Fünf
Leseproben
Hildegard
Kupko, Unser erstes Radio
Wilhelm
Schäfer, Ja, die passen doch
Theresia Nobel,
Ein Ei zum Geburtstag
Eva Korhammer, Wunderbare Brotvermehrung
Dorothea
F. Voigtländer, Schlüssel-Kinder
[zum
kompletten Inhaltsverzeichnis]
[Weimar,
Thüringen;
1929]
Hildegard
Kupko
Unser erstes Radio
Mein Vater
war ein recht geschickter Bastler, er reparierte sogar Uhren. Leidenschaftlich
gern besohlte er Schuhe. Er paßte seinen klobigen Arbeitsschuhen
dicke Ledersohlen an, auf die Zwecken genagelt wurden. Sie sahen aus wie
Reißzwecken, waren aber viel derber. Die Absätze erhielten
Eisen in der Rundung, zirka einen halben Zentimeter breit. So war
er für seine Arbeit als Zugabfertiger bei der Bahn auf seinen Wegen,
die meistens aus grobem Schotter bestanden, bestens gerüstet. Auch
wir zwei Weiberleit, Mutter und ich, bekamen auf unsere Schuhspitzen
Eisen genagelt. So ausgestattet, hielten sie wesentlich länger.
Vater hantierte auch mit Farbe, besonders gern mit Ölfarben. Mit
Streichen und Tapete kleben hatte er allerdings nichts im Sinn. Bei Bedarf
mußte der Henner Helbig aus der Nachbarschaft geholt werden.
Im Sommer 1929 nahm sich Vater ein paar Tage Urlaub, um seine Eltern und
Geschwister in Berlin wieder einmal zu besuchen. Sein Bruder Erich hatte
sich einen Radioapparat bauen lassen. Eine industrielle Produktion war
noch nicht so verbreitet, doch geschickte Bastler nutzten die beginnende
Nachfrage, um in Heimarbeit in das lukrative Geschäft einzusteigen.
Vater interessierte sich sehr dafür. Onkel Erich gab Hinweise und
Tips, so daß Vater schließlich ganz besessen war von dem Gedanken,
solch ein Gerät selbst zu bauen.
Er hörte sich um und fand in der Weimarer Sophienstraße den
Ingenieur Zeyß, der Schaltpläne und Zubehör anbot. Also
kaufte er dort alles Nötige ein und begann zu sägen, zu hämmern
und vor allem zu löten es war fürchterlich! Der Tisch
in der Küche war mit den verschiedensten Utensilien belegt, nichts
durfte berührt oder gar verändert werden. Die Familie aß
nebenan am Abwaschtisch.
Wenn Vater vom Dienst kam, mußte das Essen abgekühlt bereitstehen.
Sodann stürzte er sich förmlich auf seine Arbeit. Fast verbissen
werkelte er, es wurde nicht gesprochen, durch nichts durfte er gestört
werden. Ich flüchtete, sooft ich konnte. Es war nicht auszuhalten.
Meine Mutter hielt stumm aus einmal würde das Drama ja ein
Ende haben.
Um 1925. Der Rundfunk erweckte ein neues Hobby: Überall enstanden
Bastlergruppen, die sich mit zum Teil einfachen Mitteln ihre Empfangsgeräte
selber bauten.
Es kam der Tag, an dem mein Vater sein Kunstwerk gut verpackt in den
Rucksack steckte und zu Herrn Zeyß ins Bahnhofsviertel ging, um
es ihm vorzustellen. Das Gerät wurde an Akku und Anodenbatterie angeschlossen,
ein Lautsprecher angeklemmt und es dudelte auf Anhieb!
Riesenfreude und Stolz erfaßten ihn: Ein einfacher Eisenbahnarbeiter
hatte ein Rundfunkgerät zustandegebracht.
Nun hatten wir alles Zubehör beisammen bis auf die Antenne,
noch war kein Empfang im trauten Heim möglich. Sie mußte nach
Berechnung von Herrn Zeyß 30 Meter lang sein. In der Nachbarschaft
wurden Helfer organisiert, die die Antenne sowie ihren Anschluß
hoch über die Straße legten. Mit einem Bananenstecker wurde
sie an den Apparat angeschlossen. Über einen Schalter konnte man
die Antenne nach Benutzung erden. Ich entsinne mich, daß der Ansager
abends bei Programmschluß den guten Rat gab: Und nun, liebe
Hörerinnen und Hörer, vergessen Sie nicht, Ihre Antenne zu erden.
