Leseprobe

Peter C. Lenke
Berlin - erlebt im Zeitenwandel
Erinnerungen aus dem Berliner Westen
1933-1974

288 Seiten, Fotos, Broschiert
Sammlung der Zeitzeugen (67)
Zeitgut Verlag, Berlin
ISBN 978-3-86614-142-1
EURO 16,80


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Die goldenen 50er Jahre in Dahlem (1950–1955)

Die erste Nachkriegswohnung – klein aber fein
Bevor wir in unsere neue Wohnung in der Dahlemer Ihnestraße einziehen konnten, mussten wir uns erst einmal überlegen, wie wir die Zimmer nutzen und einrichten könnten. 68 Quadratmeter im ausgebauten Dachgeschoss mit eigenem gekacheltem, wenn auch winzigem Bad und ebensolcher Küche! Uns schien das wie ein Paradies nach den fünf Jahren in der Notunterkunft. Diese Wohnungsgröße, die heute ein Single für sich allein beanspruchen würde, war damals gängiger Standard und wurde uns für vier Personen zugewiesen. Zu viele Häuser waren noch zerstört, und die Schaffung neuen Wohnraums durch Neu- und Wiederaufbau konnte mit der Nachfrage, die Flüchtlinge und Vertriebene noch steigerten, kaum Schritt halten. Die Möbelindustrie stellte sich darauf ein, dass die Menschen vorwiegend in kleinen oder Kleinraumwohnungen lebten, und produzierte in erster Linie Mehrzweck- und Verwandlungsmöbel, die sich mit wenigen Handgriffen von der Couch in ein Bett oder vom Couchtisch in einen ausziehbaren Esstisch verwandeln ließen.
Zweieinhalb Zimmer für uns drei erwachsene Personen, wobei jeder sein eigenes Schlafzimmer haben und es tagsüber trotzdem wohnlich sein sollte! Da konnten wir mit unseren Eisenbettstellen aus dem Luftschutzkeller wenig anfangen. Zwar hatten wir diese in der Berliner Straße auch schon zu Sofas umfunktioniert, indem wir die Stahlfederrahmen einfach auf Holzklötze stellten, doch war das eine sehr wackelige Angelegenheit. Es mussten also vor dem Einzug auch derartige Verwandlungsmöbel gekauft werden, was dank der Nachzahlung, die meine Mutter auf ihre Pension erhalten hatte, wenigstens kein finanzielles Problem darstellte. So fuhren sie und ich nachmittags verschiedene Male zu den großen Möbelhäusern, die sich alle in der Gegend um den Nollendorfplatz etabliert hatten, und sahen uns dort um.

... Inspiriert und motiviert von dem Wechsel in unsere neue Wohnung und von der schönen, uns von früher wohlbekannten Umgebung übersahen wir gern die Unzulänglichkeiten unserer ersten Einrichtung und überlegten schon, wie wir sie in Zukunft noch verbessern könnten. Wir genossen es, nun endlich Herr in unserer eigenen kleinen Wohnung zu sein und freuten uns, dass sogar ein kleines Stückchen Garten zu dieser Wohnung gehörte. Zwar war unser neues Zuhause bei weitem nicht mit dem zu vergleichen, was wir durch den Bombenkrieg verloren hatten, aber unser kleines Reich erinnerte doch ganz entfernt ein wenig daran. Wir waren nach allem, was wir erlebt hatten, bescheiden geworden und dankbar für jede noch so kleine Verbesserung unseres Alltags. Viele Menschen in Westberlin müssen zu Beginn der fünfziger Jahre wohl von ähnlichen Gefühlen durchdrungen gewesen sein, denn es herrschte – nachdem die erste Nachkriegszeit, das Blockadejahr und die Unsicherheiten der Währungsreform seit gut einem Jahr hinter uns lagen – überall eine von Elan getragene hoffnungsvolle Aufbruchstimmung. Trümmer und Baulücken verschwanden nach und nach und wurden durch wiederhergestellte oder neue Gebäude ersetzt.

Inzwischen hatte Ulrich durch Vermittlung von Onkel Rudolf eine bessere Stellung gefunden und war nicht mehr bei der kleinen Firma Christian Stark in Zehlendorf – einem typischen Gebilde der Nachkriegszeit – tätig. Er hatte nun eine Position mit besseren Zukunftsaussichten in der Bilanzbuchhaltung der Heliowatt-Werke, einem Unternehmen, das Stromzähler und Radios herstellte. Es hatte seinen Sitz in der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg. Ich ging indessen weiterhin auf die Rheingau-Oberschule in Friedenau und hatte mich längst an den langen Schulweg gewöhnt. Solange die Schule noch in ihrem Ausweichquartier untergebracht war, fuhr ich entweder mit der U-Bahn oder bei schönem Wetter mit dem Rad dorthin. Als die Kriegsschäden an dem ursprünglichen Schulgebäude beseitigt waren und der Unterricht wieder dort stattfand, benutzte ich den Bus oder so oft wie möglich auch das Fahrrad. Es war damals noch möglich, den Straßenzug Unter den Eichen – Schlossstraße – Rheinstraße mit dem Fahrrad als gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer gefahrlos neben dem übrigen Verkehr zu benutzen. Trotzdem wählte ich sehr gern auch den schöneren Weg im Verlauf der U-Bahn über Podbielskiallee, Breitenbachplatz und Südwestkorso...

