Leseprobe

Herbert Sokolowski
Ich komm ich weiß nit woher
Zuhause im Ruhrpott, oft in der Welt.
1932-2005

Broschiert, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
Sammlung der Zeitzeugen (44)
ISBN 3-933336-93-7
12,80 EUR



Leseproben aus »Ich komm ich weiß nit woher«

Die Welt meiner frühen Jahre
Ein Bauernhof im Münsterland
Kohlenzeche

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Die Welt meiner frühen Jahre


In unserer Sprache finden wir den Begriff »Zeitgeist«. Er soll die Epochen unterscheiden, und er gibt einer bestimmten Zeit ihre Prägung. Ich will »meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war« (Brecht, »An die Nachgeborenen«), begreifen. Das wird mühsam werden.

Der Geist einer Zeit lebt sich aus und erzeugt die nächste. Was ist unser Anteil daran? Wieviel nehmen wir wahr vom Geist der Zeit? Wer nimmt uns wahr? Wir und unsere Zeit – fällt das zusammen oder bleibt es inkongruent?

Meine Zeit scheint eine besondere gewesen zu sein. Ihr Zeitgeist ist keiner von den gemütlichen. Zwar zeigt er sich nicht jedem der Zeitgenossen von derselben Seite, und niemand vermag ihn ganz in sein Visier zu fassen. Wir nehmen ihn immer nur aus einem einseitigen Blickwinkel wahr. Mir zeigt sich sein Profil nicht fest umrissen, nicht eindeutig.

Die Zeitgeister geben ihren Epochen auch eine Atmosphäre, einen Geruch. Meine frühesten Erinnerungen sind getränkt von der Atmosphäre der sterbenden ersten deutschen Republik. Ich bin in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen, einer Stadt mitten im Ruhrgebiet. Meine früheste Geruchserinnerung erzeugt auch ein Bild: Sie transportiert mich in sommerliche Tage vor die Wände einer Hauszeile entlang einer schmalen, geschotterten Straße.

Die Nachmittagssonne liegt auf der warmen, grauverputzten Wand und blinkt in den zwei Fensterreihen, die nur durch senkrechte Regenrohre unterbrochen sind. Diese gliedern die lange graue Hauszeile. Dazwischen überdachte schmale Eingangstüren, mal geschlossen, mal offen; über der Hauswandkante oben steigt nichts auf, es sind flachgedeckte Kästen. Einige Fenster sind geöffnet, da und dort schaut jemand heraus, Radiomusik schallt nach draußen, auch Küchendünste kann man schnuppern. Je eine Familie wohnt parterre rechts und links neben den Haustüren, je eine hinter den Fenstern darüber; in jedem Hausstück vier Familien.
Es gibt Tage, wo Männer mit unsicherem Schritt die Straße hinuntertorkeln. Dann ist auf den Zechen Geld ausgezahlt worden: Lohntag. Einen vergesse ich nicht, seine rechte geballte Faust schlägt durch die Luft: »Rotfront!« wiederholt er brüllend die Straße abwärts. Den Rausch suchen die Hoffnungslosen. Viele Bergleute wollten, wenn Zahltag war – der kam in Dekaden: an jedem 5., 15. und 25. eines Monats –‚ »den Kohlenstaub aus der Kehle spülen«. Auch die immer zahlreicher werdenden ärmlichen Gelegenheitsarbeiter und selbst die Fürsorgeempfänger trugen ihre wenigen Groschen allzuoft in die Kneipe.

Fast an jeder dritten Straßenecke im Ruhrgebiet öffnete sich die Tür einer Kneipe. Das häusliche Elend, das erstickende Gefühl der eigenen Minderwertigkeit für ein paar Stunden zu vernebeln, dies ist ein unbezwingbares Motiv zum Gang in die Kneipe. – Männer stehen beieinander, an Tür und Hauswand gelehnt, und plaudern, auch am hellichten Vormittag; erbitterter Ton: Mit den kleinen Mann machen die da oben doch, wat se wolln. Und unsereins weiß nich, wie er seine Leute am Kacken halten soll. Arbeitslose Familienväter.