Vater sagte darauf prompt: Nein, wir vergessen die Beerdigung nicht,
und betätigte den Schalter. Am Ende jedes Tages wurde das Deutschlandlied
gespielt.
Schön
war das Äußere des Radioapparates im Vergleich zu heutigen
Geräten nicht. Alle elektrischen Bauteile waren in einem Kasten aus
Kunststoff, etwa 35 mal 25 Zentimeter groß, unter einer Platte angebracht.
Diese Platte war mit drei Röhren bestückt. Mir erschienen sie
wie Glühlampen, innen mit Silber überzogen. Links daneben befanden
sich drei runde Spulen, aus feinem grünen Draht gewickelt, auf Stiftsockeln.
Die mittlere war unbeweglich, die beiden anderen ließen sich drehen,
um die Sender abzustimmen und die Lautstärke zu regulieren. Zu diesem
Zweck betätigte man eine Schraubvorrichtung an einer kleinen Stange.
Kam man bei der Lautstärkeregelung der großen Spule zu nahe,
quietschte es ganz fürchterlich.
Der Lautsprecher, ein trichterförmiges Gerät der Firma N &
K, wie man ihn heute noch bei nostalgischen Grammophonen sieht, war separat
auf einer Eckkonsole befestigt. Ein Detektor, ein kleines Glasröhrchen
mit einem Stück Metall und einem dünnen Draht darin, war ebenfalls
auf die Platte montiert worden. Man sah dem Apparat an, daß er in
reiner Handarbeit entstanden war aber er erfüllte hundertprozentig
seinen Zweck!
Zwei Mark betrug damals die monatliche Rundfunkgebühr, zwei Sender
konnten wir empfangen: Leipzig und Berlin, glaube ich, oder Königs
Wusterhausen. Auf unserer Gebührenquittung war eine niedrige Empfängernummer
eingetragen, wir waren wohl weit und breit die einzigen Hörer, außer
bei uns sah man im Stadtviertel nirgends eine Antenne.
Meine Eltern
stellten das Gerät nur ab und zu an, eine Programmzeitschrift gab
es noch nicht. Die einzelnen Darbietungen wurden durch kurze Hinweise
angekündigt. Viel Musik hörten wir und noch öfter Nachrichten,
das war schon angenehm. Wurde der Empfang schlechter oder unklar, Sprache
und Musik verzerrt, so lag es entweder an einer verbrauchten Anodenbatterie
oder am Akku. Die Batterie kostete 4,50 RM, den Akku brachte man zum Aufladen.
Sein Gehäuse bestand aus dicken Glasplatten, innen waren Bleiplatten
angebracht, in verdünnte Salzsäure versenkt. Oben befanden sich
ein Schraubverschluß aus Porzellan sowie ein Minus- und ein Plus-Pol.
Die Gefahr, sich bei geöffnetem Verschluß die Haut mit Salzsäure
zu verätzen oder sich die Kleidung zu beschädigen, war ziemlich
groß. Nach jeder Berührung war Händewaschen nötig.
Unser selbstgebautes Radio war viele Jahre unser bestes Stück. Einen
Volksempfänger kauften wir nicht, Ende der Dreißiger Jahre
schafften wir den Radioempfänger Nora an. Nora der mit dem
magischen Auge, das als grünes Licht die richtige Einstellung
anzeigte. Das Gerät war der letzte Schrei und erlaubte eine weitaus
größere Senderauswahl.
Aus: Zwischen
Kaiser und Hitler. Reihe ZEITGUT, Band 15.
[nach oben]
[Pfaffenhofen-Weiler,
Schwaben;
1932]
Wilhelm Schäfer
Ja, die passen doch
Mein Vater
war Kleinbauer und Weingärtner, wie es in den Dörfern im schwäbischen
Unterland viele gab. Die Landwirtschaft ernährte die Familie mehr
schlecht als recht, deshalb gingen Vater und die anderen Kleinbauern in
den Wintermonaten zum Holzfällen in den Gemeindewald. Als die Massenarbeitslosigkeit
um sich griff, durften nur noch die Arbeitslosen der Gemeinde den Holzeinschlag
durchführen. So kamen die kleinen Bauern um ihren Nebenverdienst.
