Leseprobe

Mauer-Passagen
Grenzgänge, Fluchten und Reisen
1961-1989

46 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen
368 Seiten, viele Abbildungen, Mauer-Chronologie, Ortsregister
Reihe Zeitgut Band 19
ungekürzte Taschenbuchausgabe
ISBN 978-3-86614-171-1
9,90 EUR

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Inhalt der Leseprobe
Hermann Meyn: Allein auf weiten Fluren
Rudolf Bentz: Republikflüchtige Aale
Marianne Doerfel: Blinde Passagiere
Hans Peter Kutscha: Meine Volkspolizisten
Hans-Joachim Musiol: Vorkommnisse
Helga Brachmann: Angst
Irmgard Pondorf: Die ruhiggestellte Tante
Rudolf Bentz: Die Demonstration
zum kompletten Inhaltsverzeichnis


[West-Berlin; 12./13. August 1961]

Hermann Meyn
Allein auf weiten Fluren

Es war die Nacht der Nächte, jedenfalls für einen 26jährigen, der einige Wochen zuvor auf Honorarbasis für 60 Mark pro Schicht in der Nachrichtenredaktion des RIAS angeheuert hatte. Kurz vor zwei Uhr stürzte an diesem 13. August 1961 ein spärlich bekleideter Amerikaner in den Nachrichtenraum, in dem ich mutterseelenallein versuchte, vier unablässig klingelnde Telefonapparate zu bedienen, und fragte mich in gebrochenem Deutsch: "Sind die Verbindungswege betroffen?"
Ich antwortete: "Nein, es geht um die Abriegelung Ost-Berlins."
"Dann ist alles okay", sagte er sichtlich erleichtert und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Ich war fassungslos. So hatte ich mir das Engagement der größten westlichen Weltmacht für die Freiheit Berlins nicht vorgestellt. Aber zu längerem Nachdenken blieb mir keine Zeit. Seit einer reichlichen halben Stunde bemühte ich mich bereits ebenso verzweifelt wie vergeblich, die US-Mission, die Chefredaktion des Senders, den Leiter der Nachrichtenredaktion und Kolleginnen und Kollegen zu erreichen. Diese Reihenfolge sah der Alarmplan vor, nach dem ich im Falle eines Falles handeln sollte. Meine Schicht begann um Mitternacht. Normalerweise ein ruhiger Sechs-Stunden-Job bis zum nächsten Morgen. Damals strahlte der RIAS, der Rundfunk im amerikanischen Sektor, stündlich Nachrichten aus, die während dieser Schicht nur selten verändert wurden. Nun war allerdings in den letzten Wochen der Strom von DDR-Flüchtlingen nach West-Berlin sprunghaft gestiegen. Tag für Tag berichteten die Westmedien triumphierend über neue Rekorde der Abstimmung mit den Füßen. Die Reaktion des SED-Regimes auf diese Fluchtwelle war unklar. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht hatte noch vor kurzem anläßlich einer Pressekonferenz auf die Frage einer westdeutschen Korrespondentin geantwortet, niemand denke daran, eine Mauer zu errichten. Dennoch blieb die politische Hochspannung in Berlin spürbar, es lag etwas in der Luft.

 

 

 

 

 

 

 

 

Hier, im RIAS-Funkhaus in der Kufsteiner Straße in Berlin-Schöneberg, hatte ich in der Nacht zum 13. August 1961 Dienst und versuchte verzweifelt, die US-Mission und die Chefredaktion des Senders zu erreichen. Hörer hatten mich über die Einstellung des S-Bahnverkehrs und Absperrungen an der Grenze zu Ost-Berlin informiert.

Als ich an diesem Sonnabend kurz vor 24 Uhr in der Nachrichtenredaktion erschienen war, fragte ich routinemäßig die Kolleginnen und Kollegen von der Spätschicht, ob es irgendetwas Besonderes gäbe.
"Alles ruhig", lautete die Antwort, "wir wünschen eine ruhige Nacht." Sagten's und verschwanden.

Von nun an war ich der einzige Journalist im Haus, allein auf weiten Fluren, auf denen ich höchstens einmal einen Nachrichtensprecher traf, der für den Fall Bereitschaftsdienst hatte, daß tatsächlich einmal nachts die Nachrichten neu gesprochen werden mußten. Außer uns wachte noch jemand in der Telefonzentrale. Die Technik war ebenfalls besetzt. Und im Nebenraum harrte eine Mitarbeiterin aus, die mir die eventuell eingehenden Agenturmeldungen vorlegte.
Kurz nach Mitternacht klingelte das Telefon. Ein Hörer teilte mit, die S-Bahn, die damals den östlichen mit dem westlichen Teil Berlins verband, verkehre nicht mehr. Ich hielt das für eine individuelle Beobachtung ohne Nachrichtenwert und beruhigte den Anrufer, er möge nicht so ungeduldig sein. Nachts seien eben die Fahrabstände ein wenig größer. Aber die Anrufe häuften sich - der RIAS galt damals als eine der wichtigsten Informationsquellen, wurde aber auch nachts gelegentlich als Seelsorgestation benutzt. Da ich zu diesem Zeitpunkt der einzige war, der Auskünfte geben konnte, stellte die Zentrale sämtliche Anrufe zu mir in die Nachrichtenredaktion durch. Vollauf damit beschäftigt, gleichzeitig vier Telefonapparate zu bedienen, die unglücklicherweise auch noch so weit voneinander entfernt standen, daß ich ständig um mehrere zusammengestellte Schreibtische herumrennen mußte, hörte ich dennoch, daß plötzlich nebenan der Nachrichtenticker lief. Nichts als unverständliche Nachrichten.

Es war die amerikanische Nachrichtenagentur AP, die gegen ein Uhr über ein Kommuniqué der Warschauer Paktstaaten berichtete. Minutenlang bemühte ich mich, den Text zu verstehen. Darin war von "Maßnahmen" die Rede, ohne daß gesagt wurde, was damit konkret gemeint war - von Hinweisen auf die Teilung Berlins durch Stacheldraht und Sperren keine Spur. Eine Sekretärin war nicht zur Stelle, die Dame von nebenan konnte mit der Schreibmaschine nicht umgehen. Ich mußte mich also selbst ans Werk machen, ausnahmsweise, denn Nachrichten wurden damals im RIAS anhand von Agenturmeldungen grundsätzlich einer Sekretärin diktiert. Sobald ich einen Halbsatz getippt hatte, mußte ich wieder aufspringen, weil die Telefone klingelten. Nachtdienst zu dieser Zeit hieß, das hatte mir der RIAS-Nachrichten-Chef Hans-Werner Schwarze eingebläut, in erster Linie Telefonbedienung und im Notfall nach Plan Alarmierung der Verantwortlichen.

Bevor ich beim Sender in der Kufsteiner Straße in Schöneberg begann, arbeitete ich bereits zwei Jahre lang nebenbei als Korrespondent für den Südwestfunk. Zu meiner täglichen Lektüre gehörte deshalb das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland". Ich hatte also Übung darin, Parteichinesisch in die Alltagssprache zu übersetzen. Aber diese AP-Meldung über das Kommuniqué der Warschauer Paktstaaten überforderte mich schlichtweg. Ich konnte sie nicht entschlüsseln, erkannte nicht ihre politische Tragweite. Ich schaffte es nicht, für die Nachrichtensendung um ein Uhr eine Meldung zu formulieren, die klar zum Ausdruck brachte, worum es tatsächlich ging. Ja, es kam mit Ach und Krach eine Meldung zustande, aber sie war weitgehend unverständlich, und deswegen sah ich auch davon ab, nach dem Alarmplan zu verfahren.
Kurz nach ein Uhr lief eine knappe Meldung der Deutschen Presse-Agentur über den Ticker, in der zum ersten Mal konkret von Abriegelungsmaßnahmen am Brandenburger Tor die Rede war. Nun begann mein Kampf gegen vier Telefonapparate, die laufend klingelten, und mein Versuch, die Verantwortlichen zu alarmieren. Kostbare Minuten verrannen, bis endlich eine Leitung frei wurde. Ich kam durch, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand, weder die US-Mission noch die obersten Verantwortlichen auf deutscher Seite - es war zum Verzweifeln!

Das Schweigen der Schutzmacht

Gestützt auf mehrere Agenturen, vermittelten dann die Zwei-Uhr-Nachrichten, die ich trotz Telefonstreß formuliert habe, ein erstes realistisches Bild von der neuen Lage in Berlin. Irgendwie muß diese Meldung die RIAS-Spitzen in den Bars und auf den mitternächtlichen Sommerpartys erreicht haben. Allmählich füllte sich die Redaktion. Kolleginnen und Kollegen, die gar nicht auf dem Dienstplan standen, fanden sich ein. Das Programm wurde geändert, und nun informierte der RIAS praktisch pausenlos über die Geschehnisse mit Nachrichten pur rund um die Uhr.

Morgens um 6 Uhr war mein Dienst vorbei. Ich blieb noch eine Stunde länger, weil ich viel zu aufgewühlt von den nächtlichen Erlebnissen war und auch wissen wollte, wie die Schutzmächte reagieren würden. Daß sie nach längerem Schweigen nur protestieren würden, konnte ich mir an diesem Morgen nicht vorstellen, es hätte mir aber nach der nächtlichen Begegnung mit dem Vertreter der US-Mission klar sein müssen. Doch diese Fehleinschätzung teilte ich sicherlich mit vielen Berlinern, auch mit etlichen Kommentatoren in der Stadt, die in drastischer Form ihre Enttäuschung über die Amerikaner, Engländer und Franzosen zum Ausdruck brachten.

Um 7 Uhr bin ich mit einem Taxi zum Brandenburger Tor gefahren. Dort sah ich mit Wut und Trauer und Enttäuschung, wie Angehörige der Grenztruppen der DDR mit Preßlufthämmern den Asphalt vor dem Tor aufbohrten. Ich sah tatenlos zu und eine andere Verhaltensweise wäre wider alle Vernunft gewesen. Aber das Hämmern klingt mir noch heute in den Ohren, wenn ich an den 13. August 1961 denke.

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[Potsdam, Brandenburg -Quitzöbel
Neuwerben bei Havelberg/Elbe, damals DDR;
Juli 1961-Mai 1963]

Rudolf Bentz
Republikflüchtige Aale

Die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR war - wieder einmal - schlecht oder treffender gesagt, katastrophal. Nach der Methode "Haltet den Dieb!" gab es in der Presse eine große Kampagne über "Schieber aus dem Westen", die ihr Westgeld in Ostgeld umtauschten und dann in Ost-Berlin hochwertige Waren und subventionierte Lebensmittel einkauften. Die bereits stark angeschlagene Stimmung der Menschen wurde durch kleinliche Schikanen noch mehr angeheizt, zum Beispiel gegenüber jenen, die Mitte Juli 1961 zum Kirchentag nach West-Berlin fuhren.

Ende Juli 1961 setzten sich an einem einzigen Tag rund 1900 DDR-Bürger nach West-Berlin ab, und einen Tag nach dem Mauerbau ließen sich dort rund 7000 als Flüchtlinge registrieren. In Potsdam wurden die Parkplätze gesperrt. Viele Leute kamen nämlich per Auto, stellten ihr Fahrzeug dann einfach irgendwo ab und nahmen die S-Bahn nach West-Berlin. Am 1. August zählte ich auf einem dieser Parkplätze 20 herrenlose Autos. Die DDR blutete aus. Daß die Regierung dagegen etwas unternehmen mußte, war verständlich, nur mit einer Mauer "zum Schutz unserer Bürger vor den imperialistischen Klassenfeinden" hatte keiner gerechnet.
Anfang August 1961 verbrachte meine Familie im Berliner Umland, in Prieros, ihren Urlaub. Wir badeten, angelten, fuhren mit dem Kahn und sammelten Pilze. Außerdem halfen mein Sohn und ich den Wirtsleuten bei der Roggenernte. Radio hörten wir nicht, wir machten ja Urlaub. So erfuhren wir im Laufe des 13. August erst von anderen Leuten, die aus Berlin gekommen waren, von den Ereignissen. Wegen der aus unserer Sicht völlig unklaren Situation beschlossen wir, den Urlaub abzubrechen und nach Hause zu fahren.

Gleich am nächsten Tag begab ich mich zu meiner Dienststelle, der Wasserwirtschaftsdirektion Potsdam. Das Direktionsgebäude befand sich damals in der Menzelstraße, also nahe der Glienicker Brücke. Am Ufer der Havel liefen bewaffnete Posten Streife, die Brücke nach West-Berlin, die den bezeichnenden Namen "Brücke der Einheit" trug, war nicht mehr passierbar.

Anfang April 1961 hatte ich eine leitende Funktion in der Wasserwirtschaftsdirektion Potsdam übernommen. Mein neues Aufgabengebiet erstreckte sich auf wasserwirtschaftliche Aufgaben im Einzugsbereich der rund 340 Kilometer langen Havel mit allen ihren Nebenflüssen, außer der Spree. Vier Oberflußmeistereien, in Neuruppin, Neustadt/Dosse, Genthin und Trebbin, mit 48 Schleusen zählten dazu. Die Anzahl der Wehre, Schöpfwerke und dergleichen Bauten dürften einige Hundert betragen haben.