Auf den Straßen und den Hinterhöfen der Wohnviertel trieben sich weit größere Kinderscharen als heute herum, viele davon blaß und schlecht ernährt. Woher kam ihnen ihre umtriebige Munterkeit? Sie lebten in Cliquen und Gangs, immer aufgelegt zu Gruppenspielen oder abenteuerlichen Unternehmungen. Wir hatten eben wenig vorgefertigtes Spielzeug, und es gab keine Comic-Hefte und keine Flimmerkisten. Noch waren unsere Fantasiekräfte nicht von visuellen und akustischen Reizen überflutet, so viel Begehren blieb ungestillt; das machte erfinderisch.



1932/33, ich bin entschlossen zu großer Fahrt.

Es ist zu bekennen, daß wir oft auf Mundraub aus waren. An Schrebergartenrändern und auf bäuerlichen Obstwiesen wurden Erbsenschoten, Möhren und Kohlrabi, Pflaumen, Birnen und Äpfel erbeutet. Am nördlichen Rand des Ruhrgebietes waren die Arbeitervorstädte noch von vielen »Kotten« und Kleinbauernhöfen unterbrochen.

Die Sommerwochen liegen hell in der Erinnerung. Wir marschierten kilometerweit zum Freischwimmbad. An den lauen Abenden standen oder saßen gruppenweise die Erwachsenen vor den Haustüren. Es gab Skatrunden auf niedrigen Hockern mit Kiebitzen drumherum. Wir wurden öfter zur Getränkebude geschickt, um für jeden Spieler eine Flasche Bier zu holen; da fielen manchmal fünf Pfennig für Karamelbonbons ab.



Unsere Familie Sokolowski im ersten Kriegsjahr. Von links: ich, Mutter Johanna mit Manfred, Hannelore, Vater Otto mit Hans-Jürgen, Karl-Heinz.

Einen Sommer später gab es keine »Rotfront«-Schreie mehr. Im hohen Backsteinhaus gegenüber war einer nach längerer Abwesenheit zurückgekehrt: trüber Blick, eingefallener Mund. Alle Zähne rausgehauen, höre ich flüstern, immer noch’n Kommunist.

Einbruch der Nacht, wir drei Geschwister liegen schon im Bett. In der Wohnküche laute Stimmen, polternde Stiefel; Vater ist nicht zu Hause, er hat Nachtschicht auf der Zeche. Die Tür wird aufgestoßen, Licht bricht herein. Mutter bleibt zaghaft in der Tür stehen, zwei Kerle in braungelben Hemden mit Lederriemen über den Schultern öffnen die Schranktüren und ziehen Schubläden auf, Mutter murmelt beschwichtigend; dann verschwinden sie wieder. Karl-Heinz und ich bleiben tief verwundert im Dunkeln liegen: Warum dürfen die das?
Am nächsten Morgen höre ich elterliche Gesprächsfetzen: Flugblätter, Kommunisten gesucht. Gottseidank den Schlagring nicht gefunden.

Ein anderer Sommernachmittag. Trauermusik und eine Radiostimme dringen laut aus offenem Fenster: der Reichspräsident ist gestorben. Er hatte mit mir am gleichen Tag Geburtstag, der Hindenburg. Den Nachbarn an den Türen merkt man keine solche Stimmung an wie die in der Radiomusik, keine Trauer hier in der Straße.


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Ein Bauernhof im Münsterland


Die Maientage, als der Krieg erstickte, waren still und warm und leuchtendhell. Ich war sechzehneinhalb, der Lebensfaden ohne Spannung, sein Ende hing schlaff herab. Woher die Wolle nehmen, ihn weiterzuspinnen? Ein seltsames schulloses Jahr tröpfelte durch Wochen und Monate hinab in die bodenlose Schlucht der Zeit.

Im westfälischen Münsterland, nur sechzig Kilometer nördlich meiner heimatlichen Industrieregion Ruhrgebiet, in der ausgedehnte Produktionsflächen jetzt verödet wie wüste Friedhöfe lagen, wurden doch alsbald neue starke Fäden in mein Lebensgeflecht eingewebt. Eine Woche nach dem Kapitulationstag – die Schulen blieben geschlossen – begann ich eine Arbeit als Kleinknecht auf dem Ueing-Hof in Darfeld. Vierzig Kilometer westlich davon kommt man an die Grenze nach Holland.