Sie hatten wohl ihre Grundnahrungsmittel, aber oft keinen Pfennig Bares
im Haus.
An einem Novembertag,
ich war zwölf Jahre alt, ging der Lehrer mit uns Buben zum Sport.
Wir liefen von der Schule durch die engen Dorfgassen hinunter zum kleinen
Sportplatz am Bach. Die Gassen waren nur mit Steinen eingeschottert, und
in den Löchern stand das Regenwasser in kleinen und großen
Pfützen. Ich hatte Sandalen an, da ich keine anderen Schuhe besaß.
Damit meine Strümpfe nicht naß wurden, hüpfte ich immer
über die Pfützen. Als der Lehrer sah, daß ich zu dieser
Jahreszeit noch Sandalen trug, meinte er: Sage deinem Vater, er
soll dir ein Paar gute Schuhe kaufen.
Daheim, beim Mittagessen, berichtete ich meinem Vater davon. Er erwiderte
nichts, wurde aber nachdenklich. Nach dem Mittagessen sagte er zu mir:
Komm, wir gehen zum Schuhmacher. Mutter holte den Geldbeutel
und gab Vater zögernd einen Zehnmarkschein. Das war damals sehr viel
Geld. Ein Arbeiter verdiente 50 Pfennige in der Stunde. Ich ahnte, daß
es das letzte Geld sein könnte, das meine Eltern im Haus hatten.
In der Werkstatt des Dorfschuhmachers wurden mir dann schwarze Schnürschuhe
anprobiert.
Sie kosten zehn Mark, sprach der Schuhmacher. Er kniete sich
hin und drückte mit dem Daumen auf die Schuhe an meinen Füßen.
Ein bißchen eng, bemerkte er, und ich spürte es
auch. Aus einem Regal holte er dann ein Paar Schuhe, das eine Nummer größer
war. Die kosten elf Mark.
Mein Vater, der neben mir stand, hielt noch immer das erste Paar in der
Hand. Während der Schuhmacher mir die größeren Schuhe
anprobierte, drückte und bog Vater die anderen hin und her, als wollte
er sie etwas größer machen. Ich wußte, daß er die
Elfmarkschuhe nicht kaufen konnte.
Vater entschied
schließlich: Wir wollen doch noch einmal die ersten Schuhe
anprobieren.
Ich schlüpfte also wieder hinein und zog diesmal meine Zehen zurück.
Als der Schuhmacher erneut auf die Spitzen drückte, stellte er fest:
Ja, die passen doch.
Stolz ging ich in den nächsten Tagen mit meinen neuen Schuhen, wenn
sie auch etwas zu eng waren, zur Schule. Zu dieser Zeit ging mein Vater
täglich hinaus zu unserem Baumstück. Dort grub er mit dem Spaten
die Wiese um, damit er im Frühjahr ein weiteres Stück Ackerland
hatte.
1930: Mein
Vater als schwäbischer Kleinbauer mit seinem Kuhgespann.
Du kannst
mir helfen! sagte Vater nach der Schule zu mir. Ich ging mit ihm
zur Baumwiese. Mit meinen neuen Schuhen stieß ich den Spaten leicht
in die Erde. Die Zeit verging schnell. Als die Dorfglocke vier Uhr läutete,
verspürte ich auf einmal an meinem rechten Fuß Schmerzen. Es
war der Fuß, mit dem ich den Spaten in die Erde gedrückt hatte.
Die Schmerzen wurden immer schlimmer, ich hätte aufschreien können,
doch ich biß die Zähne zusammen. Da meine Eltern für diese
Schuhe ihr letztes Geld ausgegeben hatten, wollte ich mich nicht noch
darüber beklagen. Auf dem Heimweg hinkte ich mühsam hinter meinem
Vater her. Zu Hause, im Wohnzimmer, ratterte Mutters Nähmaschine.
Vater ging in den Kuhstall, um das Vieh zu füttern.
Endlich allein, konnte ich in der Küche meine Schuhe ausziehen und
mir die Bescherung ansehen. Der zu enge Schuh hatte mir auf dem Fußrücken
die Haut aufgescheuert, so daß das blanke Fleisch zu sehen war.