Im Mai 1962 führte der wissenschaftlich-technische Beirat des Amtes für Wasserwirtschaft seine jährliche Beratung durch, die diesmal mit der Besichtigung und Erläuterung der Wehrgruppe Quitzöbel - Neuwerben an der Mündung der Havel in die Elbe verbunden war. Etwa 30 Mitarbeiter der Bereiche Wasserwirtschaft, Wasserstraßenverwaltung und Landwirtschaft, der Räte der anliegenden Kreise und Bezirke sowie aus anderen Institutionen hatten sich im Tagungslokal in der Nähe der großen Wehrgruppe nördlich von Havelberg versammelt. Als Vertreter der Direktion, in deren Bereich sich die Anlage befand, nahm ich an der Beratung teil. Nach der Mittagspause mit einem ansehnlichen Essen begann die Diskussion. Dabei beklagte ein Vertreter der Binnenfischerei, daß ein beträchtlicher Teil der Aale, nachdem sie sich mehrere Jahre lang in Gewässern der DDR - sozusagen auf Staatskosten - gemästet hätten, während ihrer großen Rückwanderung havel- und elbabwärts hin zum Atlantik innerhalb der Bundesrepublik gefangen und in kostbaren Rauchaal verwandelt würde. Dem sei entschieden entgegenzutreten. Eine Fangeinrichtung am letzten großen Wehr auf DDR-Seite könne Abhilfe schaffen.



Aalflucht in den Westen? - Aber nicht mit uns! Also wurde die Wehranlage Quitzöbel nördlich von Havelberg 1962 mit einer Fangvorrichtung versehen. Das Wehr ist die letzte Staustufe der Havel vor der Einmündung in die Elbe und hat sich 2002 im Hochwasserschutz bewährt. Das Foto aus dem Jahr 2003 zeigt das alte, 1936 gebaute Wehr.


Alle, einschließlich unser oberster Chef, hatten ein Einsehen in diese hochrangige Angelegenheit. So wurde angewiesen, der an der Wehrgruppe ansässigen Fischereiproduktionsgenossenschaft die Genehmigung zur Installierung einer Fanganlage am mittleren Wehrpfeiler zu erteilen. Damit war das Thema vorerst beendet.

Ein Jahr später ereilte uns die Kunde, daß es an dieser Wehranlage "brenne". Den wahren Grund aber konnte oder wollte niemand nennen. Jedenfalls gab es dort ständig Reibereien. Ich fuhr nach Quitzöbel, wo wir alle Interessenten zu einer Besprechung eingeladen hatten. Ich leitete die Veranstaltung. Es gelang mir jedoch nicht herauszufinden, worauf all das Gerede hinauslief.

In einer Pause nahm ich mir den alten Wehrwärter beiseite und fragte ihn, was hier eigentlich gespielt werde. Zögernd ließ er die Katze aus dem Sack. Mit ostpreußischem Akzent und hinter jedem Halbsatz "doch" sagend, erzählte er: Einer der Wehrwärter habe sich wunderbare Gänse herangefüttert, von denen gut die Hälfte zum kommenden Weihnachtsfest den Weg nach West-Berlin nehmen sollte. Die "Vögelchen" seien so friedlich oberhalb des Wehres dahingeschwommen, bis sie plötzlich beschlossen hätten, sich lieber unterhalb des Wehres zu tummeln. Alle 15 hätten sich erhoben, aber aus irgendeinem Grund es nicht geschafft, über die Wehrbrücke zu fliegen, sondern setzten unter der Brücke auf das Wasser auf. Dort habe sie die starke Strömung in die etwa einen halben Meter über den Wasserspiegel ragende Oberkante des Fangnetzes gedrückt, wodurch ihr Gänseleben beendet worden sei. Das war es also!

Nach der Pause kamen wir relativ schnell auf einen Nenner. Die Fischer konnten zwar ihre Fanganlage behalten, das Netz durfte aber nicht mehr über die Wasseroberfläche hinausragen. Ganz abgesehen von den Gänsen, hätte das Netz auch für Menschen zur Todesfalle werden können. Korrekterweise hätte es überhaupt nicht angebracht werden dürfen. Wurde aber eine Sache, wie in unserem Fall die "republikflüchtigen" Aale, politisch verbrämt, spielten Vorschriften nur noch eine untergeordnete Rolle.

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[West-Berlin - Grenzkontrollstelle Helmstedt-
Marienborn - Hannover, Niedersachsen;
1962]

Marianne Doerfel
Blinde Passagiere

Am Jahresende 1961 war ich zurückgekehrt nach Berlin, um dort zu promovieren. Sieben Jahre waren vergangen, seit ich sie 1955 schweren Herzens verlassen mußte. Im ersten eigenen Auto fuhr ich nun durch die Stadt und fühlte mich nicht mehr als "Insulaner". Jetzt konnte ich jederzeit Freunde im Westen besuchen, wenn es mich hinauszog, eine Freiheit, die ich nach den Jahren des dürftigen Studentenlebens sehr bewußt erlebte. Damals konnte man nur mit dem Bus oder dem Interzonenzug in den Westen reisen, brauchte dazu einen Interzonenpaß. Das änderte sich zwar nach einigen Jahren, aber es war doch ein anderes Gefühl, einfach mit dem Auto durch die Clayallee und die Potsdamer Chaussee in Richtung Wannsee zum Kontrollpunkt Dreilinden fahren zu können und legal weiter, über die bedrückende Grenze zu rollen.

Für die Fahrt von und nach Berlin über eine der Transitstrecken mußte sorgfältig gepackt werden. Keine Drucksachen, vor allem keine Zeitungen, keine Briefe, die offensichtlich erst im Westen eingesteckt werden sollten. Bei Fotoapparaten mußte der Film herausgenommen werden, sonst bestand der Verdacht, daß man unterwegs fotografiert hatte. Anhalten war verboten, die Volkspolizei hielt sich in den Wäldern versteckt, Streifenwagen fuhren die Strecke ab.

"Achtung! Hier Ende von West-Berlin!"
Schon wieder eines dieser lästigen Schilder. Der Grenzübergang mit seinen trübseligen Baracken, improvisiert, etwas abseits die Kontrollstation für die Alliierten.
"Personalausweis bitte! Wohin?" - "Nach Hannover."
"Allein?" - "Ja."
"Keine Bücher oder Zeitschriften dabei?" - "Nein."
Der West-Berliner Grenzpolizist nickt: "Weiterfahren, gute Reise!"
Auf der Ostseite, an der Kontrollstelle Drewitz, geht es umständlicher zu, die Grenzpolizei ist auf erhöhte Wachsamkeit trainiert. Erste Kontrolle im Fahrzeug, dann zur Baracke, aussteigen, Papiere aushändigen. Transit-Passierschein ausfüllen, Stempel, Unterschrift und Einlaß in die DDR.

Die Straße ist baufällig, auf den unebenen Betonplatten schaukelt man dahin. Das Tempolimit ist überflüssig, man muß sowieso darunter bleiben …

lrxleben, Rottmersleben, Nordgermersleben, oft gehörte Namen, aber unbekannte Orte. Es ist ein kühler Tag, Herbstwetter. Die Ortschaften wie ausgestorben zwischen Waldstücken, Feldern, nirgendwo ist Licht zu sehen, kein Traktor oder Pferdefuhrwerk ist unterwegs. Dann taucht der erste Wachturm auf. Langsam heranfahren. Einige Wagen warten vor mir. Papiere bereithalten.
Der Grenzsoldat schlendert heran und fragt: "Transit von West-Berlin?"
"Ja." - "Allein?" - "Ja."
Ein kurzer Blick in den Wagen, dann erhalte ich die Papiere zurück.
Etwa 30 Meter weiter die nächste Kontrolle. Warten. Der vorderste Wagen wird gerade auf blinde Passagiere untersucht. Motorhaube öffnen, Gepäckhaube öffnen, Rücksitz hochheben. Prüfung des Fahrzeugbodens mit dem schräggestellten Spiegel auf kleinen Rädern, von vorne, von beiden Seiten, von hinten. Noch zwei Wagen, dann bin ich dran.

Es dauert ziemlich lange, bis endlich der vorderste Wagen weiterfährt. Schnell die Tür öffnen, vielleicht kann man etwas sehen. Tatsächlich, da vorn muß irgendetwas Ungewöhnliches vor sich gehen. Neben den beiden Grenzsoldaten steht ein Offizier, hinter ihm zwei junge Leute in Zivil, ein Mann und eine Frau. Es sieht aus, als ob sie nicht dazu gehören, vielleicht haben sie eine Panne. Der Kleidung nach zu urteilen kommen sie aus Westdeutschland. Der Offizier spricht mit dem Fahrer des Fahrzeugs vor mir. Als es abgefertigt ist, weiterfährt, werde ich herangewinkt. Motor abstellen, aussteigen, Papiere. Handschuhfach öffnen, Gummimatten hochheben, Blick in die Seitenfächer an den Türen, unter die Sitze. Der Spiegelwagen wird um mein Auto geführt, das Gepäck steht auf der Straße.

"So, Sie können wieder einpacken, hier sind die Papiere."
Jetzt tritt der Offizier an mich heran. Es ist ein Oberleutnant, gut dreißig Jahre alt. Höflich fragt er mich, ob ich "die Herrschaften" wohl bis zur Grenzbaracke mitnehmen könnte, mit ihren Papieren sei etwas nicht in Ordnung, sonst müßten sie die gut 300 Meter zu Fuß laufen. Er selbst würde auch mitkommen, "damit die Sache in Ordnung geht".

Unter den Augen der Posten steigen alle drei bei mir ein. Sie haben es offenbar eilig. Noch während ich auf der hinteren Bank Platz mache, steigt der Oberleutnant hinten ein - und setzt sich prompt auf meine Handtasche, ohne es zu bemerken! Die junge Frau setzt sich neben ihn, der junge Mann vorne auf den Beifahrersitz. Wir fahren ab. Der Offizier macht sogleich Konversation, spricht über das Wetter, den Straßenzustand, die Annehmlichkeit, jetzt nicht zu Fuß gehen zu müssen, und da er selbst mitkäme, könne die Angelegenheit rasch erledigt werden. Ich frage die jungen Leute, ob sie gleich weiter mitfahren wollten. Wohin ginge denn ihre Reise?
Nach Braunschweig, die Karten hätten sie schon.
Karten - ob sie Fahrkarten meinen? Oder Busfahrkarten? Aber wie waren sie hierhergekommen?

Einen Wagen habe ich nicht gesehen, und der nächste Bahnhof mußte eigentlich ziemlich weit entfernt sein. Vermutlich waren sie aus einem Bus geholt worden. Doch in Gegenwart des Offiziers mag ich nicht weiter fragen.

Bei der nächsten Kontrolle blickt der Posten mich stumm an, denn auf dem Passierschein ist nur eine Person aufgeführt. Gelassen beruhigt der Oberleutnant: "Das geht in Ordnung, Genosse, ich bringe nur die Herrschaften zur Kontrollbaracke."

Kein Kommentar, meine Papiere werden zurückgegeben. Ankunft bei der Kontrollbaracke. Nun muß ich aussteigen, in der Baracke alle Papiere vorlegen. Auch meine Mitreisenden steigen aus, das erwartete Dankeschön oder ein kurzes Abschiedswort bleiben jedoch aus.

"Sie brauchen nicht abzuschließen", sagt der Offizier, "wir warten hier".
So gehe ich allein zur Baracke, finde mich eingekeilt in die Menge der Wartenden, die meist stumm vor sich hinblicken. Langsam rücke ich näher an das kleine Abfertigungsfenster, kann schließlich meine Papiere hineinreichen. Wieder warten, bis zum Aufruf. Endlich wird mir alles zurückgegeben, mit Stempel auf dem Passierschein. Als ich zu meinem Auto zurückkehre, stehen meine Mitreisenden wieder - oder noch? - daneben und blicken mir entgegen.

"Alles erledigt?" fragt der Offizier freundlich und steigt zu meiner Überraschung wieder in meinen Wagen, ebenso die beiden anderen Reisenden. Sie haben ostdeutsche Ausweise, das habe ich vorhin bemerkt. Ob sie inzwischen bei einer anderen Abfertigung gewesen waren?

Stumm sitzen meine drei Fahrgäste neben und hinter mir. Der Offizier hat sich tief in die Ecke gedrückt. Das Rückfenster beim VW-Cabriolet, Baujahr 1959, ist nur klein, von hinten kann man nicht sehen, wie viele Personen in dem Wagen saßen. Auch das hintere Seitenfenster ist nicht sehr groß, das schwarze Stoffdach verengt den Aus- und Einblick. Nach wenigen Metern letzte Kontrolle vor dem Schlagbaum: "Die Papiere bitte!"
Der Posten blickt auf meinen Passierschein, sieht den Beifahrer und stutzt: "Hier steht nur eine Person - wieso sehe ich hier noch eine, nein, drei weitere Personen?"