Mutter hatte mich in die Pflicht genommen. Auf Fahrrädern fuhren wir ins Münsterland, wohin sie schon in der letzten Kriegszeit Hamsterfahrten unternommen hatte, um ihre Kinder vor Hunger zu bewahren. Nun empfahl mich ihr guter Bekannter, der Kötter Töne Albring, einem alten Bauern als willigen Arbeiter. Caspar Ueing war in Nöten. Seine beiden Söhne waren im Krieg geblieben, der eine in Rußland vermißt, der andere in den Ardennen gefallen. Die beiden polnischen Zwangsarbeiter hatten den Hof verlassen, als die Kriegsfront vorüberzog. In der Nachbarschaft waren Höfe von jetzt herumstreunenden »Ostarbeitern« überfallen worden. Ueings Hof nicht; der Bauer hatte die Polen wohl nicht übel behandelt.

Aber er war dreiundsiebzig Jahre alt, er konnte die Arbeit nicht allein mit Tochter und Mägden bewältigen. So wollte er es denn mit mir versuchen, wenn auch sein skeptischer Blick verriet, daß ich ihm etwas zu schmächtig war. Und keinerlei Ahnung von der Landwirtschaft! »Also, dann kommt er nächsten Montag«, drängte Mutter auf Vertragsabschluß. – »Nee, nee, Moandag wert nich wiäkenoald«, entgegnete der Bauer.

Das leuchtete mir sofort ein. Wochenalt wird ein Montag nicht, montags stellt man keine neuen Arbeitskräfte ein, da könnte Unbeständigkeit drohen. Ich meinte im ersten Augenblick zu spüren, daß ich mich dem münsterländischen Gemüt assimilieren könnte. Auch der plattdeutschen Sprache, sie hatte einen kernigen Geschmack. Caspar Ueing hatte fast verlernt, sich auf hochdeutsch auszudrücken.

In den Frühlings- und Sommerwochen im ersten Jahr nach dem Krieg war ich in eine paradiesische Welt versetzt. Breitgelagert zwischen seinen Äckern, Weiden und Waldstücken lag der Hof, umgeben von einem westfälischen Eichenhain. Bei Feierabend saßen wir vor der Tennentür. Die Schwalben segelten über unsere Köpfe hinweg zu ihren Nestern, die oben an der Stallwand klebten; zwitschernde Schnäbel der jungen Brut streckten sich ihnen entgegen. Hinter ihren Raufen mahlten die Mäuler der schweren Ackerpferde das Heu. Leises Grunzen von den Koben des Schweinestalls her.

Sirenengeheul und Bombenkrachen waren verklungen. Die Trümmerhaufen und Ruinengerippe waren dem Blick entschwunden, die grauen Hungergesichter der dem Krieg Entkommenen in den Städten. Das junge Korn auf den Feldstücken um den Hof war schon hoch gewachsen, die Halme streckten ihre Ähren heraus. Lang stand das Wiesengras und wuchs der Heuernte entgegen.

In Holzschuhen klapperte ich über Tenne und Hof; paßte scharf auf die Anweisungen des alten Bauern auf, der sich nicht um hochdeutsche Sätze bemühte. Bald wagte ich es, mit plattdeutschen Brocken zu antworten. Kein Befremden, ich schien intuitiv den Ton zu treffen. Eine starke Sprache, duftend wie Schwarzbrot und Räucherschinken. Innen wuchs das Gefühl, nicht nur ein Ruhrgebietskind, sondern auch ein Westfale zu sein. Schön ist das grüne flache Land, seine Ackerflächen und Fruchtfelder, die dunkleren Waldstücke, seine breit an der Erde lagernden Gehöfte. Es ist das Land der Droste-Hülshoff.

Bei der Heuernte im Münsterland, Sommer 1945, als die Schulen geschlossen blieben. In der Mitte ich in kurzer Hose.

Auf die Heuernte folgte die Kornernte; ich lernte den Umgang mit Pferdegespannen, die Arbeit in den Ställen und Scheunen und auf den Äckern. Eine Kuh melken; schließlich sogar mit dem Pflug eine gerade Furche ziehen. Zum Mittagessen gerufen werden, die ganze Hofbesatzung um den langen Tisch vereinigt, die Schüsseln dampfen. Maria, die Haushälterin, betet vor; eine lange Litanei, monoton abgehaspelt, dieses katholische Ritual blieb mir fremd.