Im Zorn griff ich nach einem spitzen Küchenmesser und stieß
es dort, wo das Leder gescheuert hatte, in den Schuh. Ich machte einen
etwa drei Zentimeter langen Schnitt. Die Spalte klaffte weit auseinander
wie die aufgesprungene Schale einer reifen Kastanie. Erleichtert dachte
ich: Der verdammte Schuh kann jetzt nicht mehr drücken!
Da ich meine Schuhe selbst putzte, erfuhren meine Eltern nie von der Angelegenheit.
Wenn Mutter im Winter fragte, warum mein rechter Strumpf oft so naß
sei, gab ich einfach keine Antwort.
Aus "Stöckchenhiebe",
Reihe ZEITGUT, Band 3.
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[Bremen;
1945]
Theresia
Nobel
Ein Ei zum Geburtstag
Wir waren
Ende Februar 1945 aus der Kinderlandverschickung von Sachsen nach Bremen
zurückgekehrt. Wegen der vielen Luftangriffe und des ständigen
Beschusses durch den Feind, der vor der Stadt lag, mußten wir die
meiste Zeit im Bunker verbringen. Dort saßen wir alle in völlig
überbelegten Räumen. Es war so heiß und sauerstoffarm,
daß man nicht einmal ein Streichholz zum Brennen bringen konnte.
In den letzten Kriegstagen sprach sich herum, daß ein Eiergroßhändler
seine Vorräte lieber an die Deutschen verteilen wollte, als sie später
den Besatzern zu überlassen. Unsere Familie zählte zu dieser
Zeit fünf Personen. Wir bekamen 120 oder 150 Eier, genau weiß
ich es nicht mehr. Man stelle sich das vor, so viele Eier in dieser Zeit
der Entbehrungen!
Die Eier wurden im Haus versteckt, ein Teil zwischen den halbverbrannten
Fußbodendielen, ein Teil im Keller unter dem Deckel der Wasseruhr,
ein Teil in einem rasch errichteten Verschlag unter der Kellertreppe.
Den Rest vergruben wir zwischen dem Kellerfenster und den Verblendsteinen,
die vor allen Kellern als Schutz vor dem Druck explodierender Bomben und
vor Bombensplittern angebracht worden waren. Damit ja niemand sie uns
wegnahm! Diese Menge Eier ersparte uns den Hunger!
Der Krieg
war aus. Inzwischen schrieben wir den 15. Mai. Mir fiel ein, daß
Lore, meine Klassenkameradin, Geburtstag hatte. Lore und ihre Familie
hatten viel Schlimmes durchgemacht. Zuerst wurden sie in der Nordstraße,
wo sie ein Textilgeschäft betrieben, ausgebombt. Sie fanden daraufhin
Unterkunft in der Hamelner Straße.
Meine Gruppe
aus dem Religionsunterricht in den Trümmern der St.-Marien-Kirche
von Bremen. Das Foto entstand anläßlich unserer Schulentlassungsfeier
im Frühjahr 1945. Links außen bin ich zu sehen, dahinter meine
Schwester Hildegard.
Als Lore mit
uns zusammen aus der Kinderlandverschickung nach Hause kam, war auch dieses
Haus zerstört. In der Bäckerei an der Ecke erfuhr sie, wo ihre
Eltern sich aufhielten. Sie wohnten mit mehreren Personen in der Waller
Heerstraße in einem kleinen Laden ohne Nebenräume. Sie hatten
kaum Möbel zur Verfügung und schliefen auf dem Fußboden.
Lore erzählte mir in diesen Tagen, daß sie nach einem Angriff
eine Frau gesehen habe, die ein Kind auf dem Arm trug, das keinen Kopf
mehr hatte.
Ich wollte Lore etwas Gutes tun und ihr zum Geburtstag ein Ei schenken.
Meine Mutter erlaubte es. Rasch lief ich zu Lore und gab ihr das Ei in
die Hand. Später erzählte sie mir, daß sie vor Freude
geweint habe. Und sie sagte mir auch, wie es mit dem Ei weiterging.