Er fordert sie auf, die Ausweise zu zeigen, ich soll den Motor abstellen. Meinen Ausweis hält er noch in der Hand. Schweigend reichen ihm meine zivilen Mitfahrer ihre ostdeutschen Ausweise. Er studiert sie genau.

"So, und was ist mit dir, Genosse?"
Nun sucht der Offizier noch einmal mit dem schon bekannten Satz zu beruhigen, es sei alles in Ordnung, die Papiere hätten überprüft werden müssen, deswegen sei er mitgekommen.
Doch der Posten erklärt in breitem Sächsisch: "Die drei auf dem Passierschein nicht aufgeführten Personen steigen jetzt aus!" Zu mir: "Sie können sitzenbleiben."
Zögernd steigt der junge Mann aus, die Frau folgt ihm.
"Na und du, Genosse? Willst du nicht auch aussteigen?"
Der Offizier zeigt sich erstaunlich gelassen. "Wieso denn, ich bin ja schon dabei, muß doch erst mal hier rauskommen, es ist ziemlich eng ..."
Er ist großgewachsen und muß sich tief bücken, um aus dem Fond herauszuklettern.
Der Posten beobachtet ihn jetzt mit einem hämischen, zufriedenen Grinsen: "Na, das wollte ich doch meinen. War wohl Trick Nr. 17, was?"
Gleich darauf reicht er mir meinen Ausweis zurück: "Sie fahren jetzt weiter, da vorn ist die Schranke."

Er winkt dem Posten am Schlagbaum zu, ich lasse den Motor an. Meine Mitfahrer blicken mich nicht einmal an, stehen da, mit versteinerten Gesichtern. Als ich noch einmal zurückblicken will, drängt der Posten: "Worauf warten Sie noch? Sie können fahren, habe ich doch gesagt!"

Also langsam, langsam das kurze Stück bis zum Schlagbaum, er ist bereits hochgezogen. Zwischen den beiden großen Betonblöcken rechts und links, die auf Schienen gelagert sind, um jede halsbrecherische Durchfahrt sofort aufhalten zu können, holpert der Wagen über die Grenze.

Ich bin zu benommen, um nachdenken zu können. Von dem Augenblick, als die drei zum zweiten Mal bei mir einstiegen, habe ich nur noch mechanisch reagiert. Ein Offizier der Volksarmee in voller Uniform besteigt zehn Meter vor dem Schlagbaum, angesichts von ungezählten Zeugen mit und ohne Uniform, ein VW-Cabriolet mit westdeutschem Kennzeichen - das ist einfach unfaßlich!

Erst als das ovale Schild mit dem schwarzen Adler auf ockergelbem Grund und der Umschrift "Bundesrepublik Deutschland" vor mir auftaucht, beginne ich, wieder normal zu atmen. Wie immer weckt die grüne Uniform der westdeutschen Grenzer ein tiefes Gefühl der Erleichterung. Aber sprechen, berichten, kann ich nicht. Die Lähmung weicht nur langsam. Der Übergang auf die glatte, ebene Fahrbahn ohne das ständige dumpfe Geräusch heim Überfahren von abgebrochenen Kanten der Betonplatten beruhigt. Kein Schütteln und Rütteln mehr, der Körper entspannt sich.

Erst jetzt beginnt das Nachdenken. Trick Nr. 17. Ein Schlagwort der Zeit, irgendwann aufgekommen. Es konnte nicht anders sein - das war ein tollkühner Fluchtversuch gewesen!

Ahnungslos habe ich mitgemacht. Der Oberleutnant hatte vermutlich den Dienstplan gekannt und mit einem anderen Posten bei der letzten Kontrolle gerechnet. Vielleicht mit einem Bekannten, der eingeweiht war.

Immer noch zweifele ich an den Fakten, die eine so deutliche Sprache sprachen. Immer wieder rufe ich mir die letzte Szene ins Gedächtnis. Es schien, als wollten sie mit mir weiterfahren, auch nach der letzten Kontrolle. Weiterfahren in den Westen. Fast hätten sie es geschafft, der Posten an der Schranke prüfte nicht mehr, er war nur für das Öffnen und Schließen zuständig. Gleich hinter mir war die Schranke wieder heruntergegangen, das hatte ich im Rückspiegel gesehen. Meine drei Fahrgäste konnte ich nicht mehr entdecken. Wo mochten sie jetzt sein? Schon beim Verhör?

Nach der Ankunft bei Freunden in Hannover wurde mir allmählich klar, welches Risiko der Offizier mir aufgebürdet hatte. "Deinen Wagen hättest du gleich verkaufen können", hieß es. "Die haben doch die Nummer vom Chassis und vom Motor notiert oder fotokopiert und deinen Führerschein auch, mit allen Angaben, du hättest überhaupt nicht mehr über die Grenze fahren können. Fluchthelfer - und dann noch bei einem Offizier der Volkspolizei, das gibt mindestens fünf Jahre! Die hätten dir doch nie im Leben geglaubt, daß das nicht verabredet war, schon dein Studium an der Hochschule für Politik macht dich verdächtig."

Überhaupt, so fanden sie, war es erstaunlich, daß man mich so ohne weiteres hatte die Reise fortsetzen lassen. Der Posten war wohl so überrascht von seinem unglaublichen Fang, daß er mich darüber vergessen hatte. "Du kannst froh sein, daß er sie rausgeholt hat, so leid es einem auch tut für die armen Leute."

Bei der Rückfahrt, einige Wochen später, flatterten die Nerven. Zögernd ging ich in die graue Grenzbaracke mit den verhangenen Fenstern, reichte meine Papiere dem Uniformierten hinter dem Fenster. Jetzt mußte es sich entscheiden - würde man mich zum Verhör holen? Hätte ich vielleicht doch lieber den Motor austauschen sollen?

Ich mußte lange warten, so schien mir, länger als andere. Aber dann wurde meine Nummer aufgerufen, die Papiere wurden zurückgereicht, ohne weitere Kommentare. Nun begann die Phantasie zu arbeiten. Vielleicht hatten sie in Berlin angerufen, von dort einen Wagen losgeschickt, der mich unterwegs anhalten würde, um kein Aufsehen an der Grenze zu erregen, oder einer fuhr hinter mir her, oder es nahm mich jemand am Grenzübergang Drewitz in Empfang?

Es wurde eine unheimliche Fahrt. Doch es gab keine Folgen. Was immer bei dem Verhör gesagt worden war, der "Fluchtwagen" blieb unbeachtet. Auch bei der nächsten und übernächsten Reise gab es keine Fragen und die Nervosität schwand. Nur die Erinnerung blieb, an drei Unbekannte, die alles gewagt und alles verloren hatten.

(In "Mauer-Passagen" ist noch eine weitere Geschichte von Marianne Doefel veröffentlicht. In "Kannitverstan" erzählt sie von einem Anwerbungsversuch der Staatssicherheit beim Grenzübergang Bornholmer Straße nach Ost-Berlin.)

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[West-Berlin - Kyritz, Brandenburg -
Neustadt/Dosse - Kontrollpunkt Drewitz;
- damals DDR,
60er bis 80er Jahre]

Hans Peter Kutscha
Meine Volkspolizisten

"Was? Sie haben bei der Grenzkontrolle immer in der Autoschlange gestanden, die am langsamsten abgefertigt wurde? Das kann gar nicht sein! Da hätten wir uns doch treffen müssen."

Jeder Zeitgenosse, den ich vor oder nach der Wende über seine Erlebnisse an der deutsch-deutschen Grenze befragte, reagierte so oder ähnlich. Vor dem Berlin-Abkommen der Alliierten von 1971 gestaltete sich eine Transitreise von West-Berlin durch die DDR in die Bundesrepublik äußerst schwierig. Sie war mit langwierigen Prozeduren verbunden. Von den zahlreichen Begegnungen mit den Grenzpolizisten verliefen die meisten "normal". Die bizarren aber haben sich fest in mein Gedächtnis eingegraben …

Der Pfiffikus
Mein Freund und ich wollten zum Fischen nach Ratzeburg. Am Kontrollpunkt Staaken rückten wir, während das Auto auf dem Parkplatz stand, zu Fuß inmitten der Menschenschlange langsam Schritt für Schritt in Richtung Grenzbaracke vor. Endlich erreichten wir einen der Schalter. Der hinter dem Fenster sitzende uniformierte Zollbeamte heischte, den Grenzbestimmungen der DDR folgend, von uns Auskunft über unsere Westgeldbeträge und andere mitgeführte Wertgegenstände. Die Frage nach einem Fotoapparat hatte mein Freund bereits verneint. Er ergänzte freiwillig: "Wir führen aber einen Bootsmotor mit."
"Welche Marke?" wollte der Zöllner wissen.
"Evinrude."
"Wie heißt das Ding?"
Langsam, gleichsam buchstabierend, wiederholte mein Freund: "Evinrude!"
Der Beamte schien etwas verwirrt. Nach kurzem Zögern entschied er: "Is' gut, ich schreib' einfach: Ein Bootsmotor!"

Der sächsische Spiegel
Bei erfahrenen Ost-West-Reisenden standen Grenzpolizistinnen im Ruch, strenger zu sein als ihre männlichen Kollegen. Ich machte eine andere Erfahrung.
Wer von den Westberliner Autofahrern kannte ihn nicht, den großen, rechteckigen Spiegel, der auf einem Fahrgestell mit zwei Rädern ruhte, die reflektierende Fläche nach oben. Gesteuert wurde dieses Kontrollinstrument mit einer langen geschwungenen Stange, was dem Kontrolleur erlaubte, jeden Quadratzentimeter des Fahrzeug-Unterbodens zu beäugen. Meist führte der Beamte auch einen langen, biegsamen Stab aus geflochtenem, weißlackierten Draht mit sich. Er fädelte ihn in den Stutzen des Benzintanks ein. Durch intensives Stochern versuchte der Polizist, eine eventuell an diesem Ort versteckte Konterbande aufzuspüren.
An einem Sonntagmorgen wollten meine Frau und ich nach Stendal reisen. An der Kontrollstelle Drewitz unterwarfen wir uns den üblichen Prozeduren und reichten unsere Reisedokumente aus dem Seitenfenster. An diesem Tag führte eine Polizistin die Spiegelkontrolle durch. Gleich nach ihrem ersten prüfenden Hinschauen kam die kategorische Aufforderung: "Steichen Se bidde mal aus!"
Ich gehorchte mit mulmigem Gefühl in der Magengrube.
"Gucken Se mal nei!"
Ich guckte. Aufgrund ihres Tonfalls erwartete ich, das Spiegelbild eines fluchtbereiten, am Unterboden meines Autos sich festkrallenden Einheimischen zu erblicken. Gott sei Dank, Fehlanzeige! Ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Fragend sah ich zur filia saxoniae hinüber.
Leicht den Kopf schüttelnd, meinte sie, nunmehr mit einem gewissen mitleidigen Ton in der Stimme: "Sähn Se wärklich nischt?"
"Nein", erwiderte ich nervös und zermarterte mein Gehirn. Man konnte ja nie wissen, ob nicht eine neuartige Schikane auf einen wartete.
"Nu! Ihr Ausbuff hat zwee gleene Löcher, dän wärn Se wohl balde rebariern lassen müssen!" lautete die verblüffende Aufklärung.
Aufatmen. Erleichtert bedankte ich mich von ganzem Herzen für den wohlgemeinten Rat. Mit einem verschmitzten Lächeln und dem Wunsch für einen angenehmen Aufenthalt in der DDR wurden wir von ihr in Gnaden entlassen.

Der Schizophrene
Einmal sollte uns die Fahrt in den kleinen brandenburgischen Ort Neustadt an der Dosse führen. Unser Kirchenchor gedachte, dort bei der Einweihung einer Orgel mitzuwirken. Auf dem Hinweg wollten wir zudem den legendenumwobenen, mumifizierten Ritter Kahlbutz besuchen. Die Sänger fuhren getrennt in eigenen PKWs, eine gemeinsame Busfahrt wäre von den DDR-Behörden nicht genehmigt worden. Schon gegen fünf Uhr morgens bogen wir am Kontrollpunkt Staaken in die vorgeschriebene Fahrspur ein. Wir waren um diese Zeit die einzigen "Kunden".
Aus dem Schlagschatten einer Baracke löste sich eine Gestalt. Wir harrten der üblichen Rituale. Der Grenzer legte grüßend die Hand an die Mütze: "Guten Morgen! Ihre Papiere bitte!" Mit scharfem Blick verglich er aufmerksam das Foto im Ausweis mit dem lebenden Original.
"Wohin fahren Sie?"
"Nach Neustadt an der Dosse."
"Komisch", bemerkte er, "ist da heute was Besonderes los? Sie sind bereits das dritte Auto nach Neustadt!"
Wir gaben uns verwundert: "Keine Ahnung!"
Er reichte uns die Papiere zurück und verwies auf das seitlich gelegene, niedrige Holzgebäude. Dort sollte der 1:1-Pflichtumtausch von 25 DM pro Person in Mark der DDR stattfinden. Er selbst machte sich ebenfalls in Richtung Baracke auf den Weg. Wir betraten den Flachbau. Wer saß dort barhäuptig hinter dem Schalterfenster? Unser Grenzpolizist!
Meine Frau schob ihm die Geldscheine zu. Er jedoch machte keine Anstalten, sie entgegenzunehmen. Seelenruhig setzte er seine Dienstmütze auf, wünschte uns erneut einen "Guten Morgen" und verlangte unsere Reisedokumente.
Ungläubig blickten wir erst uns, dann ihn an. Wollte er uns auf den Arm nehmen? Vor eben einer Minute hatte er uns doch nach ausführlichem Studium unsere Ausweise wieder in die Hand gedrückt. Zeit zum Überlegen blieb nicht, denn schon deutlich ungnädiger und mit erhöhtem Stimmaufwand wiederholte er: "Ihre Dokumente bitte!"
Im Geiste den Kopf schüttelnd, taten wir, wie uns geheißen. Unbeeindruckt von unserer Verwirrung verglich er abermals die Fotos mit unseren Gesichtern. Danach gab er Ausweise und Einreiseberechtigungen zurück und begann gleichmütig die Formalitäten des Geldumtausches abzuwickeln.