Westberlins aufblühendes Kulturleben
Mit dem Wiederaufblühen des kulturellen Lebens zu Beginn der fünfziger Jahre wurde in Westberlin auch eine segensreiche Einrichtung geschaffen, die ich durch die Schule kennenlernte und von der ich sehr viel profitierte: das »Theater der Schulen«. Dadurch erhielten wir die Möglichkeit, verbilligte Karten für Aufführungen an Westberliner Bühnen zu erwerben, die dafür ein gewisses Kontingent zur Verfügung stellten. In jeder Klasse organisierte ein Schüler die Bestellungen, gab die erhaltenen Karten aus und kassierte das Geld dafür. Diese Einrichtung bot auch die Möglichkeit, gemeinsame Theaterbesuche in den Deutschunterricht einzubeziehen, wobei die gesehenen Stücke vorher und danach besprochen und diskutiert wurden. Auf diese Weise erlebte ich eine ganze Reihe hervorragender und bedeutsamer Theateraufführungen. Als das Schiller-Theater wieder aufgebaut worden war und 1951 mit der denkwürdigen Aufführung von Schillers Wilhelm Tell eröffnet wurde, konnte ich diese von Boleslaw Barlog inszenierte Eröffnungsvorstellung in der Originalbesetzung mit Paul Esser in der Titelrolle, dem 84-jährigen Albert Bassermann als Attinghausen, Walter Suessenguth als Geßler und dem jungen Götz George als Tells Sohn erleben. Es war eine hervorragende, eindrucksvolle Aufführung. Noch heute steht mir die Sterbeszene des alten Attinghausen lebendig vor Augen. Mitten auf der Bühne und diese beherrschend saß er in einem mit Decken ausgeschlagenen Sessel, erhob sich langsam, hob dann beide Hände wie segnend und rief mit einer das ganze Theater beherrschenden Eindringlichkeit die Worte: »Seid einig, einig, einig!« Totenstille herrschte im Publikum, das diesen Worten gebannt folgte. Jeder wusste sie in der sich abzeichnenden Uneinigkeit der Siegermächte mit den negativen Folgen für uns Berliner als Mahnung für die Gegenwart zu deuten. Kurz darauf, im Jahr 1952, starb Albert Bassermann; ich schätze mich glücklich, diesen packenden Charakterdarsteller noch auf der Bühne erlebt zu haben.


In den Jahren 1952 und 1953 dirigierte Wilhelm Furtwängler wieder regelmäßig die Berliner Philharmoniker, wie der Führer durch die Konzertsäle Westberlins zeigt. Für das Konzert mit Yehudi Menuhin am 26. Mai 1952 bekam ich nach achtstündigem Anstehen noch Karten.

Aber auch andere große Schauspieler wie zum Beispiel Ernst Deutsch als König Ödipus oder Werner Krauß als Schuster Voigt im Hauptmann von Köpenick erlebte ich im Schiller-Theater, und dazu das ganze hervorragende Ensemble vom Schiller- und Schlosspark-Theater wie Martin Held, Peter Mosbacher, Carl Raddatz, Wilhelm Borchert, Aribert Wäscher, Käthe Braun, Lu Säuberlich und die vielen anderen in unvergesslichen Aufführungen. Wie konnte man eine Spielstätte wie das Schiller-Theater 1993 einfach schließen? Der Theaterregisseur Peter Zadek meint, dass mit dieser Schließung der Tod der Berliner Kultur begonnen habe. Ich mag angesichts meiner Erinnerungen an so viele hervorragende Theatererlebnisse zur damaligen Zeit daran einfach nicht glauben. Wohl aber dürfte – unabhängig von der Art des gespielten Theaters – die Theaterszene im früheren Ostteil der Stadt diejenige im Westen heute dominieren. So ändern sich eben die Zeiten! Aber zurück zu den goldenen fünfziger Jahren: Als das im Krieg unzerstörte Hebbel-Theater seine Pforten Anfang 1952 dank der Initiative von Walther Suessenguth wieder öffnete und mit einer Schar junger Schauspieler das an sich eher belanglose Stück Die Zwanzigjährigen zu einem grandiosen Erfolg führte, war auch ich dabei. Dort sah ich die damals noch recht jungen Schauspieler Gisela Trowe, Maria Sebaldt, Harald Juhnke, Wolfgang Kieling, Klaus Schwarzkopf und Klaus Kinski vereint auf der Bühne, ein jeder auf seine Weise engagiert und eindringlich agierend. Ein unvergessliches Ereignis war auch die Aufführung von Lessings Nathan der Weise im Hebbel-Theater, bei der neben Walther Suessenguth als Nathan auch Gisela Trowe, Camilla Spira und Klaus Schwarzkopf mitwirkten.
Viele klassische Dramen, aber auch manch zeitgenössisches Schauspiel lernte ich über das »Theater der Schulen« in unübertroffenen, mustergültigen Aufführungen kenne
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