Lores Mutter hatte die Nachbarn, die nicht ausgebombt waren, gebeten,
ihr etwas Mehl und Zucker zu geben, damit sie für ihre Tochter einen
kleinen Kuchen backen konnte. Während sie sich eine Weile bei ihnen
aufhielt, stürmten amerikanische Besatzungssoldaten, die vor dem
Haus Kabelarbeiten verrichtet hatten, in den Laden. Sie waren betrunken,
stürzten das Regal um, das Lores Mutter aus ihrem Textilgeschäft
in der Nordstraße gerettet hatte. Und das Ei, das für den Geburtstagskuchen
bestimmt war, warfen sie an die Wand!
Aus: "Wir
wollten leben", Reihe ZEITGUT, Band 5.
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[Friedberg,
Hessen;
Winter 1945]
Eva Korhammer
Wunderbare Brotvermehrung
Ich
war zwölf im Dezember 1945. Unser erstes Weihnachten wieder ohne
Angst vor Sirenen, Bomben und Bunker!
Sogar einen Winzling von Weihnachtsbaum hatte mein Vater organisiert.
Einen größeren hätte er ohnehin nicht schleppen können,
geschwächt, wie er gerade heimgekehrt war. Ein größerer
hätte auch nicht in unsere Wohnmansarde unterm Dach gepaßt,
diesen Verschlag ohne Wasser und Strom, der uns Bomben-Flüchtlingen
zugeteilt worden war. Wenigstens fehlte es dem Winzling an nichts: mehrmals
eingeschmolzene Kerzen (Luftschutzzuteilung) mit Dochten aus Pfeifenreinigern,
Lametta (Stanniolstreifen, die zu Störzwecken abgeworfen worden waren),
Kugeln (aus nassem Zeitungspapier geformt und mit Ich-weiß-nicht-was
gefärbt). Was fehlte, waren Backzutaten. Der Bäcker um die Ecke
hätte unser Blech mit in seinen Ofen geschoben wenn was draufgelegen
hätte!
Meine Mutter hamsterte unverdrossen für ihr Anstatt-Rezept: Graue
Kleie statt Weizenmehl, Sowei-Eiersatzpulver, Süßstoff
statt Zucker, Natron statt Hefe, Wasser statt Milch. Mit viel Glück
konnte sie ein Klümpchen ergattern. Für Rosinen oder Sukkade
gab es keine Alternative...
In jenem Winter
fing ich an, als Rathauswegweiser zu arbeiten. Dies zu erklären,
muß ich meine Zeugnisnoten von damals preisgeben, die aus der Stadt,
in der wir ausgebombt worden waren: In der Spalte Kunst stand ein Ungenügend
(weil ich keinen HJ-Pimpf aus dem Gedächtnis malen konnte), in der
für Fleiß ein Mangelhaft wegen meines fehlenden
Eifers beim Knochensammeln für Seife. Nur bei Englisch stand
ein Gut. Und das prädestinierte mich nun zum Rathauswegweiser.
Auch die kleine hessische Provinzstadt, in die wir geflohen waren, wollte
sich vom Krieg erholen. Ihren Bewohnern lag daran, rasch zu den Besatzungsbehörden
vorzudringen, um wieder ein bißchen Ordnung in ihr Leben zu bringen.
Unsere Sieger kamen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und
waren gar nicht so unfreundlich. Nur verstanden sie eben kein Wort Deutsch.
Und die Bürger des Städtchens nur mäßig Englisch.
Heute würde man sagen, meine Laufbahn sei vorprogrammiert gewesen.
Ich sehe es allerdings mehr als Folge meiner guten Beobachtungsgabe. Ich
merkte, wie schwer es die beiden Nationen miteinander hatten und
pflanzte mich vor dem Rathaus auf. Möglichst dicht bei den US-Posten.
Und sobald ich merkte, daß der Dialog zwischen Bürger und Soldat
mangels Vokabeln zu kippen drohte, sprang ich als lebender Wegweiser mit
Englischkenntnissen ein. Was ich da radebrechte, hätte meinen Englischlehrer
wohl vorzeitig ins Grab gebracht. Die Amis fanden es toll! Sie konnten
bald nicht mehr auf mich verzichten und belohnten mich mit Hershey-Schokoriegeln,
Schoka-Cola und Chewing Gum satt.
Während
unserer Evakuierung 1945/46. Man sieht es am Muster - ich trug ein Kleid,
das aus der geretteten Küchengardine meiner Eltern genäht worden
war.
