Bonn;
um 1950
Unter
der Laterne
Clemens Kugelmeier
Im Rheinland
sind die Martinszüge ein schöner alter Brauch erst
recht in jener Metropole Bonn, deren Münsterkirche Sankt Martin
geweiht ist. Diese Veranstaltungen bieten insbesondere den Schulen
Gelegenheit, ihr Image zu zeigen, und zwar mit allerlei
Dekor, der im Martinsgang mitgeführt wird: bunten Laternen, kunstvoll
gebastelten Figuren, prachtvollen Ornamenten. Das Prunkstück
des Martinszuges in Bonn war in diesem Jahr ein von vier Schülern
getragenes, aus Pappe gefertigtes und von innen beleuchtetes Bonner
Münster.
Natürlich
rechneten es sich die Schulleiter und Lehrer zur Ehre an, im Zug mitzumarschieren.
So auch der Leiter des renommierten Bonner Beethoven-Gymnasiums, Oberstudiendirektor
Schümmer. Stolz schritt er seinen Schülern voran, eskortiert
von seinem Stellvertreter und einigen Studienräten. Hinter ihm
gingen als erste seine Primaner, alle gestandene Pennäler.
Nun zeichnete
den Herrn Oberstudiendirektor Schümmer eine Gewohnheit aus, die
Aufmerksamkeit erregte: Er hatte einen vorwärtsgebeugten, fast
trottenden Gang, wobei er bei jedem Schritt jeweils ein Bein nachzog.
Diese Gangart nun ahmten seine Schüler nach. Da er ihnen voranschritt,
bemerkte er es nicht. Solche Imitation war nicht von der feinen Art,
doch die Bonner Bürger standen auf den Gehwegen und lächelten.
Sie empfanden die Demonstration durchaus nicht als respektlos, vielmehr
zeigte sie ihnen, bis in welche Tiefen das große Vorbild Schümmer
auf seine Schüler gewirkt hatte und zwar auf eine sympathische
Weise. Es war auch eine Form des rheinischen Humors.
Der krönende Glanzpunkt dieser Parade war jedoch
ein Gag, den sich die Pennäler zusätzlich ausgedacht hatten.
Einer von ihnen, der in der ersten Reihe ging, hielt eine lange Angelrute,
und an dieser Gerte hing ein kleines Lämpchen, batteriebetrieben.
Diese Laterne hielt der Jüngling so, daß sie über
dem Haupt des Direx schaukelte.
Auch
dies bemerkte der Schulmonarch nicht, der ahnungslos unter der Laterne
trottete. Doch die Bonner tuschelten mit Respekt: Seht mal da:
eine so kleine Lampe über einem so großen Licht!
Oberstudiendirektor
Carl Schümmer regierte das Beethoven-Gymnasium von
1945 bis 1952.
"...
dat möt eijentlich klappen"
Hannelore Siegel
Sprachschwierigkeiten
hatte ich mit meinem neuen Chef keine, denn Bundeskanzler Konrad Adenauer
kam genau wie ich aus Köln. Er war ein Mensch, der mit rheinischer
Fröhlichkeit und dem ihm eigenen Humor vieles locker nahm. Als
im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes eine Sekretariatsstelle frei geworden
war, ergriff ich die einmalige Chance und bewarb mich. Und ich sollte
es nicht bereuen. Ich war 29 Jahre jung und hatte bis dahin im Auswärtigen
Amt gearbeitet.
Die Verständigung zwischen meinem neuen Chef und mir klappte
auf Anhieb. "Ich bin ne kölsche Jung, und Sie sin a kölsch
Mädchen, dat möt eijentlich klappen", sagte Adenauer
schmunzelnd zu mir, als ich mich vorstellte. Ich solle mich nicht
einschüchtern lassen, wenn ein "hohes Tier" aus Politik,
Wirtschaft oder Kirche ins Kanzleramt käme, was häufig der
Fall sein würde. "Lassen Sie sich nicht verrückt machen,
bei uns bleibt es immer ruhig!" riet er mir.
Ich freute mich sehr, als mir Konrad Adenauer beim Abschied
aus seinem Amt als Bundeskanzler im Oktober 1963 eine
persönliche Widmung schenkte.
