Leseprobe |
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Herbert
Sokolowski Broschiert, 128
Seiten, zahlreiche Abbildungen. |
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Leseproben aus »Ich komm ich weiß nit woher« Die
Welt meiner frühen Jahre Die Welt meiner frühen Jahre In unserer Sprache finden wir den Begriff »Zeitgeist«. Er soll die Epochen unterscheiden, und er gibt einer bestimmten Zeit ihre Prägung. Ich will »meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war« (Brecht, »An die Nachgeborenen«), begreifen. Das wird mühsam werden. Der Geist einer Zeit lebt sich aus und erzeugt die nächste. Was ist unser Anteil daran? Wieviel nehmen wir wahr vom Geist der Zeit? Wer nimmt uns wahr? Wir und unsere Zeit fällt das zusammen oder bleibt es inkongruent? Meine Zeit scheint eine besondere gewesen zu sein. Ihr Zeitgeist ist keiner von den gemütlichen. Zwar zeigt er sich nicht jedem der Zeitgenossen von derselben Seite, und niemand vermag ihn ganz in sein Visier zu fassen. Wir nehmen ihn immer nur aus einem einseitigen Blickwinkel wahr. Mir zeigt sich sein Profil nicht fest umrissen, nicht eindeutig. Die Zeitgeister geben ihren Epochen auch eine Atmosphäre, einen Geruch. Meine frühesten Erinnerungen sind getränkt von der Atmosphäre der sterbenden ersten deutschen Republik. Ich bin in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen, einer Stadt mitten im Ruhrgebiet. Meine früheste Geruchserinnerung erzeugt auch ein Bild: Sie transportiert mich in sommerliche Tage vor die Wände einer Hauszeile entlang einer schmalen, geschotterten Straße. Die Nachmittagssonne liegt auf der warmen, grauverputzten Wand und blinkt in den zwei Fensterreihen, die nur durch senkrechte Regenrohre unterbrochen sind. Diese gliedern die lange graue Hauszeile. Dazwischen überdachte schmale Eingangstüren, mal geschlossen, mal offen; über der Hauswandkante oben steigt nichts auf, es sind flachgedeckte Kästen. Einige Fenster sind geöffnet, da und dort schaut jemand heraus, Radiomusik schallt nach draußen, auch Küchendünste kann man schnuppern. Je eine Familie wohnt parterre rechts und links neben den Haustüren, je eine hinter den Fenstern darüber; in jedem Hausstück vier Familien. Es gibt Tage, wo Männer mit unsicherem Schritt die Straße hinuntertorkeln. Dann ist auf den Zechen Geld ausgezahlt worden: Lohntag. Einen vergesse ich nicht, seine rechte geballte Faust schlägt durch die Luft: »Rotfront!« wiederholt er brüllend die Straße abwärts. Den Rausch suchen die Hoffnungslosen. Viele Bergleute wollten, wenn Zahltag war der kam in Dekaden: an jedem 5., 15. und 25. eines Monats »den Kohlenstaub aus der Kehle spülen«. Auch die immer zahlreicher werdenden ärmlichen Gelegenheitsarbeiter und selbst die Fürsorgeempfänger trugen ihre wenigen Groschen allzuoft in die Kneipe. Fast an jeder dritten Straßenecke im Ruhrgebiet öffnete sich die Tür einer Kneipe. Das häusliche Elend, das erstickende Gefühl der eigenen Minderwertigkeit für ein paar Stunden zu vernebeln, dies ist ein unbezwingbares Motiv zum Gang in die Kneipe. Männer stehen beieinander, an Tür und Hauswand gelehnt, und plaudern, auch am hellichten Vormittag; erbitterter Ton: Mit den kleinen Mann machen die da oben doch, wat se wolln. Und unsereins weiß nich, wie er seine Leute am Kacken halten soll. Arbeitslose Familienväter. Auf den Straßen und den Hinterhöfen der Wohnviertel trieben sich weit größere Kinderscharen als heute herum, viele davon blaß und schlecht ernährt. Woher kam ihnen ihre umtriebige Munterkeit? Sie lebten in Cliquen und Gangs, immer aufgelegt zu Gruppenspielen oder abenteuerlichen Unternehmungen. Wir hatten eben wenig vorgefertigtes Spielzeug, und es gab keine Comic-Hefte und keine Flimmerkisten. Noch waren unsere Fantasiekräfte nicht von visuellen und akustischen Reizen überflutet, so viel Begehren blieb ungestillt; das machte erfinderisch. 1932/33, ich bin entschlossen zu großer Fahrt. Es
ist zu bekennen, daß wir oft auf Mundraub aus waren. An Schrebergartenrändern
und auf bäuerlichen Obstwiesen wurden Erbsenschoten, Möhren
und Kohlrabi, Pflaumen, Birnen und Äpfel erbeutet. Am nördlichen
Rand des Ruhrgebietes waren die Arbeitervorstädte noch von vielen
»Kotten« und Kleinbauernhöfen unterbrochen.
