalt
des Gesprächs zwischen den Herren Günzl und Pohl haben wir nie
erfahren. Danach war es aber aus mit der Kinn-Gymnastik. Eigentlich schade!
Vielleicht hätte der eine oder andere von uns im Laufe der Zeit wirklich
ein Pferdekinn bekommen?
alle Fotos:
Zeitgut-Archiv
[nach oben]
|