Und so
war es auch. Typisch für Konrad Adenauer war, daß er seine
Leute gerne neckte. So meinte er zu mir:
"Frollein Siegel, Sie können schreiben, wat Se wollen, bevor
Sie aber den Sinn ändern, fragen Sie mich!"
Seine philosophischen Lebensweisheiten, von denen er viele auf Lager
hatte, höre ich noch heute. Wie zum Beispiel: "Man muß
de Lück nemme, wie sie sind, et jit keen andere." Als ein
bekannter Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet verstorben war
und ich davon ausging, daß wegen der Beerdigung der Terminplan
des Bundeskanzlers geändert werden müsse, sah mich Adenauer
nachdenklich an und meinte: "Och nee, der kommt auch nicht zu
meiner."
Ich war schon gar nicht mehr überrascht, das war typisch für
ihn.
Ferien ohne Arbeit gab es bei Konrad Adenauer nicht. Das ganze Team,
so auch Chefsekretärin Anneliese Poppinga und natürlich
auch ich, begleitete ihn in sein italienisches Domizil, die Villa
La Collina in Cadenabbia am Comer See. Eine angenehme Unterbrechung
der Arbeitsstunden war sein geliebtes Bocciaspiel. Wir bildeten zwei
Parteien, ich spielte mit einer der Adenauer-Töchter gegen den
Vater und gegen Anneliese Poppinga. Allerdings gab es immer ein Problem:
Der Bundeskanzler, Erfolg in der Politik gewohnt, verlor beim Bocciaspiel
höchst ungern. Er war richtig sauer, wenn "seine Partei"
unterlag. Hatte sie gewonnen, war er bester Stimmung. Deswegen ließen
wir ihn so gut wie immer gewinnen, das war unser aller Vorteil.
Beim Bocciaspiel überlegte ich immer, wie die Kugel laufen
sollte,
damit die "Partei" des Kanzlers gewann.
Den Feierabend
in Cadenabbia verbrachten wir in der "Gruft", einem dunklen,
kühlen Raum. Bonn war weit weg und der Kanzler konnte sich seinen
Kriminalromanen, die er so liebte, besonders die der englischen Schriftstellerin
Agatha Christie, widmen. Ich mußte ihm daraus vorlesen.
Irgendwann nickte er dann ein, oder er sagte: "Jut, jut Frollein
Siegel, hjör'n Sie auf."
Ich arbeitete bis zu seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Oktober
1963 mit Konrad Adenauer zusammen. Danach ging ich zurück ins
Auswärtige Amt.
Im Mai 1966 begegnete ich Adenauer während seines privaten, aber
hochpolitischen Israelbesuches noch einmal. Ich war für das Auswärtige
Amt in der Deutschen Botschaft unter dem ersten deutschen Botschafter,
Rolf Pauls, in Tel Aviv tätig und durfte Adenauer während
seiner gesamten Israelreise begleiten. Das sollte das letzte Mal gewesen
sein, daß ich mit ihm zusammengearbeitet habe. Für mich
sind das unvergessene Erinnerungen an einen bedeutenden Mann und großen
Politiker
Als
das ZDF in Bonn laufen lernte
Fides Krause-Brewer
Wir hatten
alle keinerlei Erfahrung, wie man als Journalist "Fernsehen macht",
damals im Sommer 1962, als das "neugeborene" Zweite Deutsche
Fernsehen mit Hauptsitz in Mainz eine ganze Reihe von Kollegen vom
Rundfunk, von Zeitungen und Zeitschriften abwarb - so auch hier für
das Studio Bonn in der damaligen Bundeshauptstadt. Vielleicht erinnert
sich noch so mancher an Gerhard Dambmann, Wolf Dietrich, Rudolf Woller
und auch an mich, die ich bis dahin zehn Jahre als Freie für
mehrere Rundfunkanstalten gearbeitet hatte.
Vom Fernsehen hatten wir alle nicht die blasseste Ahnung, und meine
Bitte an Herrn Westermann, der die Einstellungen vornahm, doch wenigstens
mal eine Kameraprobe zu machen - "Sie wissen doch gar nicht,
wie ich auf dem Bildschirm aussehe!" wischte er souverän
beiseite: "Ihr macht das schon!"
So begann im Herbst 1962 meine TV-Karriere.