Des alten Bauern ungetrübtes Wohlwollen gewann ich beim Doppelkoppspiel, Sonntag nachmittags zusammen mit dem Öhm und einem Nachbarn im guten Stüwken. Da droschen wir die Karten auf den Tisch, und wir gewannen öfter, wenn ich mit Caspar im Zweierteam war, wegen geschickter Kombination von Trumpf- und Fehlkarten. Das gab Siegpfennige. Und mein Münsterländer Plattdeutsch erweiterte und vertiefte sich. »To, Hinrich, spil ne Kaat uut! Wat muss du di so lang dodrup bidenken? – Mien Chott un de Kinners, wat is dat för ne dösige Kaat!« Caspar Ueing war ein ungeduldiger und reizbarer alter Mann.

Oft standen in diesen Monaten bittende Leute, die aus den Städten kamen, wo Hunger herrschte, vor der Tür oder drangen auf den Hof. Sie boten brauchbare Dinge an zum Tausch gegen Eier oder ein Stück Speck. Nähgarn, Knöpfe, Nägel; Bergleute konnten Zigaretten und Schnapsflaschen anbieten, die ihnen auf den Ruhrgebietszechen zugeteilt wurden, damit die Kohlenförderung besser in Gang kam.
Selten wurden die Bittenden barsch abgewiesen; aber zum Mitleid reichten die Gefühle nicht, eher wurden diese ständig herandringenden Hungerleider als irgendwie bedrohlich empfunden. Die Interessen von Stadt und Land waren auseinandergeraten, Beschwörungen von schicksalhafter »Volksgemeinschaft« gehörten in eine ferngerückte Vergangenheit als ausgehöhlte Parolen. Zwiespältig waren meine eigenen Empfindungen; diese Bittenden kamen mir, der ich mich solidarisch auf der Seite der Münsterländer Dorfbevölkerung fand, beinahe schon als »die Anderen« vor.

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Kohlenzeche


Die langen Ferien zwischen den Studiensemestern gaben Gelegenheit zu einer ganz anderen Bewährung. Zuhause im Ruhrgebiet konnten die Zechen Hilfsarbeiter gebrauchen. Wie Vater und die beiden Großväter fuhr ich den dunklen Schacht hinunter bis auf die »neunte Sohle«. Eine würdige Traditionskette.

Nach den ersten vier Wochen im Lehrrevier, wo wir mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt waren, wollte ich versuchen, in eine höhere Lohngruppe zu kommen. Ich sprach beim Obersteiger vor: »Kann ich nicht ins Gedinge aufgenommen werden?« – »Was, Sie wollen ins Gedinge? Mann, da brechen Sie ja am Arsch ab!« Der Umgangston auf der Zeche ist rauh, aber damit kann man mich nicht schrecken. Ich bin auf mehreren Sprachebenen zu Hause, auch auf jener der Proletarier.

Dem Obersteiger antworte ich jedoch auf dem ihm zukommenden Niveau: meine bergmännische Vergangenheit sei von Vater und Großvätern her tief genug; sein Verdacht könne mich nicht treffen. »Na gut. Ab morgen Revier neun im Damm. Aber kommen Sie mir bloß nicht nach drei Tagen zum Ausweinen!«

Die Arbeit war so hart, daß ich manchmal meinte, Blut zu schwitzen. Das Flöz hatte bloß eine Mächtigkeit von einem Meter, oft genug stieß ich an das Hangende, alle Arbeit war kniend oder tief geduckt zu tun. Die Kohlenstaubschwaden zogen langsam durch den Damm, die Wetterführung war nicht sehr zügig. Nasenlöcher und Augenwinkel waren bald nach Schichtbeginn von schwarzem Staub verklebt. Ich war hineingeworfen in das finstere Loch wie ein Nichtschwimmer in tiefes Wasser: nun schwimm!



Am Schacht, vor der Grubenfahrt in die Zeche »Bismarck« in Gelsenkirchen – während der Semesterferien 1950. Ich stehe als Dritter von links, als einziger noch ohne Schutzhelm.