Der Pädagoge
An einem Dezembertag brachen wir von West-Berlin aus zum Besuch des Weihnachtsmarktes nach Lübeck auf. Seinerzeit war der Ausbau der Autobahn Richtung Hamburg noch nicht abgeschlossen. Man fuhr auf der Bundesstraße 5 bis zum Grenzübergang Lauenburg. Da ich mehrmals im Jahr zum Fischen in den Norden fuhr, kannten mein Wagen und ich diese Strecke aus dem Effeff. Etwa einen Kilometer vor dem eigentlichen Grenzgebiet stoppte uns ein Grenzbeamter. Natürlich hielt ich brav an und reichte unaufgefordert die Reiseunterlagen aus dem Auto. Der Vopo nahm sie und sagte nach einigen Minuten genauen Studiums der Papiere wie beiläufig: "Wenn Sie die Straßen der DDR befahren, Herr Kutscha, müssen Sie auch die Vorschriften der DDR befolgen!"
Ich bejahte pflichteifrig, war mir aber keiner Schuld bewußt.
"Steigen Sie bitte aus!" verlangte der Grenzer mit vorwurfsvoller Miene.
Mit einiger Beklemmung folgte ich der Aufforderung.
"Drehen Sie sich um, und gehen Sie die Straße zurück, und zwar solange, bis ich Halt rufe!"
Was sollte ich machen? Ich gehorchte und kam mir dabei - als gestandener Lehrer - wie ein ungezogener Schüler vor, der in die Ecke geschickt wird. Nach ungefähr fünfzig Metern erscholl das "Halt!", dann der Ruf: "Umdrehen!"
Ich parierte.
"Was sehen Sie auf der rechten Straßenseite?"
Langsam erschien mir die Situation grotesk. Ich brüllte zurück: "Ein Schild mit der Aufschrift: Halt! Weiterfahrt nur auf Handzeichen."
"Jetzt können Sie wieder zurückkommen!"
Ich konnte mir den Einwand nicht verkneifen: "Dieses Schild hat in der vorigen Woche noch nicht dort gestanden! Ich bin diese Strecke doch erst am Sonnabend gefahren."
"Stimmt", gab er ungerührt zu. "Da sehen Sie mal, wie wichtig es ist, ständig die Augen offen zu halten! Ich nehme an, Sie beherzigen meine Mahnung, denn das nächste Mal kommen Sie mir nicht so glimpflich davon!"
Er gab die Papiere zurück, hob seine Hand grüßend an die Dienstmütze und hieß mich weiterfahren.

Die Stimme vom Turm
"Ein Spaziergang wird uns guttun!" Meine Frau hatte recht, bei diesem strahlenden Sonnenschein mußte man einfach ins Grüne. Wenig später stand unser Auto auf dem Parkplatz in der Nähe des Hubertussees in Frohnau. Der kleine Teich liegt in einem West-Berliner Waldstück, das damals wie ein Auswuchs in das Gebiet der DDR hineinragte. Die Erbauer der Befestigungen hatten diese hier im Umfeld des Sees einige Meter vor der Grenze errichtet. Nur die von den westlichen Behörden aufgestellten Schilder: "Halt! Sie verlassen den französischen Sektor!" deuteten auf den tatsächlichen Grenzverlauf hin.
"Laß uns einen Blick über die Grenzanlagen tun", schlug meine Frau vor, und schon war eine kleine, sandige Anhöhe erklommen. Höchstens dreißig Meter vor uns begannen die Sperranlagen: der hohe Drahtzaun, danach der Stacheldraht. Dahinter liefen große Wachhunde unruhig, aber aufmerksam an langen Führungsleinen hin- und her. Nach einem schmalen, geharkten Sandstreifen zog sich die Betonstraße für die Fahrzeuge der Nationalen Volksarmee hin, und, etwas weiter entfernt, ragte der große Wachturm aus Beton in den blauen Himmel. Seine Fenster, hoch oben angebracht, gestatteten den östlichen Wachposten einen ungehinderten Blick nach allen Seiten. Wir verharrten vielleicht einige Sekunden an diesem Platz, als uns eine herrische Stimme zusammenfahren ließ. Über Lautsprecher scholl es vom Wachtturm herüber: "Bürger der selbständigen Einheit Westberlin! Sie befinden sich widerrechtlich auf dem Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik! Wir fordern Sie auf, unverzüglich die Grenzverletzung zu beenden und das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen!"
Gleich danach wiederholte die Stimme in demselben drohenden Tonfall den Befehl.
Wir taten dem unerbittlichen Grenzschützer den Gefallen und bewegten uns die zwei Meter bis hinter das Schild. Mehr aus Trotz denn aus Neugier verharrten wir noch eine Weile, bis wir betroffen zurück zum Auto schlenderten.

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[Halle/Saale -Grünheide bei Erkner, Brandenburg - Autobahnkontrollpunkt Beelitz, damals DDR - Berlin-Grünau - Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße;
1969 - Mai/Juli 1970]

Hans-Joachim Musiol
Vorkommnisse

Von 1968 bis 1972 studierte ich an der Universität in Halle an der Saale Pädagogik, Französisch und Geschichte. Das Literaturangebot in Französisch war mehr als dürftig. Im "Internationalen Buch", der einzig passenden Buchhandlung, hatten die Romanistikstudenten die zwei Regalreihen schnell durchgesehen. Besonders haperte es an einsprachigen Wörterbüchern und an Belletristik. Wir bekamen eine lange Liste an Pflichtlektüre, aber davon gab es kaum etwas zu kaufen. Selbst die Lehrbuchreihe, mit der ein wesentlicher Teil der Sprachausbildung bestritten wurde, war nicht im DDR-Buchhandel erhältlich. Also mußte das alles "besorgt" werden, und das ging nur über Kontakte ins westliche Ausland. Einerseits hieß es "Abgrenzung vom Klassenfeind", andererseits war jeder von uns das gesamte Studium über damit beschäftigt, seine "Westkontakte" zu intensivieren - vor allem nach Frankreich. Selbst die Dozenten und Lehrer hielten uns dazu an, alle Möglichkeiten zu nutzen, um mit der Sprache immer wieder in Kontakt zu kommen und sich "Sachen mitbringen" zu lassen.

Unser größtes Problem war die Anwendung der Fremdsprache außerhalb des Institutes. Eine Reise oder gar ein Studienaufenthalt in Frankreich - undenkbar!

Deshalb konnte man zur Leipziger Messe an französischsprachigen Ständen oft Mitstudenten treffen. Ich hatte mir im lnterhotel in Halle, das zur Messezeit ausschließlich mit westlichen Gästen belegt war, einen Job gesucht: Kofferträger, nachts Schuhputzer, Autowäscher und Dolmetscher an der Rezeption. Alles, was im Hotel französischsprachig ablief, regelte ich, der Hotelboy. Ich war zufrieden, konnte ich doch Französisch sprechen, genoß eine gewisse Sonderstellung und die Trinkgelder konnten sich auch sehen lassen, zumal es Westgeld gab!

Eine andere Möglichkeit des Sprachkontakts eröffnete sich uns Studenten bei Dolmetschereinsätzen in den Semesterferien. Die DDR wollte ihre Errungenschaften auch im westlichen Ausland publik machen. So kam es unter Mithilfe der "Gesellschaft DDR - Frankreich" zu einem Schüleraustausch, allerdings nur einseitig. Das war Klassensolidarität: arme französische Arbeiterkinder, die es sich nicht leisten konnten, in die Ferien zu fahren - die SED machte es möglich. In Frankreich, von der Kommunistischen Partei organisiert, bezahlten die Franzosen nur einen Bruchteil dessen, was der Aufenthalt eigentlich kostete. Dabei waren es recht komfortable Ferien; viel, sehr viel, wurde geboten! Auf diese Weise verbrachten jedes Jahr Tausende junger Franzosen ihren Sommerurlaub in der DDR. Im Sommer 1969 verlebte ich als Betreuer vier wunderschöne Wochen im Betriebsferienlager des VEB Funkwerke Köpenick in Grünheide bei Erkner. Für einen angehenden Lehrer war das einfach perfekt! Arbeit mit Kindern, von früh bis abends Französisch, und dazu wurde diese Tätigkeit auch noch bezahlt!

Mit Denis, dem französischen Betreuer der etwa 20köpfigen Gruppe - offiziell Delegation genannt - bahnte sich bald eine Freundschaft an. Schon während dieses ersten Einsatzes wurde angefragt, ob ich im kommenden Jahr wieder zur Verfügung stünde. Natürlich sagte ich zu, und auch Denis wollte im nächsten Jahr wiederkommen. In unzähligen Gesprächen mit den französischen Gästen fiel mir auf, daß die Franzosen fast nichts von der DDR wußten. An Politik waren sie nicht sonderlich interessiert und bei der obligatorischen Darstellung der "Errungenschaften" unseres sozialistischen Staates hörten sie nur höflich zu. In Berlin nun wurde aber DDR-Politik sichtbar durch Mauer und strenges Grenzregime. Das stieß in der Regel auf wortloses Darüberhinwegsehen. In den vielen Jahren, die ich als Dolmetscher gearbeitet habe, gab es kaum einen französischen Jugendlichen, der zur Teilung Berlins Zustimmung geäußert hätte.

Und da gab es noch eine Kleinigkeit, oder sollte man dazu besser sagen, eine grobe Unhöflichkeit?

Normalerweise wird ein Gast nicht an der Bahnhofstür, sondern am Zug, verabschiedet. Aber was war schon normal im Grenzbahnhof Friedrichstraße? - Nicht auf dem Bahnsteig, der schon Grenze war, sondern im "Tränenpavillon", der Ausreisehalle für S- und U-Bahn und Fernzüge in Richtung West-Berlin, hatte das zu geschehen. So wurden viele positive Eindrücke, die die Jugendlichen mit in ihre Heimat nahmen, zunichte gemacht - eine Meisterleistung unserer Führung, der politisches Fingerspitzengefühl fremd war.

Jeden Sommer kamen einige hundert junge Franzosen nach Berlin, und das bedurfte einiges an Vorbereitungen. Für die Ferienlageraktion im Sommer 1970 wurde Denis von der französischen Seite beauftragt, letzte Einzelheiten mit den dafür verantwortlichen Genossen in Berlin abzustimmen. Er wurde dazu offiziell eingeladen. Eines Tages im Mai erhielt ich einen Anruf: "Ich bin jetzt in Köln auf der Fahrt nach Berlin. Wenn es dir möglich ist, würde ich dich gern zu den Absprachen als Dolmetscher mitnehmen."

Da ein Student zeitlich recht flexibel ist, sagte ich freudig zu. Er wolle in sechs bis sieben Stunden in Halle sein, ich müßte nur zusteigen. Und so war es auch. Freude über das Wiedersehen, kurze Pause mit ein paar belegten Broten und Kaffee, hinein in seinen auffallend gelben Renault R4 und ab ging es über die Autobahn Richtung Berlin. Wir kamen aber nur bis zur Kontrollstelle Beelitz. Dort stoppten Volkspolizisten unsere recht flotte Fahrt. Ich vermutete eine Geschwindigkeitsübertretung, denn ab Halle fuhren wir auf der Autobahn konstant 130 km/h, 100 km/h waren aber nur erlaubt. Denis mußte aussteigen und reichte dem Vopo seine Papiere. Ich wollte ebenfalls aus dem Wagen, aber mir wurde per Handzeichen angedeutet, im Auto zu bleiben. Da es sehr warm war, kurbelte ich die Scheibe herunter und konnte auch hören, was sich abspielte.

Der obligatorischen Nummernschildüberprüfung folgte zuerst eine technische Inspektion: Licht, Abblendlicht, Blinker, Hupe, Motorklappe auf. Denis konnte mir zuraunen: "lls sont fous!" ("Die sind wohl verrückt!")