Unser "Studio" im Regierungsviertel lag in der Oelbergstraße,
nur ein Fußweg entfernt vom Bundeshaus. Aus einer gemütlichen
Villa mit anderthalb Stockwerken wurde ein Studio. Sie mußte
zunächst total unterminiert werden, um die Technik im neuen Kellergeschoß
unterzubringen. Im Parterre hatte man aus den ehemaligen Wohnräumen
alle entbehrlichen tragenden Wände herausgerissen, und so wurde
Anno 1962 ein Studio daraus, rückblickend ein echtes Pionierstudio.
Im Dachgeschoß mit lauter Schrägen residierten unser Studioleiter
Rudolf Woller und sein Stellvertreter Gerd Schoers in je einem kleinen
Büro und Karl-Heinz Schwab im sogenannten Dichterstübchen,
dem ehemaligen Bad. In einem geräumigen Dachzimmer waren die
Redakteure Klaus Altmann, Robert Stengl, unsere Redaktionsassistentin
Ria Ley und ich untergebracht. In der ehemaligen Vorratskammer tickerte
der Fernschreiber, die Türe mußte geöffnet bleiben,
weil es hier kein Fenster gab.
So zu arbeiten war zwar ungemein kommunikativ, doch man mußte
schon ein Meister der Konzentration sein, um unter diesen Umständen
etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen. Doch wir fühlten
uns als echte Pioniere, lernten den TV-Journalismus mit Bild im "on"
und "off", übten, wie man spricht, nicht zu schnell
und nicht zu langsam. Hinzu kam für uns die neue Technik, denn
in einem Schneideraum hatte noch niemand von uns gearbeitet. Dort
hat uns unsere liebe Frau Elfriede Manns mit ihrer großen Erfahrung
den Umgang mit Filmmaterial beigebracht, sie hatte ihren Beruf als
Cutterin von der Pike auf gelernt. Doch sie saß in der Parallelstraße,
der Langenbachstraße, wo die ehemaligen Kinderzimmer und das
Elternschlafzimmer in einem ehemaligen Einfamilienhaus zu Schneideräumen
avanciert waren, das Wohnzimmer mit Kamin den Kameraleuten als Aufenthaltsraum
diente, in der fertiginstallierten Küche noch abends spät
eifrig gebrutzelt wurde.
Unser Grafiker, Werner Götzinger, zeichnete im Dachstübchen
Bilder für Erklärstücke, und unser Archiv im Speicherraum
leitete Egon Ludwig. Das Kopierwerk befand sich jenseits der Straßenbahnschienen
in der Adenauerallee, so daß die Produktionszeit oft ziemlich
lang war. Eilige Fußmärsche zwischen Oelberg- und Langenbachstraße
und dem Kopierwerk bei Wind und Wetter förderten die Gesundheit
aller.
Ab Herbst 1962 wurde zunächst nur geprobt, denn die meisten von
uns hatten noch nie vor einer Kamera gestanden, geschweige denn wußten
wir, wie ein Drehbuch geschrieben wird. Um Interviews zu üben,
luden wir möglichst unbekannte Hinterbänkler aus dem Bundestag
ein und machten mit ihnen für die "Blindenanstalt",
wie wir das nannten, Interviews unter der Vorspiegelung, sie würden,
wenn wir erst einmal senden, bevorzugt auf den Schirm kommen - was
natürlich nie geschah.
Ich bin auf Sendung im neuen Hauptstadtstudio. Vieles
war bei unserem Start Anfang der 60er Jahre noch
provisorisch im Fernsehstudio Bonn des ZDF in der
Oelbergstraße, unweit vom Bundeshaus.
Provisorium
war in jeder Hinsicht großgeschrieben. Echte Kulissen oder auch
gar einen Hintergrund hatten wir nicht. Als der Sendebetrieb am 1.
April 1963 begann, wurden Kommentare und Gespräche im Studio
vor einer Wand aus einer Art Butterbrotpapier, das mit je einem Besenstil
oben und unten befestigt war, gedreht.
Besonders nervenaufreibend war es, wenn es zum Beispiel um ein Ereignis
am Nachmittag im Bundeswirtschaftsministerium ging. Der Rush-Hour-Stau
reichte von der Kaserne in Duisdorf bis zum Studio. Studioleiter Woller
mietete dann furchtlose Motorradfahrer im roten Lederoutfit, die das
Film- und Tonmaterial durch alle Staus ins Kopierwerk transportieren
mußten. Kein Wunder, daß Pannen nicht ausblieben. Denn
vom Kopierwerk mußte das Material in die Schneideräume,
wieder ein Weg über die Straßenbahngleise auf die andere
Straßenseite, gebracht werden.