Gegen Ende der ersten Schicht im Gedinge hatte ich noch längst nicht alle Stempel und Stützhölzer gesetzt. Die Nachtschicht mußte aber Kohlenrutsche und Förderband ins nächste Feld an das Kohlenflöz heran verlegen. Jetzt und immer wieder konnte ich erfahren, was es bedeutet, einen guten Kumpel zu haben. Der Nebenmann hatte sein zugemessenes Stück abgebaut und alle Hölzer gesetzt. Er machte sich bereit für den Weg zum Schacht, um aus der Grube auszufahren. »Gipp ma her, du muß dat anners anpacken!« Er nahm mir den Presslufthammer aus den Händen. Ein paar Stöße von ihm in die Kohlenschicht am oberen und unteren Rand, und eine ganze Lage kippte um, die ich hastig auf das Förderband schaufelte. Gemeinsam setzten wir die restlichen Stempel, dann war auch mein Flözstück präpariert für die morgige Schicht. Wir konnten mit unseren Grubenlampen auf das laufende Band springen und uns durch den völlig verdunkelten Damm – alle Kumpels hatten sich schon zum Schacht begeben – zum Stollen transportieren lassen. Dicht zusammengedrängt sausten die geschwärzten Gestalten im Förderkorb nach oben ans Tageslicht zurück.

Die Waschkaue kam mir am Ende meiner ersten Schichten vor wie eine Vorhölle. Voll von noch schwarzen und schon weißgespülten Leibern der Kumpels, von heißen Wasserdampfschwaden umnebelt. Da schob sich ein gebückter Rücken dicht vor mich. »Na mach!« raunzte der Kerl, als ich zögerte. Schnell kapierte ich, was zu tun war: man hatte ihn zu »puckeln«. Ist sein Rücken gesäubert, tut er einem denselben Dienst. Ein Klaps auf die Schulter oder vor den Hintern war das Zeichen, daß der fette oder magere schwarze Rücken wieder in einen weißen verwandelt war.

Etwas schleppend pilgerte ich die zwei Kilometer am sonnendurchstrahlten Augustnachmittag mit leerer Kaffeepulle und geleertem Brotbeutel heim. Mutter wunderte sich über meine kohlschwarzen Augen, der Staub war noch in den Wimpern hängengeblieben. Es kam vor, daß ich zu müde zum Essen, aber zu hungrig zum Schlafen war – ein schwer aufzulösendes Dilemma.

Als ich voll Sehnsucht zu meinem zweiten Semester an die Brüste der Alma mater zurückkehrte, hatte ich siebzig Schichten unter Tage verfahren. Das hatte mir eine Befreiung aus der knochentrockenen Dürftigkeit und die restlose Anerkennung meines Vaters eingebracht. In den nächsten Ferien nach dem Wintersemester kam ich als bewährter Kumpel zum Pütt zurück und verfuhr meine nächsten dreißig Schichten. Ich konnte im Gedinge neunzig Prozent des Hauerlohnes verdienen.

Nach einer Schicht auf der 9. Sohle sitze ich bei einer späteren Rückkehr zur Zeche im Kreis der Kumpel.

Diesmal machte ich eine neue Erfahrung: Ich kam zu einer Arbeitsgruppe »vor Stein«. Wir hatten eine Sohle weiter vorzutreiben. Es wurde gesprengt, die »Berge« waren wegzuräumen, und das Hangende der Sohlenwölbung war stabil auszubauen.

Es war eine Mannschaft von erfahrenen Kumpels. Sie wußten, daß ich ihnen nicht als Hauer, sondern nur zu neunzig Prozent als Gedingeschlepper zugeteilt war. Zunächst wird im Pütt nicht viel gefragt. Was ein Kerl wert ist, erkennt man bald an seiner Arbeit. Zwei Wochen vergingen, bis einer in der Arbeitspause beim »Buttern« auf der Gezähekiste fragte, wo ich denn vorher gearbeitet hätte. »Auf Schacht drei.« – »Aber du waas doch nich immer im Pütt.« – »Nee.« – »Komm, lass dich nich die Würmer ausse Nase ziehn!« – »Ich bin Student.« – »Wie, Student? So richtig auffe Hochschule oder Uni oder wie dat heißt?« – »Ja, auffe Universität.« – »Mann, und wat studiersse da? Donnich Berchbau, oder?«