Das Spielchen
war so bequem und ertragreich, daß ich es wohl bis zur Währungsreform
durchgehalten hätte. Aber eines sonnigen Wintertages trat Bill in
mein Leben. Bill war zwei Meter lang, hatte etwa den gleichen Taillenumfang
und wog so seine zwei Zentner. Er arbeitete im Hauptquartier als Koch.
Und er fand, ich sähe viel zu unterernährt aus, um bei den Rathausposten
herumzulungern. Sprachs, schleppte mich in seine Stabsküche
(unsere Turnhalle), räumte den nächstbesten Tisch leer und schöpfte
aus beängstigend brodelnden Riesentöpfen, was auf einen großen
Eßteller ging. Als nächstes stand ein üppiges, dampfendes,
soßiges, fettschimmerndes Mahl vor mir!
Mir wurde schon vom Anblick der ungewohnten Dinge speiübel. Ich fing
an zu heulen. Meinen gutherzigen Bill brachte das aus dem Tritt.
Hey, sister! flötete er. Honey! Why are you crying?
Tell me, sister, please!
Wenigstens höflich wollte ich bleiben. Thank you for this,
but I can not, and my name is Eva not Hanni and sister is also not right,
schluchzte ich zusammen.
Your sister is also not right? fragte Bill erschrocken weiter.
How many brothers and sisters do you have?
Natürlich, Geschwister hieß brothers and sisters!
Jetzt wußte ichs wieder, und jetzt konnte ich Bill klarmachen,
daß ich keine hatte.
How many? beharrte Bill.
Die erkaltende Soße bleckte mich aus glibbrigen Fettaugen an. Ich
hob abwehrend die Hand. No... setzte ich an.
Da hatte Bill schon aufgeschrien. Five brothers and sisters?
Im nächsten Moment war er verschwunden.
Ich fand mich
damit ab, ihn mit meinem Gejammere vertrieben zu haben. Aber an der Tür
holte mich seine Stimme ein: Hej, Eva, wait!
Bills obere Hälfte verschwand fast hinter einem Karton, der bis zum
Rand vollgepackt war mit Weißbrotpäckchen, Schokobarren, Milchpulver,
Zucker, Süßkartoffeldosen, Erdnußbutter und noch mehr.
Alles in fünffacher Ausfertigung! Ich mußte das Zeug zu kleinen,
tragbaren Stapeln türmen, denn Bill bat mich, möglichst unauffällig
nach Hause zu bringen, was ich der Stabsküche entzog.
Am ersten Weihnachtstag probte ich mit Erni, Sigrid, Paul und Suse aus
meiner Klasse brothers and sisters. Und natürlich genossen
auch meine Eltern, daß mein Englisch so holprig war!
Am Dreikönigstag beichtete ich es Bill aber dann doch. Zur Verstärkung
hatte ich Erni, Sigrid, Paul und Suse dabei. Das war wohl ein Fehler.
Bill lachte nur und schenkte jedem von uns eine Dose Maiskolben.
Aber als ich das nächste Mal in die Stabsküche schaute, arbeitete
dort ein dürrer, muffiger US-Soldat. Ich fand nicht den Mut, ihn
nach Bill zu fragen. Wenn ich es getan hätte, wäre mir heute
wohler. So nagt immer noch ein Quentchen Reue an mir. Womöglich war
Bill über meine fünf Geschwister gestolpert.
Aus: "Nachkriegs-Kinder",
Reihe ZEITGUT, Band 2.
[nach oben]
[Bonn/Rhein;
19521955]
Dorothea
F. Voigtländer
Schlüssel-Kinder
Sie kratzte
gräßlich am Hals, die Kordel, an dem der kalte Hausschlüssel
von Mutti unter dem Pullover oder dem Kleid befestigt worden war, denn der
Schlüssel durfte nicht verlorengehen. Während des Unterrichts
schimpfte unsere Lehrerin immer, wenn wir gelangweilt mit dem Schlüssel
spielten. Meine Freundin Gisela hatte auch einen. Der war kleiner, hing
aber auch an einer festen Kordel um den Hals. Schick war das nicht, aber
notwendig.