So hatte ich einmal mit dem damaligen Präsidenten der Deutschen
Bundesbank, Karl Blessing, ein langes Interview gemacht - mit zwei
Kameras. Das ergab zwei Filmrollen. Das Unglück wollte es, daß
einer Cutterin der gesamte Film von einer der Rollen durch die Hände
bis auf den Boden fiel. Jeder, der einmal in einem Schneideraum gesessen
hat, weiß um diese Katastrophe. Mit vereinten Kräften machten
wir uns daran, zusammenzuflicken, was vertretbar war, denn wir konnten
ja ein 10-Minuten-Interview nicht nur mit der Totale senden. Weil
wir bei der Notflickerei Negativ und Positiv mischen mußten,
hatte der Präsident den Scheitel einmal rechts, einmal links.
Die Pionierzeit ging erst zu Ende, als das ZDF mit allen Abteilungen
ein neues Gebäude am Langen Grabenweg zwischen Bonn und Bad Godesberg
im Ortsteil Friesdorf erhielt. Das Richtfest war am 18. Juli 1967,
und am 5. April 1968 übergab der damalige Bundestagspräsident
Dr. Eugen Gerstenmaier das neue ZDF-Gebäude seiner Bestimmung.
Wegen der langgezogenen Fenster und der imposanten Fassade bekam es
den Spitznamen "Reiches Kanzlei", frei nach dem damals neuen
Studioleiter Hans Joachim Reiche. Die schönen alten Zeiten mit
ihren Provisorien und riskanten Produktionsbedingungen, die im Grunde
bei aller Angst, es könne etwas schiefgehen, aufregend, anregend
und kreativ waren, wandelten sich zu einer neuen Ära.
Eine schwarze Zugfahrt
Dorothea F. Voigtländer
Die Zinkwanne
war 1947 fast das wichtigste Utensil in einer kinderreichen Familie.
Wie sollte man sechs Kinder baden, wie den Kartoffelsalat für
14 Personen vorbereiten, womit sollte man die Eierkohlen klauen?
Ja, klauen. Denn immer, wenn die Züge mit den Eierkohlen kamen,
heulte die Zugsirene schon von weitem. Wir wohnten in der Nähe
des Bonner Bahnhofes, in der Niebuhrstraße, unsere Bahnschranke
war - und ist dort heute noch - an der Arndtstraße. Der Zug,
damals von einer Dampflok betrieben, hatte noch keine Einfahrt in
den Bonner Hauptbahnhof. Sobald die Zugsirene heulte, sah man sie
rennen: aus allen Haustüren und Kellerlöchern kamen sie,
die Alten und die Jungen, die Frauen mit ihren nach oben gebundenen
Kopftüchern gegen den ewigen Staub, die Kinder in ausgewachsenen
oder viel zu großen Kleidungsstücken, alle mit Eimern und
die meisten mit eben jenen Zinkwannen. Ohne sie ging nichts.
Die Kinder wurden auf die stehenden Züge an der Bahnschranke
hinaufgehoben, fest krallten sich die kleinen Hände in die Eierkohlen,
mit den Füßen hangelten sie sich in den Kohlen fest. Die
jungen Erwachsenen versuchten sogar, auf die Trittbretter der langsam
fahrenden Züge zu springen. Die Bahnschranken waren geschlossen,
doch das war kein Hindernis. Die Besatzer, in Bonn waren es die Briten,
sahen weg, denn der Januar 1947 war der härteste Winter seit
Jahrzehnten. Der Rhein war zugefroren, Wärme war fast noch wichtiger
als Essen. Von beidem gab es zu wenig.
Zwischen den Bäumen im Hofgarten, im Gestrüpp auf dem Venusberg,
im nahen Wald, genannt Kottenforst und Siebengebirge, zogen ganze
Familien mit Kindern umher, um Holz für die Öfen zu ergattern.
Das war zwar verboten, aber es mußte sein. Später erfuhr
man, daß zwischen dem 19. Dezember 1946 und dem 11. Januar 1947
allein auf dem Werftgelände in Graurheindorf 784 Tonnen Briketts
aus Eisenbahnwaggons gestohlen worden waren. Die Bonner Parkanlagen
nannte man später "entholzt".