Meine knappen, aber sachlichen Erklärungen hatten eine unerwartete Wirkung. Es ergab sich jetzt nicht etwa eine kühlere Distanz, wie ich insgeheim befürchtet hatte. Vielmehr überraschte mich ein erst zögerliches, dann unbefangenes Anvertrauen. Einer erzählte von seinem Schulversagen, das ihn offensichtlich traumatisch belastete, und wollte wissen, wie ich ein gewisses Lehrerverhalten beurteilte. Ein anderer rückte mit Eheproblemen heraus. Dafür und auch für Sexualprobleme war ich so inkompetent, wie es sich die Kumpels gar nicht träumen ließen. Sie begannen mich zu schonen. Ich sollte leere Wagen besorgen und ähnliches. »Du kannz dich hier ja nich kaputtmachen! Wann geht dein Studiern denn weiter?« Sie begannen tatsächlich, mich ein wenig zu bemuttern – oder zu bevätern.

Eine Sonderschicht war zu verfahren, die Arbeit mußte fertig werden: Ostermontag. »Du komms doch auch, nich? Dat gipt Moos, kannze doch gebrauchen anne Uni, wa, du Werkstudent!« Ostermontag ist bezahlter Feiertag, und für die Schicht gibt es hundert Prozent Lohnaufschlag, das machte einen dreifachen Schichtlohn aus. Ich fühlte mich in meiner Kumpelgruppe gut aufgehoben. Hier waren Verläßlichkeit, Teilnahme, Herzlichkeit.

Ich bin noch in zwei weiteren Semesterferien »unten« gewesen und habe es auf sieben Monate Bergmannsarbeit gebracht. Dadurch war ich in den weiteren Semestern nicht mehr so blutigknapp bei Kasse. Aber der bei weitem größere Gewinn für mich war ein Bewußtsein, wie es ähnlich der hürnene Siegfried gehabt haben muß: Du bist gepanzert, bist unverletzlich geworden, härter kann es kaum kommen.

Das Bewußtsein der Bewährung erzeugte zeitweilig eine euphorische Stimmung. Unauslöschlich bleiben diese Erfahrungen unter den Bergleuten »vor Kohle«. Ein kostbarer weiterer Gewinn war das Erleben von verläßlichem Beistand durch die Kumpels in mancher Notsituation; man wurde nie allein gelassen, konnte immer tatkräftiger Teilnahme sicher sein. Ich begriff hier die Solidarität als einen Nervenstrang der ein Jahrhundert alten Arbeiterbewegung.

Eine starke praktische Komponente hatte meine Bildung erhalten durch die Bergmanns- und die vorige Bauernknechtsarbeit. Bei einem bloßen Umgang mit Theorien wäre das Leben mir wohl undeutlicher geblieben.

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Inhalt
»Ich komm ich weiß nit woher«

Elemente meines Ursprungs
Die Welt meiner frühen Jahre 9
Meine masurischen Großeltern 12
Die ersten Schuljahre und Anstöße des Zeitgeistes 16
Wunderbare Welt des Wissens 23

Der Zeitgeist tobt
Der Krieg, Teil eins 26
Rassenkunde 28
Heldentum und Todessucht 29
Der Krieg, Teil zwei 30
Kriegsalltag 33
Kriegsende und Überbleibsel 37

Die ersten Nachkriegsjahre
Ein Bauernhof im Münsterland 42
»Stunde Null« oder Nachklänge 45
Neuer Schulunterricht und amerikanische Einflüsse 48
Sprache und Dichtung 53

Lebens-Vorbereitungen
Universität im Neubeginn 56
Kohlenzeche 58
Deutschlandfahrt 63
England – déjà vu? 64
Europäische Ausblicke und Einsichten 67
Examen 71

Lebensfülle
Schul-Zeit 74
Studienort Berlin 77
Weltgeschichte in Pennsylvania 81
New York und Washington 84
Amerikafahrt 86
Israel 88
Patron Heisenberg 93
Wohlergehen und Existenzangst, Friedensbewegung 95
Lesen lehren 97
Si vis pacem para bellum 100
Neue Ausblicke und Einsichten 104
Epochenwandel 117

Rückschau und Ausblick 119

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