Unsere Familie Sokolowski im ersten Kriegsjahr. Von links: ich, Mutter Johanna mit Manfred, Hannelore, Vater Otto mit Hans-Jürgen, Karl-Heinz. Einen
Sommer später gab es keine »Rotfront«-Schreie mehr.
Im hohen Backsteinhaus gegenüber war einer nach längerer Abwesenheit
zurückgekehrt: trüber Blick, eingefallener Mund. Alle Zähne
rausgehauen, höre ich flüstern, immer nochn Kommunist.
Ein Bauernhof im Münsterland Die Maientage, als der Krieg erstickte, waren still und warm und leuchtendhell. Ich war sechzehneinhalb, der Lebensfaden ohne Spannung, sein Ende hing schlaff herab. Woher die Wolle nehmen, ihn weiterzuspinnen? Ein seltsames schulloses Jahr tröpfelte durch Wochen und Monate hinab in die bodenlose Schlucht der Zeit. Im westfälischen Münsterland, nur sechzig Kilometer nördlich meiner heimatlichen Industrieregion Ruhrgebiet, in der ausgedehnte Produktionsflächen jetzt verödet wie wüste Friedhöfe lagen, wurden doch alsbald neue starke Fäden in mein Lebensgeflecht eingewebt. Eine Woche nach dem Kapitulationstag die Schulen blieben geschlossen begann ich eine Arbeit als Kleinknecht auf dem Ueing-Hof in Darfeld. Vierzig Kilometer westlich davon kommt man an die Grenze nach Holland. Mutter hatte mich in die Pflicht genommen. Auf Fahrrädern fuhren wir ins Münsterland, wohin sie schon in der letzten Kriegszeit Hamsterfahrten unternommen hatte, um ihre Kinder vor Hunger zu bewahren. Nun empfahl mich ihr guter Bekannter, der Kötter Töne Albring, einem alten Bauern als willigen Arbeiter. Caspar Ueing war in Nöten. Seine beiden Söhne waren im Krieg geblieben, der eine in Rußland vermißt, der andere in den Ardennen gefallen. Die beiden polnischen Zwangsarbeiter hatten den Hof verlassen, als die Kriegsfront vorüberzog. In der Nachbarschaft waren Höfe von jetzt herumstreunenden »Ostarbeitern« überfallen worden. Ueings Hof nicht; der Bauer hatte die Polen wohl nicht übel behandelt. Aber er war dreiundsiebzig Jahre alt, er konnte die Arbeit nicht allein mit Tochter und Mägden bewältigen. So wollte er es denn mit mir versuchen, wenn auch sein skeptischer Blick verriet, daß ich ihm etwas zu schmächtig war. Und keinerlei Ahnung von der Landwirtschaft! »Also, dann kommt er nächsten Montag«, drängte Mutter auf Vertragsabschluß. »Nee, nee, Moandag wert nich wiäkenoald«, entgegnete der Bauer. Das leuchtete mir sofort ein. Wochenalt wird ein Montag nicht, montags stellt man keine neuen Arbeitskräfte ein, da könnte Unbeständigkeit drohen. Ich meinte im ersten Augenblick zu spüren, daß ich mich dem münsterländischen Gemüt assimilieren könnte. Auch der plattdeutschen Sprache, sie hatte einen kernigen Geschmack. Caspar Ueing hatte fast verlernt, sich auf hochdeutsch auszudrücken. In den Frühlings- und Sommerwochen im ersten Jahr nach dem Krieg war ich in eine paradiesische Welt versetzt. Breitgelagert zwischen seinen Äckern, Weiden und Waldstücken lag der Hof, umgeben von einem westfälischen Eichenhain. Bei Feierabend saßen wir vor der Tennentür. Die Schwalben segelten über unsere Köpfe hinweg zu ihren Nestern, die oben an der Stallwand klebten; zwitschernde Schnäbel der jungen Brut streckten sich ihnen entgegen. Hinter ihren Raufen mahlten die Mäuler der schweren Ackerpferde das Heu. Leises Grunzen von den Koben des Schweinestalls her. Sirenengeheul und Bombenkrachen waren verklungen. Die Trümmerhaufen und Ruinengerippe waren dem Blick entschwunden, die grauen Hungergesichter der dem Krieg Entkommenen in den Städten. Das junge Korn auf den Feldstücken um den Hof war schon hoch gewachsen, die Halme streckten ihre Ähren heraus. Lang stand das Wiesengras und wuchs der Heuernte entgegen. In Holzschuhen klapperte ich über Tenne und Hof; paßte scharf auf die Anweisungen des alten Bauern auf, der sich nicht um hochdeutsche Sätze bemühte. Bald wagte ich es, mit plattdeutschen Brocken zu antworten. Kein Befremden, ich schien intuitiv den Ton zu treffen. Eine starke Sprache, duftend wie Schwarzbrot und Räucherschinken. Innen wuchs das Gefühl, nicht nur ein Ruhrgebietskind, sondern auch ein Westfale zu sein. Schön ist das grüne flache Land, seine Ackerflächen und Fruchtfelder, die dunkleren Waldstücke, seine breit an der Erde lagernden Gehöfte. Es ist das Land der Droste-Hülshoff. Bei der Heuernte im Münsterland, Sommer 1945, als die Schulen geschlossen blieben. In der Mitte ich in kurzer Hose. Auf
die Heuernte folgte die Kornernte; ich lernte den Umgang mit Pferdegespannen,
die Arbeit in den Ställen und Scheunen und auf den Äckern.