Daraufhin wurde er barsch angefahren, daß er sich im Kontrollbereich nicht mit Privatpersonen zu unterhalten habe. Denis verstand es nicht, also redete er weiter, worauf ich sagte, er hätte jetzt mit mir Redeverbot. Nun wurde auch mir bedeutet zu schweigen.

Immer wieder wurde der Paß von Denis durchgeblättert, die Zählkarte untersucht, und weil das länger dauerte und der Kontrolleur wieder und wieder den Kopf schüttelte, gesellte sich ein zweiter Vopo hinzu und murmelte: "Der muß die Transitstrecke verlassen haben, hier, der darf nur von Marienborn nach West-Berlin."

Beide gingen um das Auto, beglotzten nochmals die Kennzeichen: "Da stimmt was nicht, und dann versteht der uns nicht, hole mal den ..." Ein Name wurde genannt.

Nach einigen Minuten erschien der dritte Vopo, ein Offizier. Der ließ sich kurz Bericht erstatten‚ fragte nach, ob der da - ich war gemeint - schon kontrolliert sei. "Noch nicht? Dann mal los!"
Mein "Paßport" wurde verlangt. Durch das Fenster reichte ich meinen blauen Personalausweis der DDR.

"Was? Sie sind ja Bürger der DDR! Was machen Sie in einem westlichen Fahrzeug - wollten wohl abhauen?"

Ich mußte aussteigen und wurde "zwecks Klärung dieses Sachverhaltes" vorläufig festgenommen. Wir zwei mußten uns nun, bewacht von einem Polizisten, neben das Fahrzeug stellen. Der zweite durchsuchte das Auto und der Offizier verschwand in der Baracke, wahrscheinlich wollte er telefonieren. Nach einer Weile tauchte er wieder auf, immer noch unsere Papiere in der Hand. Endlich konnte ich ihm erklären, wie ich in dieses Auto gekommen war und warum.

"Wenn das so ist, wie Sie sagen, angenommen, das ist so, dann ist das eine Verletzung des Transitabkommens, und wenn der Franzose da gut rauskommt aus dieser Sache, dann können Sie übersetzen, daß er über West-Berlin die DDR zu verlassen hat! Doch das werden die Genossen klären, die ich verständigt habe. Bis dahin bleiben Sie bei uns."

Jetzt wurde ich wirklich ungeduldig, mir reichte es, und ich forderte von ihm den gefalteten Briefbogen, der in Denis' Paß lag. Den wollte ich übersetzen. Knurrend reichte er mir das Blatt, die offizielle Einladung, die ich jetzt auf Deutsch vorlas. Sein Gesicht wurde immer länger. Auch war da eine Telefonnummer angegeben, die bei auftretenden Problemen anzurufen sei. Ich verlangte, mir dieses Telefonat zu ermöglichen.

Unsicher geworden, brachte mich der Offizier in sein Dienstzimmer, und bald hatte ich einen Herrn vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR am Hörer. Der fiel aus allen Wolken, als ich ihm mitteilte, daß wir zwei vorübergehend festgenommen worden seien. Er könne aber leider den bewaffneten Organen keine Weisung erteilen, deshalb müsse er über den Dienstweg gehen ..., in ein paar Minuten aber sei die Sache geklärt.

Nun wurde auch Denis hereingeführt, und ich teilte ihm kurz die Entwicklung mit. Der Vopo wurde zusehends freundlicher, er bot Zigaretten an, wir lehnten dankend ab. Nach nicht einmal zehn Minuten klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung mußte wohl die Luft brennen, ich konnte einige Wortfetzen mithören und die waren nicht gerade angenehm für den Offizier, der mit hochrotem Kopf in strammer Haltung immer wieder in den Telefonhörer hineinstammelte: "Jawohl, wird sofort erledigt ... jawohl, zu Befehl, Genosse General, jawohl ..."

Damit war das Telefonat beendet. Immer wieder sich entschuldigend brachte uns der Offizier zum Auto. Von den anderen beiden Vopos war nichts zu sehen, die hatten wohl Wind bekommen und sich schleunigst verzogen.

Später sagte Denis im Auto zu mir: "Unglaublich, wie die mit uns umgesprungen sind. Wie müssen die sich erst aufführen, wenn man nicht offizieller Gast ist ..."

Denis, damals Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, trat vier Jahre später aus dieser Partei aus. Seine Gründe teilte er mir bei unserem letzten gemeinsamen Ferienlagereinsatz mit.

Im Sommer dieses Jahres wurden wir in einer Schule an der Regattastraße in Grünau untergebracht, wunderbar gelegen und nicht weit zum Strandbad und zur S-Bahn. Dort logierte ebenfalls eine italienische Kinder- und Jugendgruppe. Die vier Wochen vergingen mit Baden, Sport, Besichtigungen und Ausflügen wie im Fluge. Besonders beliebt waren die abends von uns organisierten Discos, die auch von einer Menge deutscher Jugendlicher besucht wurden. Es waren für uns alle wunderschöne Tage!

Am Morgen des Abreisetages dann die allgemeine Hektik, die letzte gemeinsame Fahrt mit dem Bus zum Bahnhof Friedrichstraße. In der Ausreisehalle herrschte ein unglaubliches Gewühl. Hunderte Kinder und Jugendliche warteten auf die Ausreisekontrolle. Die verschiedensten "westlichen" Sprachen schwirrten durch die Luft. Schließlich waren die Franzosen an der Reihe. Ein Grenzoffizier las Name für Name vor, und dann ging der zu Kontrollierende mit seiner carte d'identité, seinem Personalausweis, durch die Kontrolle zum Transitbahnsteig. Nun kam meine Gruppe zur Abfertigung.

Händeschütteln, Umarmung, Tränen. Plötzlich fluchte der vor mir stehende Offizier, der die Namen aufrief: "Mistdurchschlag, kaum zu lesen ... wer soll denn das aussprechen können?" Offenbar war er in diesem Durcheinander sehr genervt. Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Bei einem Namen war es dann soweit. Keiner wußte, wen er da eben aufgerufen hatte - die Kinder lachten. Der Grenzer blickte sich hilfesuchend um, der Kontrollablauf stockte.

Da wir die gesamte Zeit hinter ihm gestanden und uns schon über ihn amüsiert hatten, klopfte ich ihm auf die Schulter: "Geben Sie her, ich lese vor und Sie brauchen nur noch zu kontrollieren."

Der Offizier starrte mich einen Augenblick verwundert an und reichte mir dann wortlos die Liste. Also las ich die einzelnen Namen vor, verabschiedete mich dabei von den Kindern und der Grenzer kontrollierte.

"Kommst du noch mit zum Zug?" - Jedesmal mußte ich diese Frage verneinen. Der letzte Franzose ging durch die Sperre, letzter Gruß - das war's. Vier Wochen anstrengende, aber auch schöne Arbeit lagen hinter mir. Ich gab die Namensliste zurück. Eine andere französische Gruppe wurde jetzt abgefertigt, und der Offizier bat mich, deren Namen ebenfalls zu lesen. Wieder ging Kind für Kind durch die Sperre. Mittlerweile hatte sich die Ausreisehalle stark geleert, und nur einige Privatreisende strebten der Kontrolle zu. Ich gab die Blätter zurück.

"Danke, Mäsjö, merci", der Offizier blickte auf seine Armbanduhr. "In fünf Minuten" - er zeigte die fünf Finger -, "schnell! Zug fährt gleich ab!"

Dabei schob er mich durch den Paßkontrollgang. Jemandem von seiner Truppe rief er zu: "Braucht nicht mehr - habe ich schon - der muß noch zum Zug hoch", und er bugsierte mich weiter durch den schmalen Gang auf eine Tür zu, die sich wie von Geisterhand öffnete.

Was ging mir in diesen Sekunden nicht alles durch den Kopf! Ich brauchte nur den Stufen zu folgen - schon wäre ich in West-Berlin. Trennung von Eltern und Bruder, was ist mit dem Studium ...?
Nein, das kam zu plötzlich, außerdem hatte ich zu dieser Zeit nie ernsthaft über ein Weggehen nachgedacht. Wie angewurzelt blieb ich stehen, drehte mich um: "Ich bin kein Franzose, ich bin nur der Dolmetscher!"

Der Uniformierte hatte sofort begriffen, wurde aschfahl, schaute sich kurz um und raunte mir zu: "Um Gottes willen, zu keinem ein Wort, das kostet uns Kopf und Kragen!"

Ich nickte und ging die paar Meter zurück. Er blieb mitten im Gang breitbeinig stehen, offenbar hatte er sich wieder gefaßt. Draußen nahm mich der Lärm der verkehrsreichen Friedrichstraße auf.
Bis zum Fall der Mauer wußten nur zwei Menschen von diesem Vorkommnis: der Offizier und ich.

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Leipzig, Sachsen, damals DDR - Köln, Rheinland;
August 1973 - Frühjahr 1974]

Helga Brachmann
Angst

"Was für ein gemeiner Scherz", war mein erster Gedanke. Was hatte die Männerstimme eben am Telefon gesagt? - "Ihre Tochter Barbara ist in die Bundesrepublik geflüchtet."
Das konnte doch nicht wahr sein! Wie sollte ein junges Mädchen den Stacheldraht, die Selbstschußanlagen und die Mauer überwinden?

An der Grenze wurde doch scharf geschossen! Und ein Schlupfloch im Eisernen Vorhang gab es doch auch nicht! Republikflucht im Jahr 1973 - das war lebensgefährlich, das war strafbar, auch für Mitwisser und Helfer.

Dann hatte der anonyme Anrufer hinzugefügt, Barbaras Freundin sei auch geflohen, ich solle der Mutter Bescheid geben, er wußte die Adresse. Ach ja - langsam konnte ich meine Gedanken ordnen -, ich hatte nach seinem Namen gefragt, er aber hatte stattdessen das Gespräch mit den Worten beendet: "Barbara läßt Sie grüßen, Sie sollen ihr nicht böse sein und sie hätte Sie sehr lieb!"
Das war eine typische Redewendung meiner Tochter, keine Frage. Wieder und wieder nahm ich die kurze Mitteilung zur Hand, die ich abends auf der Flurgarderobe gefunden hatte: "Bleibe übers Wochenende bei Joachim, komme übermorgen zurück. Tschüs! Babs."

Joachim war ihr Freund, er besaß kein Telefon. Hoffentlich war meine Tochter dort, am anderen Ende der Stadt!
Qualvolles Grübeln bis zum Morgen. Oder war Bärbel gar einem Verbrechen zum Opfer gefallen und der Täter wollte mich durch seinen Anruf auf eine falsche Spur führen?
Wie oft hatte ich meine Jüngste gebeten, sich nicht von Fremden im Auto mitnehmen zu lassen. Oder sollte gar dieser Rheinländer eine Flucht organisiert haben?

Barbara hatte mir von einem "tollen West-Mann" vorgeschwärmt, den sie in einer Gaststätte während der Leipziger Frühjahrsmesse flüchtig kennengelernt hatte. Aber der Mann sei katholisch und verheiratet, habe auch drei Kinder. Es war doch unmöglich, daß dieser Kaufmann ein junges Mädchen unterstützen, geschweige denn aufnehmen konnte! Was wollte Bärbel allein in einem anderen Land, ohne einen Pfennig Geld? Oder hatte sie ihr Sparbuch geplündert?

Aber der Umtausch brächte ja viel zuwenig‚ um sich eine Existenz aufbauen zu können! Und zu meinem Bruder konnte sie doch auch nicht gehen‚ die Wohnung war zu klein und mir wäre es schrecklich peinlich gewesen, wenn Bärbel meine Verwandten um Unterstützung gebeten hätte!

Hier war das Zuhause meiner Tochter, hier begann in wenigen Tagen das Medizinstudium‚ das sie so hartnäckig angestrebt hatte! Hier lebte ihr Freund, der junge Arzt Joachim! Und was würde diese Flucht für meine anderen Kinder und mich bedeuten? Berufliche Nachteile? Oder gar Haft?

Gut, ich hatte nichts geahnt‚ aber ob man mir das glauben würde? Brachte man gar den kurzen Besuch bei meinem schwerkranken Vater in Stuttgart mit Bärbels Verschwinden in Zusammenhang? Aber - da war keiner!

Fünf Monate waren seitdem vergangen. Konnte man mir daraus einen Strick drehen?
Und was würde nun aus meiner neuen und interessanten Tätigkeit an der Hochschule für Musik in Leipzig werden? Ich hatte nur die mündliche festversprochene Zusage. Wenn sich Barbaras Flucht als Tatsache erweisen würde‚ nähme mich kein staatliches Institut als Lehrkraft. Nur gut, daß ich die jetzige Stellung im Theater als Repetitorin noch nicht gekündigt hatte!

"Also doch, ich habe Babs schon seit einer Woche nicht gesehen", stieß Joachim am nächsten Morgen wütend hervor.
Verblüfft fragte ich: "Was heißt hier also doch?"
"Ein anderer Mann, natürlich! Hab ich's doch geahnt!" Mehr war aus dem jungen Mann nicht herauszubringen.
Was für ein Mann? Bärbel hatte viele Verehrer. Ob es der Rheinländer war, dieser "tolle West-Mann", dem ich damals beim Anruf zur Zeit der Frühjahrsmesse den Umgang mit meiner Tochter auszureden versucht hatte?