Beim ersten Pfeifen eines Zuges trieb es auch unsere Familie hinaus
an die Bahnschranke an der Arndtstraße. Nur rasch hinauf auf
die Kohlenwagen!
Kräftige Arme hievten uns Kinder hinauf auf die wackeligen Eierkohlen.
Eiligst warfen wir dann die Kohlen hinunter, die von den Großen
in die Zinkwannen gefüllt wurden. Schnell, schnell, denn der
Zug fuhr gleich weiter!
Schwarzer Rauch legte sich über die Kaiserstraße, wenn
die Dampflokomotive wieder anfuhr. Ein leichter Ruck - doch diesmal
fuhr der Zug nicht Richtung Bonner Bahnhof wie sonst, sondern zurück!
Man hatte vorne umrangiert. Keiner von uns hatte das bemerkt. In Windeseile
sprangen die kleinen und größeren Kohlendiebe von den hohen
Waggons hinunter. Doch der Zug hatte schon zuviel Geschwindigkeit,
als daß ich noch hinunterrutschen konnte. Ich hatte Angst. Darum
legte ich mich flach auf die Kohlen, doch zu meinem Entsetzen rutschte
ich noch weiter an den Rand des Waggons. Dann lag ich endlich fest.
Der Zug fuhr weiter, unter der Reuterbrücke hindurch, am Südfriedhof
vorbei. Jetzt kam der Bad Godesberger Bahnhof, dann der Bahnhof Mehlem,
und immer noch hielt der Zug nicht an. Weiter ging die unfreiwillige
Reise am Rhein entlang bis zum Bahnhof Rolandseck. Die Fahrt schien
kein Ende zu nehmen. Die Luft war frostkalt. Meine Hände auch,
meine Zöpfe waren aufgegangen, und die Haare wehten mir wirr
um den Kopf.
Endlich hielt der Zug an, doch ich krallte mich angsterstarrt weiter
fest. Plötzlich stand auf dem Bahnsteig vom Bahnhof Rolandseck
ein Soldat vor mir und schrie: "Mais c'est une petite fille!"
(Aber das ist ja ein kleines Mädchen!)
Ich war in der französischen Zone gelandet.
Die französischen Soldaten holten mich lachend vom Zug, nannten
mich "la petite noire", die "kleine Schwarze",
denn die Kohlen hatten meine Kleider und mein Gesicht dunkel verfärbt.
Die französischen Soldaten waren sehr freundlich zu mir, sie
trugen mich ins Bahnhofgebäude und fütterten mich mit weißem
Brot. Ein Genuß. Der heiße Kaffee mit Milch war herrlich.
Der erste in meinem Leben. Guter Bohnenkaffee, hätte Oma gesagt.
Die Franzosen steckten mir eine große Tüte Kaffeebohnen
in die Schürzentasche. Dann wurde ich mit einem Jeep zurück
in Richtung Bonn in die nahe englische Zone gefahren. Umsteigen in
einen britischen Jeep. Es war mir völlig egal, als die englischen
Soldaten angewidert von dem kleinen schwarzen Ungeheuer wegrutschten.
Endlich zu Hause in der Niebuhrstraße angekommen, atmeten alle
Familienmitglieder und Nachbarn auf, denn alle hatten gesehen, wie
ich mit dem Zug in Richtung Süden davongefahren war. Trotzdem
bekam ich eine saftige Ohrfeige für die Aufregung in der Familie.
Dann umarmten und küßten mich alle vor Erleichterung. Ein
glückliches Aufseufzen von Oma, als sie die Kaffeebohnen in meiner
Schürzentasche zählte. Nun wurde die mittlerweile blankgescheuerte
Zinkwanne mit heißem Wasser gefüllt. Wasser und Kernseife
zauberten wieder ein halbwegs normales Kind hervor. Die nächsten
Tage waren gerettet. Mit Kohle und Kaffee.
Es war die abenteuerlichste Zugfahrt meines Lebens. Wenn ich sie gegenüber
meinen Enkelkindern erwähne, johlen sie immer vor Vergnügen.
"Oma, erzähl doch nochmal von deiner Kohlenfahrt!"
oder "Wie war das eigentlich früher?"
Und dann kommen die Erinnerungen wieder.
[nach
oben]