Leseprobe

Sei tausendmal gegrüßt
Feldpostbriefe 1937-1945

184 Seiten, Abbildungen, gebunden
Zeitgut Spezial
ISBN: 978-3-933336-20-0
Euro 18,90

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[im Westen, 9. März 1945]

Mein Goldschatz,

jetzt habe ich Dich mal einige Tage warten lassen. Aber mach Dir keine Gedanken, jetzt habe ich wieder Zeit [...] Ich möchte Dir ja immer und immer wieder sagen, mach Dir um mich keine Gedanken. Ich habe Dir das oft genug gesagt und auch vieles erklärt. Aber kannst Du mich verstehen, wenn ich mich um Euch sorge. Ihr wohnt so dicht am Bahnhof. Und denen, diesen Gangstern, ist ja der kleinste Bahnhof nicht mehr heilig genug. Ich grüße Dich Irene, auch wenn Berlin fällt, brauchen wir niemals ein schreckliches Ende zu erwarten. Das hat gar nichts zu sagen. Nach dem Siegestaumel der anderen wird eines Tages der Sieg, der heute schier unglaublich geworden ist, von uns ins Land getragen werden. Es gilt jetzt erst mal die Flut aufzuhalten. Und das andere ist bereits im Rollen. Es wird weiter rollen, der Sommer und der Herbst wird uns die Ernte bringen. Mein Schatz, Kopf hoch, jeden Pfennig gespart und glaube mir, ich tue es ja auch. So wie ich an Dich glaube, so glaube ich an unseren Sieg, an unsere Zukunft und an unser Glück. So wie die anderen uns jetzt zu überfluten gedenken, da werden sie eines Tages feststellen müssen, daß sie überrannt worden sind. Glaubst Du Irene, ich würde so zuversichtlich sein, wenn ich nicht wüßte, nicht ich allein, daß in unseren höchsten Stellen noch eine Waffe ruht, die im entscheidenden Moment entgegengesetzt wird. Es scheint etwas ganz Neues zu sein. Vielleicht eine Wunderwaffe. Auf jeden Fall wäre es ein Wunder, wenn sie noch zur rechten Zeit eingesetzt würde. Und wir wären aus allem Schlamassel heraus. Das ist meine und das ist unsere Hoffnung.

Mein Schatz, mach’s gut, ich küsse Dich und ich umarme Dich und ich behalte Dich immer lieb.


[Lauterbach, 24. März 1945]

Mein lieber Schatz,

werde ich morgen noch an Dich schreiben können? Von Stunde zu Stunde wird es trostloser um uns. Wir haben unseren guten Glauben aufgegeben, daß es zu einer Gegenoffensive kommt. Der Anglo-Amerikaner ist schon zu tief in Deutschland eingedrungen. Weißt Du, wir alle hoffen und wünschen uns, daß bloß kein Gegenangriff unsererseits erfolgt, dann hätten wir den totalen Krieg. Nicht nur aus der Luft, noch viel schlimmer würde der Kampf im deutschen Land ausgetragen werden.

Nein, sage ich, unsere Soldaten mögen sich ergeben. Laßt die Feinde einmarschieren, um dem Schrecken einen Riegel vorzuschieben, es ist aus. Mein lieber Mann, wie denkst Du, wo wirst Du sein? Das ist die einzige Frage, die in meinem Kopf hin und her schwirrt. Papa geht noch aufs Amt. Gestern wurde er in der Höhe von Villa Dürbek gezwungen, hinter einem der dicken Mauerpfosten Schutz zu suchen. Er kam gerade von zu Hause und wollte zum Südbahnhof aufs Amt. Mit Bomben griffen sie den Güterbahnhof an. Die Fingersche Papiermühle, dort eine Tote, ein Blindgänger, genau über der Straße in den Straßengraben. Papa kam mit dem Schrecken davon. Wäre dieser Blindgänger krepiert, nicht auszudenken.