Barbara wußte doch, wie hart unerlaubter Grenzübertritt bestraft wurde! Ihr war auch klar, was diese Flucht für die übrige Familie bedeuten würde. Sie hatte mir ja selbst in allen Einzelheiten von der Verhaftung einer Kollegin erzählt, deren Freund in den Westen verschwunden war.

Wie mußte ich mich jetzt verhalten? Die Arbeit hatte meine Tochter gekündigt, da würde man so schnell nichts merken - aber sie war doch eingeschriebene Studentin! Es würde sehr auffallen, wenn jemand das Medizinstudium nicht antrat. Verheimlichte ich Bärbels Verschwinden, machte ich mich der ,Beihilfe zur Republikflucht' verdächtig.

Nach reiflichem Überlegen, etwa 24 Stunden nach dem anonymen Anruf, benachrichtigte ich das nächste Polizeirevier und beschrieb die Ereignisse.
"Da müssen Se 'ne Vermißtenmeldung aufgeben! Aber ich sag's Ihnen gleich, wenn wir jedes junge Mädchen suchen wollten, das mal nachts nicht heimkommt, hätten wir viel zu tun. Hab'n Se 'ne Garage? ... Ja? Sehen Sie dort nach! Hab'n Se 'nen Keller? ... Ja? Auch dort suchen! Schließlich gibt es ja auch bei uns Verbrechen. Hab'n Se noch mehr Kinder? ... Ach, alle erwachsen? Na, dann fahr'n Se hin und fragen dort erstmal, auch die Freunde der Vermißten fragen, dann könn' Se wieder anrufen!"
Es war am späten Nachmittag des Sonntags, da würde ich die jungen Leute kaum alle antreffen. So bestellte ich die Taxe für den nächsten Morgen 6 Uhr. Quer durch die Stadt fahrend, befragte ich Kinder und Schwiegerkinder, auch Bärbels Freundinnen. Nichts. Keiner wußte etwas.
Die Arbeit und die Konzentration darauf fielen mir schwer, immer wieder rollten mir Tränen aus den Augen - gegen meinen Willen. Endlich, am Abend, verschaffte mir ein Anruf meines Bruders aus Stuttgart etwas Erleichterung.
"Ich wollte es anfangs gar nicht glauben, aber deine Jüngste ist auf irgendeine geheimnisvolle Weise über die Grenze nach West-Berlin gelangt. Sie rief hier an, ich soll dir sagen, es ginge ihr gut, und sie ließe wieder von sich hören!"
"Hast du die Adresse?"
"Weiß ich auch nicht, hat sie nicht nennen wollen!"
Meine Tochter lebt! Kein Verbrechen! Doch - wie ging es jetzt weiter?

Ich rief dieses Mal auf dem Polizeipräsidium an und meldete, was ich von meinem Bruder erfahren hatte. Bereits zwei Stunden später stand ein Eilbote vor der Tür, und ich wurde für den nächsten Vormittag zu einer Vernehmung bestellt.

Eine nicht endenwollende Fragerei und immerzu dasselbe in diesem kalten, grau-kahlen Raum! Als Mutter müßte ich doch wissen, mit wem meine Tochter Umgang hatte.
"Ich kontrolliere nicht eine 23jährige! Außerdem bin ich bei meinem Beruf oft abends nicht zu Hause!"
Aber dieses Argument beeindruckte den hartnäckigen Frager keineswegs. "Weshalb hat Ihre Tochter unsere Republik verlassen? Mit wem hatte sie im Westen Kontakt? Wer gab ihr die Anweisungen zur Flucht? Wer hat ihr geholfen? Wie war der Fluchtweg?"
Und immer wieder meine Antwort: "Ich weiß es doch auch nicht!"
Man drohte mir, vor Gericht würde man meine Mitwisserschaft schon herausfinden, und ich sei mir doch wohl im klaren darüber, was unerlaubter Grenzübergang, Landesverrat oder gar Spionage meiner Tochter für mich bedeutete?

In meiner Not äußerte ich die Vermutung‚ daß vielleicht der verheiratete West-Mann hinter der Flucht stecken könne. Ich erzählte, daß ich am Telefon den Rheinländer gebeten hatte, sich von meiner Tochter zurückzuziehen, und daß wenige Wochen später ein Päckchen aus Köln gekommen sei. Daraufhin hatte ich brieflich meine Bitte wiederholt, sich nicht mehr zu melden.
"Dann kennen Sie also den Mann! Wie heißt er? Wo wohnt er?"
"Ich habe den Mann nie gesehen, ich weiß es nicht!"


Meine Tochter Barbara mit ihrem "West-Mann" Silvester 1973/74.
Es war der erste Jahreswechsel, den sie nach ihrer geglückten Flucht im Westen erlebte.

"Das sagen Sie immerzu! Wie können Sie einen Brief geschrieben haben‚ wenn Sie Namen und Adresse des Mannes nicht kennen?"
"Ja, natürlich!" Zum Glück fiel mir ein, daß ich seinerzeit die Anschrift des Absenders auf dem Packbogen abgeschrieben hatte, um den Brief abschicken zu können.
"Und wo ist die Adresse?"
"Ich habe sie nicht aufgehoben! Barbaras Freund wollte sie heiraten. Da fand ich es nicht gut, wenn ich die Anschrift eines anderen Verehrers in unser Verzeichnis geschrieben hätte. Aber vielleicht ist das Packpapier noch im Keller?"
"Na, das haben wir gleich!"

Und nun fuhren zwei in Zivil gekleidete Männer mit mir in meine Wohnung. Der gesuchte Packbogen fand sich schnell. Fast gleichzeitig kam die Post, ein Eilbrief.
"Das ist Bärbels Schrift", entfuhr es mir. Ich mußte den Brief im Beisein der Fremden öffnen und lesen, dann nahmen sie mir das Schreiben weg. "Liebe Mama", hatte da gestanden, "sei mir nicht böse, ich hab' Dich sehr lieb. Mir geht es gut. Ich melde mich wieder! Babs!"
Der Poststempel ließ deutlich Köln erkennen, ein Absender fehlte. Nun wurde das Packpapier geglättet - und richtig, der Mann wohnte in einem kleinen Ort nahe Köln.

"Da haben wir ja den Jugendfreund", spottete einer der Männer. Mir war nun auch klar, daß der Verheiratete hinter Barbaras Flucht steckte. Wieder und wieder versuchte ich, die beiden herumstehenden Männer zu überzeugen, daß dieses Verschwinden doch nichts mit Politik zu tun hatte. Junge Mädchen seien zu allen Zeiten durchgebrannt, wenn es um die große Liebe ging.
"Das überprüfen wir noch! Von jetzt an übergeben Sie uns jeden Brief Ihrer Tochter! Sie dürfen ihn aber vorher öffnen und lesen!" Dann wurde Barbaras Zimmer versiegelt.
Endlich war ich allein! Vor Angst war ich kr
ank! Die Gerichtsverhandlung! Auch war mir der Gedanke, daß mein Kind sich nun wahrscheinlich als Geliebte aushalten ließe, entsetzlich. Angst hatte ich auch vor dem Gefängnis. Bestraft sollte ich werden für etwas, das ich weder gewußt noch veranlaßt hatte! Ich brachte keinen Bissen herunter, nachts fand ich keine Ruhe.

Wochen vergingen‚ dann durchsuchten zwei Frauen Bärbels Zimmer. Sie beschlagnahmten die Möbel, die Bücher, die Kleidung, den Plattenspieler, das Radio. "Das wird alles von uns abgeholt!"
"Darf ich denn gar nichts behalten? Schließlich sind das die Sachen meiner Tochter, das meiste hat sie doch von mir!"
"Sie können die Möbel von uns kaufen! Alles andere kommt weg!" - So schrieb ich einen Scheck aus und "erwarb" dadurch die Schrankwand und den Couchtisch.

Dann begann das Durchwühlen der Einrichtung. Man fand Bärbels Adreßbüchlein, holte das noch unverbrannte Papier aus dem Ofen, leerte den Papierkorb aus. Jedes Zettelchen, jeder alte Briefumschlag, jede Notiz - alles wurde gelesen.
"Wer ist das? Was bedeutet diese Abkürzung? Von wem ist diese Postkarte? Wer ist Häschen?"
Eine qualvolle Fragerei!
Das Sparbuch wurde gefunden. Vor einem Monat war eine größere Summe abgehoben worden.
"Aha, da hat also Ihre Tochter ihr Geld abgehoben, um es im Westen zum Schwindelkurs umzutauschen!"
"Aber nein, Barbara hat das Geld ihrer ältesten Schwester zum Möbelkauf geborgt!"
"Das kann ja jeder behaupten! Beweise?"
Froh war ich, daß meine Tochter mir seinerzeit das formlose Blatt gegeben hatte, auf dem meine Älteste sich verpflichtete, monatlich 500 Mark zurückzuzahlen.
"Und jetzt zahlt Ihre große Tochter an uns die Raten. Uns gehört jetzt das Sparbuch! Name und Adresse?"
Endlich ging man, das Zimmer wurde erneut versiegelt. Meine Furcht blieb und quälte mich weiter.

Nach einiger Zeit wurde Barbaras Zimmer ausgeräumt‚ bis auf die Möbelstücke, die ich "gekauft" hatte. Zu meinem Schreck gaben mir die Männer den Schlüssel nicht, sondern schlossen ab und steckten ihn ein.

Ich protestierte. Barsch wurde ich zurechtgewiesen: "Nichts da, den Schlüssel müssen wir im Rathaus abliefern!"
Also, auf zum Wohnungsamt. Ich dachte, ich höre nicht recht: "Den Schlüssel behalten wir und weisen Ihnen eine Person in das freigewordene Zimmer ein!"

Das hatte mir noch gefehlt! Ein fremder Mensch in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung! Ich führte an, daß ich täglich auf dem Instrument üben müsse, daß ich oft zu Hause mit Kollegen probte. Und da hatte ich Glück! Mein Gegenüber erinnerte sich jetzt, daß ich Pianistin war und nach einigem Hin und Her bekam ich dann Bärbels Zimmerschlüssel zurück.

Die versprochene Arbeit an der Hochschule erhielt ich nicht. "Wir wissen schon Bescheid!" So empfing mich der Prorektor. "Und im übrigen wird diese Stelle mit einem Gesellschaftswissenschaftler besetzt! Mit der Republikflucht Ihrer Tochter hat das nichts zu tun. Wir sind doch keine Nazis, bei uns gibt es keine Sippenhaft!"
Nun, ich wußte es besser ...
Herbst, Winter, Frühling verstrichen. Da flatterte mir Barbaras Heiratsannonce ins Haus. Aus Köln! Mit dem tollen West-Mann! Erstaunlich, wie schnell es mit der Scheidung gegangen war.
Ich schickte die Anzeige an das Polizeipräsidium mit der Bemerkung, nun sei es wohl erwiesen‚ daß es sich bei der Flucht meiner Tochter um Liebe gehandelt habe. Ich hörte nichts mehr! Ich begann aufzuatmen.

Nach neun Jahren machte eine Amnestie Bärbels Besuch hier möglich. Als junges Mädchen war sie fortgegangen, nun hatte sie zwei Kinder an der Hand!

Wie die aufregende Flucht im Kofferraum über die Grenze verlief, zugedeckt mit Stroh, das erfuhr ich erst nach dem Fall der Mauer.
Heute liegen die geschilderten Ereignisse 31 Jahre zurück. Aber wenn ich an die Zeit nach Barbaras Verschwinden denke, davon erzähle oder darüber schreibe, fühle ich immer noch die Beklemmung, die Sorge, die Furcht und die ANGST von damals.

(In "Mauer-Passagen" ist noch eine Geschichte von Helga Brachmann veröffentlicht. Darin schildert sie unter anderem, wie sie ihren Sohn Christian Kunert, genannt Kuno, Mitglied der Klaus Renft Combo in der "Magdalene", dem Staasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin, besuchte. Nach sieben Monaten durfte sie ihn am 16. August 1977 zum ersten und einzigen Mal sehen und sprechen.)

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Ampfing, Bayern - Berlin-Friedrichstraße - Strausberg - Altreetz, Oderbruch, damals DDR;
Oktober 1983]

Irmgard Pondorf
Die ruhiggestellte Tante

Unsere Oma wollte 1983 wie jedes Jahr zu unseren Verwandten in den Oderbruch fahren, obwohl sie gerade erst eine Krankheit überstanden hatte. Wir Kinder waren sehr dagegen, weil die Strapazen der langen beschwerlichen Reise und die ständigen Aufregungen an der Grenze ihrem schwachen Herzen nicht gerade förderlich sein würden. Aber unsere Oma war willensstark und beharrte auf dieser Reise. Schon bald hatte sie die erforderliche Einreisegenehmigung.