Eine Kuh melken; schließlich sogar mit dem Pflug eine gerade Furche
ziehen. Zum Mittagessen gerufen werden, die ganze Hofbesatzung um den
langen Tisch vereinigt, die Schüsseln dampfen. Maria, die Haushälterin,
betet vor; eine lange Litanei, monoton abgehaspelt, dieses katholische
Ritual blieb mir fremd. Kohlenzeche Die langen Ferien zwischen den Studiensemestern gaben Gelegenheit zu einer ganz anderen Bewährung. Zuhause im Ruhrgebiet konnten die Zechen Hilfsarbeiter gebrauchen. Wie Vater und die beiden Großväter fuhr ich den dunklen Schacht hinunter bis auf die »neunte Sohle«. Eine würdige Traditionskette. Nach den ersten vier Wochen im Lehrrevier, wo wir mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt waren, wollte ich versuchen, in eine höhere Lohngruppe zu kommen. Ich sprach beim Obersteiger vor: »Kann ich nicht ins Gedinge aufgenommen werden?« »Was, Sie wollen ins Gedinge? Mann, da brechen Sie ja am Arsch ab!« Der Umgangston auf der Zeche ist rauh, aber damit kann man mich nicht schrecken. Ich bin auf mehreren Sprachebenen zu Hause, auch auf jener der Proletarier. Dem Obersteiger antworte ich jedoch auf dem ihm zukommenden Niveau: meine bergmännische Vergangenheit sei von Vater und Großvätern her tief genug; sein Verdacht könne mich nicht treffen. »Na gut. Ab morgen Revier neun im Damm. Aber kommen Sie mir bloß nicht nach drei Tagen zum Ausweinen!« Die Arbeit war so hart, daß ich manchmal meinte, Blut zu schwitzen. Das Flöz hatte bloß eine Mächtigkeit von einem Meter, oft genug stieß ich an das Hangende, alle Arbeit war kniend oder tief geduckt zu tun. Die Kohlenstaubschwaden zogen langsam durch den Damm, die Wetterführung war nicht sehr zügig. Nasenlöcher und Augenwinkel waren bald nach Schichtbeginn von schwarzem Staub verklebt. Ich war hineingeworfen in das finstere Loch wie ein Nichtschwimmer in tiefes Wasser: nun schwimm!
Am Schacht, vor der Grubenfahrt in die Zeche »Bismarck« in Gelsenkirchen während der Semesterferien 1950. Ich stehe als Dritter von links, als einziger noch ohne Schutzhelm. Gegen
Ende der ersten Schicht im Gedinge hatte ich noch längst nicht
alle Stempel und Stützhölzer gesetzt. Die Nachtschicht mußte
aber Kohlenrutsche und Förderband ins nächste Feld an das
Kohlenflöz heran verlegen. Jetzt und immer wieder konnte ich erfahren,
was es bedeutet, einen guten Kumpel zu haben. Der Nebenmann hatte sein
zugemessenes Stück abgebaut und alle Hölzer gesetzt. Er machte
sich bereit für den Weg zum Schacht, um aus der Grube auszufahren.
»Gipp ma her, du muß dat anners anpacken!« Er nahm
mir den Presslufthammer aus den Händen. Ein paar Stöße
von ihm in die Kohlenschicht am oberen und unteren Rand, und eine ganze
Lage kippte um, die ich hastig auf das Förderband schaufelte. Gemeinsam
setzten wir die restlichen Stempel, dann war auch mein Flözstück
präpariert für die morgige Schicht. Wir konnten mit unseren
Grubenlampen auf das laufende Band springen und uns durch den völlig
verdunkelten Damm alle Kumpels hatten sich schon zum Schacht
begeben zum Stollen transportieren lassen. Dicht zusammengedrängt
sausten die geschwärzten Gestalten im Förderkorb nach oben
ans Tageslicht zurück.
Nach einer Schicht auf der 9. Sohle sitze ich bei einer späteren Rückkehr zur Zeche im Kreis der Kumpel. Diesmal
machte ich eine neue Erfahrung: Ich kam zu einer Arbeitsgruppe »vor
Stein«. Wir hatten eine Sohle weiter vorzutreiben. Es wurde gesprengt,
die »Berge« waren wegzuräumen, und das Hangende der
Sohlenwölbung war stabil auszubauen. Inhalt »Ich komm ich weiß nit woher« Elemente
meines Ursprungs Der
Zeitgeist tobt
Die ersten Nachkriegsjahre Lebens-Vorbereitungen Lebensfülle Rückschau und Ausblick 119
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