Ich schreibe Dir im Glauben, daß Dich die Feldpost noch erreicht. Ich will und kann noch nicht aufgeben. Wir denken viel an Hildegard. Wo wird sie sein? Gelnhausen ist bestimmt von den Amerikanern schon besetzt, oder sie stehen dicht vor der Stadt. Wir sind ganz durcheinander. Mutti und den Kindern geht es gut. Kein Schnupfen, kein Husten, nur Deine Mui kämpft mit der Erkältung. Wenn ich nicht den guten Hustensaft hätte, oh weh, arme Mui. Aber auch heiße Kartoffeln müssen mithelfen. Mein lieber, mein guter Schatz, ich sage Dir heute Lebewohl, wir müssen uns wiedersehen, uns darf doch die Vorsehung nicht auseinanderreißen. Wir haben uns doch so lieb.

Deine Irene mit den Kindern



Herbst 1944: Irene Gucking mit ihren beiden Kindern, die während des Krieges geboren wurden.


[Lauterbach, 16. November 1999]

Mein lieber Schatz,

ich muß Dir wieder einmal schreiben. Es ist Mitternacht, schlafen kann ich nicht. Orpheus müßte schon längst hier gewesen sein. Du siehst, auf die Götter ist auch kein Verlaß.

Ja, mein lieber Schatz, wie sehr wünschte ich mir, Du könntest sehen, was ich mit unseren Briefen gemacht habe. Etwa 1600 Briefe lagen in der großen Schublade, weißt Du, in Omas Kommode. Es könnten noch etwa 200 mehr sein, wenn sie nicht durch Feindeinwirkung verlorengegangen wären. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du mich verstanden hättest, als ich mit dieser Arbeit begonnen habe. Aber ich konnte nicht anders. Ganz spontan durchzuckten Gedanken meinen Kopf. Es waren Gedanken, die mich nicht mehr losließen. Aus diesen Briefen mußte und wollte ich etwas machen. Dir, mein Schatz, wollte ich ein geistiges Denkmal setzen. Und das ist mir während der letzten dreieinhalb Jahre gelungen. Jeder Brief war ein Baustein aus unserer jungen Zeit, Stein auf Stein. Ich habe es aber geschafft, dieses Werk, so nenne ich es. Es beschrieb das Auf und Ab unseres gemeinsamen Lebensweges, und wie oft hatten wir das Glück auf unserer Seite, und wir waren immer glücklich. Weißt Du, Glück und glücklich sein ist nicht ein und dasselbe. Du weißt, mein Schatz, was ich damit sagen will.

Mein Lieber, in meinen Gedanken bin ich immer bei Dir. Ganz besonders vor dem Schlafengehen oder wenn ich einschlafen möchte. Ich erlebe unsere gemeinsame Zeit. Ich bin so nahe bei Dir. Wir sind beide so jung. Ich kann es nicht glauben. Waren wir die Darsteller in diesem Werk? Waren wir so jung? Waren wir das, was aus unseren Briefen heute zu uns spricht? Hatten wir zwei so kleine Kinder, die immer im Mittelpunkt unseres jungen Lebens standen? Die gesund und lebensfroh in ihr Leben schritten. Waren wir die Eltern unserer beiden goldigen Kinder?

Wenn ich dann aus meinen Jugendträumen erwache, dann ist es mir, ein ganz, ganz kleiner Augenblick ist es nur, und die Wirklichkeit hat mich wieder eingeholt und mir wird sehr deutlich, daß ich 84 Jahre habe. Die kurze Zeit, die mich in der Vergangenheit leben ließ, war so schön, so beglückend, das wollte ich mit diesem Brief sagen. Mit wem könnte ich auch reden, nur mit Dir, gell, mein Schatz, Du verstehst mich. Schau mal, eben oben das Fragezeichen. Es verwässerte sich, ich mußte mal eine Pause machen, sonst wären mehr Kleckse aufs Papier gefallen. Ich will, ich weiß, ich muß tapfer bleiben, ich will doch das Werk fertig erleben, und jetzt klingelt das Telefon. Wer will aber mit mir sprechen? Wer könnte das sein? Also, ganz schnell ein Küßchen auf Deinen Mund, ich bin nur bei Dir. Ich schreibe Dir bald wieder.

Deine immerzu an Dich denkende Irene

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