Am Abreisetag brachten wir sie zum Bahnhof nach Ampfing. Sie lehnte es energisch ab, sich von uns bis nach München begleiten zu lassen, wo wir sie in den Interzonenzug setzen wollten. Mit einem Augenzwinkern meinte sie, sie werde schon einen jungen Kavalier finden. Wir machten noch ein Abschiedsfoto von ihr, dann lief der Zug ein. Oma bahnte sich den Weg in ein Abteil, wohin sie unsere Blicke begleiteten. Im Nu hatte sie ihren ersten Freund gefunden: Ein junger Mann hievte ihren Koffer ins Gepäcknetz. Fröhlich winkte sie uns zum Abschied durch das Fenster zu, während wir mit Sorge an ihr schwaches Herz dachten.
Was sich dann in Berlin ereignete, erzählte meine Cousine Gerda Voß aus dem Oderbruch später so:

Die Tante meines Mannes, Tante Lina, besuchte uns jedes Jahr, so auch im Oktober 1983. Sie hatte das Bedürfnis, ihre Verwandten wiederzusehen, die schon seit 1961 hinter Mauer und Stacheldraht eingesperrt waren. Weil Tante Lina allein aus Bayern anreiste, verabredeten wir, daß ich sie in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße abholen würde, wo der Fernzug aus München ankam.

Also machte ich mich von Altreetz, unserem kleinen Dorf nahe der Oder, auf den Weg nach Berlin-Friedrichstraße, um die Tante in Empfang zu nehmen. Im Bahnhofsgebäude wimmelte es von Menschen, die ihre Lieben aus dem anderen Teil Deutschlands in die Arme schließen wollten. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, daß die Reisenden aus Westdeutschland, wenn sie im Bahnhof Friedrichstraße angekommen waren, durch einen regelrechten Irrgarten geleitet wurden. Die Räume waren durch hohe Wände und enge Gänge unterteilt, in denen die Pässe und die Kofferinhalte kontrolliert wurden. Nach einem unerfindlichen System gab es aber auch gründliche Durchsuchungen der Kleidung, die man trug, und sogar Leibesvisitationen. Das gesamte Gebäude war von Volkspolizisten bewacht und umstellt, die schwerbewaffnet und zum Teil von Hunden begleitet waren. Ein Fluchtversuch in den Westen war hier hoffnungslos.

Mit zunehmender Nervosität sah ich dem Wiedersehen mit Tante Lina entgegen. Endlich öffnete sich die Tür am Ende des Kontrollbereiches und sie war da. Unter Tränen fielen wir uns in die Arme. Die Halle glich einem Ameisenhaufen, deshalb wollte ich so schnell wie möglich zur S-Bahn, die uns nach Strausberg bringen sollte.



Vor der Abfahrt des Zuges in Ampfing machten wir noch ein Abschiedsfoto von unserer reisefreudigen Oma.


Doch Tante Lina schwankte auf eine Säule zu und klammerte sich daran fest. Erschrocken fragte ich sie, was mit ihr sei, doch sie sah mich nur mit glasigen Augen an und reagierte nicht. Ein Passant bot mir Hilfe an. Mit der einen Hand trug er den Koffer, mit der anderen umklammerte er den Arm meiner Tante. Ich stützte sie auf der anderen Seite, und so schleppten wir die alte Frau durch die endlose Halle und unzählige Stufen hinauf bis zum S-Bahnsteig. Als der Zug nach Strausberg einlief, setzte der junge Mann die Tante vorsichtig auf einen Eckplatz im Zug und verstaute den Koffer. Dankbar drückte ich meinem Helfer die Hände.

Ich setzte mich ganz dicht neben Tante Lina und rätselte, was wohl die Ursache ihrer Benommenheit sei. Plötzlich sackte sie in sich zusammen, der schicke Hut rutschte ihr vor das Gesicht, die Handtasche, die sie so lange krampfhaft festgehalten hatte, fiel zu Boden und der gesamte Inhalt kullerte unter die Sitzbank. Reisende, die uns gegenüber saßen, stützten und hielten die Ohnmächtige, und so konnte ich unter einigen Verrenkungen alle Utensilien einsammeln. Dabei fand ich auch eine angebrochene Packung mit Beruhigungstabletten. Waren die etwa die Ursache für Tante Linas Apathie? Mir schwante so etwas, als ich den Beipackzettel las.
Nach knapp einstündiger Fahrt erreichten wir Strausberg, Tante Lina schlief fest, sie hatte hin und wieder friedlich geschnarcht. Hilfsbereite Mitreisende halfen beim Aussteigen, und schon winkte uns mein Mann, der uns bereits erwartete. Mit vereinten Kräften schleppten wir Tante Lina ins Auto und schnallten sie fest. Zuhause hoben und schoben wir sie ins Schlafzimmer, entkleideten sie und legten sie unter das mollige Federbett.

In den frühen Morgenstunden erschien eine blasse schlaftrunkene Gestalt und jammerte: "Ich muß doch nach Altreetz, wo bin ich nur?"
Erleichtert nahmen wir unsere liebe alte Tante in die Arme und versicherten ihr, daß sie schon an Ort und Stelle sei. Nachdem sie noch einmal mehrere Stunden geschlafen hatte, war Tante Lina mit der ihr eigenen Mobilität wieder ganz sie selbst. Von der Fahrt vom Bahnhof Friedrichstraße bis nach Altreetz wußte sie nichts mehr.
Und die Tabletten in ihrer Handtasche?
Ja, die Tabletten ...
Die Ärztin hatte sie ihr zur Beruhigung vor der Reise verschrieben. Und um bei den Kontrollen der Vopos ruhig zu erscheinen, hatte Tante Lina viel zu viele davon auf einmal genommen. Die Tablette, die ihr auf der Fahrt nach Strausberg den Rest gab, hatte sie geschluckt, während ich neben ihr saß - und ich hatte es nicht bemerkt!

Wir verlebten noch schöne gemeinsame Tage. Die Geschichte ihrer Reise machte allerdings in der Familie die Runde. Bis heute gibt sie immer wieder Anlaß zum Schmunzeln und erinnert uns gleichzeitig an die traurigen politischen Verhältnisse damals.

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Potsdam, Brandenburg - Berlin, damals DDR -Berlin;
Januar 1988-Herbst 1989]

Rudolf Bentz
Die Demonstration

Am 16. Januar 1988, es war Samstag, brachte unser Sohn seine Tochter übers Wochenende zu uns. Es war nicht ungewöhnlich, daß sie bei uns blieb, die Kinder hatten viele Bekannte, und wir alle wohnten in Potsdam. Mein Sohn beschäftigte sich noch eine Weile in unserem Keller. Ich fragte ihn: "Ich denke, ihr wollt nach Berlin fahren?"
"Ja, wir wollen morgen (zusammen mit dem Bruder in Berlin) zur Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in der Frankfurter Allee, und dazu muß ich noch ein Plakat anfertigen."
Jetzt sah ich, daß er den in jenen Tagen häufig gebrauchten Ausspruch von Rosa Luxemburg, Freiheit bedeute auch immer die Freiheit der Andersdenkenden, auf sein Plakat geschrieben hatte.
Am Abend verabschiedete ich ihn dann mit den Worten: "Na, hoffentlich geht das nicht in die Hose."

Tags darauf verfolgten meine Frau und ich im DDR-Fernsehen die Übertragung der alljährlichen Demonstration zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Wie immer marschierte alles hinter der Führungsspitze her und bejubelte sie. Gegen Abend rief unsere Berliner Schwiegertochter an. Sie war wegen einer Beinverletzung nicht zur Demo mitgegangen. Ob sich denn die Potsdamer schon gemeldet hätten, wollte sie wissen. Das war nicht der Fall.

Aus der Tagesschau erfuhren wir, daß es am Rande der Demonstration zu Verhaftungen gekommen sei. Das West-Fernsehen berichtete von Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten auf der einen und Polizei und Staatssicherheit auf der anderen Seite. Als wir bis 21 Uhr noch immer nichts von unseren Söhnen und der Potsdamer Schwiegertochter gehört hatten, machten wir uns große Sorgen. Uns wurde klar, daß unsere Kinder dabeisein mußten.

Am Montag war von 100 Verhaftungen die Rede. Westliche Reporter hatten am Ort des Geschehens gefilmt, wobei sie jedoch stark behindert worden waren. Dank ihrer Anwesenheit gingen die Geschehnisse in Windeseile um die Welt. Wäre das nicht der Fall gewesen, wären die Verhafteten sang- und klanglos für längere Zeit in irgendwelchen Gefängnissen verschwunden.

Unsere beiden Söhne und die Schwiegertochter waren am Sonntag in Richtung Frankfurter Tor gefahren und hatten ihren Trabi in der Nähe abgestellt. Am Treffpunkt waren bereits viele Menschen versammelt, darunter Mitarbeiter der Staatssicherheit in Zivil. Noch ehe sich die Demonstranten recht orientieren, geschweige denn formieren konnten, waren sie umstellt. Von Polizei und Staatssicherheit wurden sie zur Seite abgedrängt und auf LKWs gezwungen. Viele junge Leute fanden sich zusammengepfercht irgendwo wieder.

Weiterhin ohne Nachricht von ihrem Mann, begab sich die Berliner Schwiegertochter am Dienstag, dem 19. Januar, zum Generalstaatsanwalt, wo ihr mitgeteilt wurde, daß die drei verhaftet worden seien und sich in Potsdam im Gefängnis befänden.

Zusammen mit anderen Demonstranten waren unsere Kinder in Spezialtransportern von Berlin nach Potsdam gebracht worden. Wie sie uns später schilderten, wußte keiner, wohin die Fahrt ging. Jeder saß isoliert in einer engen Kiste ohne Fenster. Keiner wußte etwas vom anderen. Am Zielort mußten sie sich ausziehen und Gefangenenkleidung überziehen, in der sie dann fotografiert wurden. Mit dem Gefühl der Ohnmacht saß jeder in einer engen Einzelzelle bei ständiger Beleuchtung und ohne zu wissen, was auf ihn zukam. Dazwischen Verhöre, Türenschlagen und Schritte der Posten draußen. Manchmal wurden sie zum Freigang in einen Lichthof geführt, einen Betonkäfig von etwa zwei mal zwei Metern, der oben mit Draht abgedeckt und von den Posten einsehbar war. Als ihre Zellentür einmal geöffnet wurde, hörte unsere Schwiegertochter die Stimme ihres Mannes. Jetzt wußte sie, er war ebenfalls hier.


Die "Freigang-Zellen" im Stasi-Gefängnis in Potsdam. Im Januar 1988 wurden meine beiden Söhne und eine Schwiegertochter hier eingesperrt.


Am 20. Januar erreichte uns folgendes Schreiben des Generalstaatsanwalts mit Datum vom 18. Januar 1988:
Gegen Ihren Sohn ... wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen, da er dringend verdächtig ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Ihr Sohn befindet sich in der Untersuchungshaftanstalt Potsdam. Sie haben die Möglichkeit, monatlich vier Briefe zu schreiben. Äußerungen über die Straftat sind darin nicht gestattet. Paketsendungen können nicht entgegengenommen werden. Geldsendungen von monatlich bis zu 50 Mark (nur per Postanweisung) sind zulässig ...

In der Zionskirche in Berlin-Prenzlauer Berg, wo sich in diesen Tagen Abend für Abend Hunderte von Menschen versammelten, bekam unsere Schwiegertochter am 20. Januar den Tip, sich an einen kirchlichen Rechtsanwalt in der Sophienstraße zu wenden. Gleich am nächsten Tag begaben meine Frau und ich uns dorthin. Eine düstere Gegend. Meine Frau ging in das Haus und ich beobachtete die Straße, ob uns eventuell jemand gefolgt sei oder das Haus im Visier habe. Der Anwalt war nicht anwesend, er sei zur Zeit in Rostock, wir sollten gegen Abend noch einmal nachfragen.

Später hörten wir, daß dieser Anwalt mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben soll. Ohne Ergebnis fuhren wir zur Wohnung unseres Sohnes in Berlin, wo uns die Schwiegertochter aufgeregt mitteilte, daß sie im Rechtsanwaltsbüro von Dr. Vogel noch für denselben Nachmittag einen Termin erhalten habe. Während die 6jährige Enkeltochter mit ihrer 10jährigen Cousine - versehen mit den erforderlichen Verhaltensmaßregeln - in der Wohnung blieben, fuhren wir drei nach Friedrichsfelde. Im Büro von Dr. Vogel wurden wir von einem seiner Mitarbeiter sehr zuvorkommend empfangen. Unser Anliegen bestand eigentlich nur darin, für den uns angekündigten Prozeß einen Rechtsanwalt zu engagieren.

Unser Gesprächspartner erklärte seine Bereitschaft, verwies jedoch auf das kommende Wochenende, das wir unbedingt erst abwarten sollten. Es werde sich "etwas bewegen", nur könne er jetzt noch nicht darüber reden. Wir wunderten uns noch sehr darüber, daß die Akten, die der Anwalt aus seinem Schreibtisch hervorholte, Daten unserer Söhne enthielten. Optimistisch gestimmt, fuhren wir zurück. Bald würde die Familie wieder beisammen sein.

Allein in der Wohnung, hatten die beiden Enkeltöchter in der Zwischenzeit versucht, Griesbrei zu kochen, es aber doch für sinnvoller gehalten, das Produkt ihres Bemühens in die Toilette zu schütten. Nach einer anderweitigen kleinen Stärkung kehrten wir nach Potsdam zurück.

Am nächsten Morgen, wir saßen noch beim Frühstück, erhielten wir einen Anruf von der Abteilung Inneres des Rates der Stadt. Man müsse uns wegen der Dinge, die auf uns zukämen, dringend sprechen. Wann sie kommen könnten?

Weil ich an diesem Tag unbedingt zu meiner alten Dienststelle wollte, wo ich noch immer stundenweise, aber ohne feste Arbeitszeiten beschäftigt war, gab ich 15 Uhr an. Irgend etwas trieb mich jedoch gleich nach dem Mittagessen wieder nach Hause, wo mich meine Frau sehr besorgt empfing. Die Polizei habe angerufen, es sei dringend, es handle sich um das Enkelkind. Sie würden gleich da sein. Wir hatten bereits besprochen, wie wir uns verhalten wollten, falls man uns unsere Enkeltochter wegnehmen würde.

Kurz nach mir erschienen eine Frau und ein Mann, beide von der Abteilung Inneres. Die Frau holte eine dicke Mappe aus der Tasche und breitete die Papiere auf dem Tisch aus. "Also", begann sie, "Ihre Kinder befinden sich in Hamburg."
Darauf ich recht erregt: "Was ist los? Habe ich richtig verstanden - in Hamburg?"
"Ja, sie wurden heute morgen zur Grenze gebracht." -Jetzt, so erklärte die Frau weiter, seien die notwendigen Maßnahmen zu besprechen, um das Kind den Eltern wieder zuzuführen. Sie hätten die erforderlichen Papiere bereits dabei. Es fehlte nur noch ein Paßbild. Wer hat schon von einem sechsjährigen Kind ein Paßfoto zur Hand? Das Bild sollte Montag früh bei der Abteilung Inneres vorgelegt werden.

Inzwischen waren noch zwei Männer gekommen, die sich auf den Anruf vom Vormittag bezogen. Sie brachten das Auto unseres Sohnes sowie alle möglichen Dinge, die man ihm abgenommen hatte, bis hin zum Straßenbahnfahrschein.

Als das erledigt war, setzte ich mich mit der Kleinen in Bewegung, um von ihr ein Paßfoto machen zu lassen. Vergeblich klapperten wir alle mir bekannten Fotoläden ab. Es war Freitagnachmittag! Schließlich bekam ich den Hinweis auf einen Foto-Expreßdienst in der Straße "Am Stern", wo es dann mit dem Fotografieren doch noch klappte.

Meine Frau erhielt schnell die erforderlichen Genehmigungen, als Rentnerin durfte sie in die BRD reisen. Am Morgen des 26. Januar 1988 gingen wir drei schwerbepackt zum Bahnhof. Das Kind mit einem Campingbeutel auf dem Rücken, aus dem oben ihre Puppe herausguckte. Meine Frau brachte das Kind zu seinen Eltern, die es in Frankfurt am Main in Empfang nahmen. Am Grenzkontrollpunkt mußten beide aus dem Zug aussteigen und zur Durchleuchtung eines Stofftieres in eine Zollbaracke gehen. Beim Umsteigen in Hannover, mit dem schweren Gepäck und dem Kind an der Hand, waren andere Fahrgäste meiner Frau sehr behilflich.

Noch am gleichen Tag reisten auch die Berliner Schwiegertochter und Enkelin aus. Von der Abteilung Inneres war ihnen ein Zug ab Schöneweide genannt worden, der aber an jenem Abend gar nicht fuhr. Da sie jedoch bis Mitternacht die DDR verlassen haben mußten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als für Westgeld ein Taxi von Berlin bis zur Grenze nach Helmstedt zu nehmen, für DDR-Geld wollte kein Fahrer die weite Fahrt machen. Weil der Fahrer nicht bis an den Kontrollpunkt - dort war Sperrbezirk! - heranfahren durfte, mußten Mutter und Kind, ebenfalls mit schwerem Koffer, in der stockdunklen Nacht und bei beginnendem Regen den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegen.
Damit endete für meine Söhne und ihre Familien die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration des Jahres 1988.

Unsere Ausreise
Meine Frau und ich waren von der Staatssicherheit darüber aufgeklärt worden, daß unsere in den Westen abgeschobenen Kinder in den nächsten zehn Jahren die DDR nicht besuchen dürften. Wer ahnte denn, daß bereits zwei Jahre später die DDR nicht mehr existieren würde?

Nach gründlichen Überlegungen kamen meine Frau und ich zu der Auffassung, diesem Land ebenfalls den Rücken zu kehren. "Laßt alles stehen und liegen! Was wollt ihr dort noch?", meinten unsere Kinder am Telefon. Es war jene Phase, in der DDR-Bürger in Scharen das Land verließen.

Im Februar 1989 stellten wir den Ausreiseantrag. Ein Wust von Erklärungen aller Art kam auf uns zu, Rücksprachen bei allen möglichen Ämtern und Dienststellen waren zu führen. Unser Hab und Gut mußte untergebracht werden, zum Teil wurde es verschleudert. Neben vielen ehrlichen, hilfsbereiten Menschen lernten wir auch solche Mitbürger kennen, die sich mit überschwenglichem Gehabe unser Vertrauen erschlichen, um dann Haus und Bungalow zu ergattern. Als wir ausgereist waren, wollten sie von dem, was "sicherheitshalber" nur mündlich vereinbart worden war, nichts mehr wissen.

Am 11. August 1989 zogen meine Frau und ich, mit Koffern und Taschen schwerbepackt, aus der Potsdamer Wohnung aus und fuhren über den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin. Als wir am letzten Grenzer vorbeiliefen, sagte dieser leise: "Jetzt sind Sie frei!"

Infolge der bereits herrschenden Ausreiseflut war es kompliziert, in West-Berlin eine Wohnung zu finden. Zum Glück konnten wir beim ältesten Sohn, der inzwischen vom Münsterland nach Spandau übergesiedelt war, provisorisch unterkommen. Unser Bestreben war es, nach der Ausreise aus der DDR im heimatlichen Bereich zu bleiben, also in West-Berlin, was die Behörden auch akzeptierten. Es dauerte alles seine Zeit, täglich von Spandau nach Marienfelde zum Aufnahmelager zu fahren. Dort wurden wir von einer Baracke zur anderen geschickt. Dazwischen stundenlanges Warten. Der Papierkrieg war hier, wie wir bald merkten, noch ausgeprägter als in der DDR.

In Absprache mit den "Käufern" unseres Hauses hatten wir die zur Mitnahme bestimmten Möbelstücke und Hausratsgegenstände dort in einem Zimmer vorerst untergestellt. Wir hofften, das Wohnungsproblem werde in vier bis sechs Wochen gelöst sein. Doch es dauerte erheblich länger.

Es gelang uns, in Spandau einen leerstehenden Kellerraum zur vorläufigen Unterbringung unserer Sachen ausfindig zu machen. Endlich konnten unsere Möbel aus Potsdam geholt werden. Durch den bereits deutlich fortschreitenden Verfall der DDR war es sogar möglich, daß wir das selbst erledigten. Der bis dato vorgeschriebene offizielle Weg eines solchen Umzuges wäre über die DDR-Spedition DEUTRANS gegangen und hätte uns 2500 DM gekostet, die wir nicht besaßen.

Also mieteten wir einen LKW, und mein Sohn und ich fuhren mit den erforderlichen Papieren nach Potsdam. Unter dem wachsamen Auge unserer Haus-"Erbin", die uns an der Tür abfertigte, luden wir unsere Sachen auf den LKW und ab ging es zur Grenzkontrollstelle Staaken. Der Zöllner dort machte Schwierigkeiten. Erst verlangte er noch eine bestimmte Genehmigung des Rates des Bezirkes Potsdam, die sich allerdings bei den Unterlagen befand, die er in der Hand hielt. Aber ungeachtet dessen könne er uns nicht passieren lassen. Das ginge nur über die Zolldienststelle in Potsdam. Es war Freitagmittag. Auf unsere dringende Bitte rief er dort an und kündigte an, daß noch Reisende kommen würden. Von der Kontrollstelle aus konnten wir das Viertel in West-Berlin sehen, wo wir hinfahren wollten.

Es half nichts. Wieder einsteigen, den LKW gewendet und zurück. Quer durch Potsdam ging die Fahrt. Erst zum Kontrollpunkt Drewitz, wo DEUTRANS seinen Sitz hatte. Dort waren 50 DM zu bezahlen, wofür weiß ich nicht, aber ich bekam die wichtige Quittung. Gegen 14 Uhr kamen wir beim Zoll in der Karl-Marx-Straße an. Ich klingelte. Ein Zollbeamter öffnete, nahm die Papiere entgegen und verschwand wieder. Nach einigen Minuten bangen Wartens - man kam sich ja bei solchen Gelegenheiten wie ein armer Sünder vor - erschien ein älterer Zöllner und meinte zu mir: "Was macht denn der Anglerverband, wenn du nicht mehr da bist?"

Es war ein Bekannter vom Potsdamer Anglerverband. Theoretisch hätte er uns an eine Rampe auf dem Hof heranfahren und alles ausladen lassen können. Er rief einen jüngeren Kollegen, der einen Blick in den LKW warf, und während wir noch ein paar Worte wechselten, wurde die Ladung versiegelt. Der Zöllner in Staaken wunderte sich, daß wir so schnell zurück waren und sich alles in ordnungsgemäßem Zustand befand. Ein wenig Glück gehört eben auch dazu.

Bald nach unserer Übersiedlung nach West-Berlin ist die Mauer gefallen. Nach vier Monaten hatten wir endlich eine neue Bleibe gefunden.

Ein Mauerloch bei Berlin-Staaken, nicht weit von unserem heutigen Wohnsitz auf der Westseite. Von dort sind es nur ein paar hundert Meter zu unserer vertrauten Umgebung.

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Inhalt

Orte   9
Chronologie 1961-1989   11
Vorbemerkungen   24

Hermann Meyn, Allein auf weiten Fluren  27
Dietrich O. A. Klose, Abschied von Berlin  32
Rudolf Bentz, Republikflüchtige Aale   39
Marianne Doerfel, Kannitverstan  43
Marianne Doerfel, Blinde Passagiere   56
Reinhard Lauenstein, Mit List und Tücke   65
Traute Siegmund, Schlangestehen lohnt immer!   71
Peter Franke, Schwester rollt seit sechs Uhr ...   80
Meinhard Schröder, Zur Fahndung ausgeschrieben   89
Erna Hannemann, „Gefüllte“ Leberwurstbrötchen im Interzonenzug  100
Jan Eilers, Dresdner Christ-Stollen  103
Marianne Diepen, Patenschaft für einen DDR-Turner   107
Maria-Elisabeth Warnke, Die Prag-Connection  117
Lothar Böttcher, Hochsitz  127
Clemens Kugelmeier, Unglücklich das Land, das Helden nötig hat   129
Evelyn Steudel, Getrennte Wege   134
Hans Peter Kutscha, Meine Volkspolizisten  140
Hans-Joachim Musiol, Vorkommnisse  149
Helga Brachmann, Angst  157
Ingeborg Hoffmann-Sagebiel, Fast ein Katzensprung  165
Lothar Böttcher, Balkonsonntag  171
Manfred Glashagen, Stippviste im anderen Deutschland   174
Anneliese Ohlenburg, Fremdes, deutsches Land  180
Renate Strebel, Klassentreffen    185
Helga Brachmann, Mein Sohn und die „Magdalene“   195
Heinz Csallner, „Halt! Stehenbleiben!“  210
Falko Berg , Verkrampfte Beziehungen  213
Inge Wolter, Urlaub in der geteilten Stadt   226
Paul Misch, Das Corpus delicti   231
Michael Deutsch, Solo durch die DDR   236
Jürgen Hagenmeyer, Dresden – Erwartung und Wirklichkeit   249
Judith Finke, Lüge und Wahrheit   254
Jürgen Hagenmeyer, Konfirmation mit Hindernissen   258
Irmgard Pondorf, Die ruhiggestellte Tante   261
Erika Tappe, Kurswagen nach Kopenhagen   265
Paul Misch, Lampenfieber   274
Inge Dreßler, Grenzerfahrung   279
Helga Hauthal, Ein Jahr mindestens   281
Dorothea F. Voigtländer, Verschollen   287
Elfriede Brückner, Meine Reise zum „Klassenfeind“   297
Ingrid Franke, Einmal Gießen – und zurück   302
Rudolf Bentz, Die Demonstration   315
Helmut Heimrich, Das Ende einer Illusion   325
Erika Tappe, „Nun ist er endgültig kaputt!“   336
Renate Grobe, Das Pannenschaf   339
Roland Walter, Ein Traum wird wahr   342

Verfasser   354

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