Wir waren acht, neun Jahre alt. Wenn wir mittags aus der Schule nach Hause
kamen, war keiner da, der auf unser Klingeln die Tür geöffnet
hätte. Beide Eltern gingen arbeiten, damit das Geld reichte. Also,
den Schlüssel aus dem Pullover gezogen, der dann nicht mehr, wie morgens,
kalt, sondern von der Körperwärme warm in unseren Händen
lag. Rasch wurde die Tür geöffnet: eine unordentliche Wohnung
empfing uns. Mal kam Gisela zu mir nach Hause, mal ging ich zu ihr. Denn
eine Wohnung ohne Mutti und die Geschwister war irgendwie unheimlich. Die
jüngeren Geschwister kamen erst abends nach Hause, Mutti holte sie
nach der Arbeit im Kinderhort ab. Dann wurde es laut und munter.
Aber mittags war es schrecklich still in der unaufgeräumten Wohnung.
Verwöhnt wurden wir nicht, denn Mutti schrieb jeden Tag auf einen Zettel,
was alles zu erledigen war: Lüften, Betten machen, spülen, einkaufen.
Das Mittagessen hatte sie am Abend zuvor gekocht, das mußte aufgewärmt
werden. Oft brannte es uns an oder war zerkocht. So schnell wie möglich
arbeiteten wir kleinen Hausfrauen den Arbeitszettel ab, damit
wir rasch mit den Hausaufgaben beginnen konnten. Dann hatten wir endlich
frei.
Autos gab es
nur wenige, so war die Straße unser Spielplatz. Wir spielten Völkerball,
Seilhüpfen oder Verstecken in den Vorgärten der Nachbarschaft,
die das nicht immer witzig fand. Nur die alte Frau Bauer schimpfte nie.
Sie lud uns sogar zu einer Tasse heißer Schokolade ein welch
ein Genuß! , denn sie sah auch, daß wir spindeldürren
Mädchen nie genug zu essen hatten, obwohl wir alles Eßbare zwischen
die Zähne nahmen, was man uns gab.
Darum war auch die Kinderlandverschickung Thema Nummer eins
in der Schule. Wir wurden durchleuchtet, wie das damals hieß,
stiegen dazu in die damals mobile Röntgenstation, ein riesiger Wagen,
der auf dem Schulhof wartete. Da gab es so manche Tränen, wenn TBC,
Tuberkulose, festgestellt wurde. Aber meist sagte die Waage aus, was Sache
war: Wir wurden alle für zu leicht befunden.
Sag mal, ißt du eigentlich nie genug? fragte mich die
Schulärztin kopfschüttelnd und gab mir einen Zettel für Mutti
mit, die mich dann für die nächste Kinderlandverschickung in den
Sommerferien anmelden mußte. Ich war glücklich, denn das bedeutete
eine vergnügte Fahrt ab dem Bonner Hauptbahnhof in Richtung Schwarzwald,
in den Bregenzer Wald, an den Bodensee oder in ein altes Kloster bei Passau
an der Donau. Geographieunterricht einmal anders.
März
1954: Wir Schlüssel-Kinder wurden nicht gerade beneidet. Deshalb trug
ich den Schlüssel unter dem Pullover. Weil ich so dünn war, wurde
ich von 1950 bis 1954 jedes Jahr in den Schulferien aufs Land "verschickt".
Am Bahnhof gab
es ein großes Hallo. Wir Schlüsselkinder kannten uns fast alle
schon. Jedes Jahr kamen ein paar Neue hinzu, die meist aus dem Osten angereist
waren. Auch Jungen. Wo geht es diesmal hin?, war die Frage.
Am Zielort ging dann die Keilerei los, wer in welchem Raum und am liebsten
am Fenster sein Bett hatte. Wieder wurden wir am Anfang gewogen, gut gefüttert,
mußten mittags schlafen und jeden Nachmittag wandern. Frische Luft
war ein Muß. Am Ende der drei Wochen wurden wir wieder gewogen. Die
meisten hatten gut zugenommen. Aber ich nicht. Zwar hatte ich rote Wangen
und war braungebrannt von der Sommersonne, aber kein Gramm Fett wollte bei
mir bleiben, ich blieb jahrelang spindeldürr. Das bedeutete immer wieder
eine neue Kinderlandverschickung, bis das aus der Mode kam.
Erst nach
dem ersten Kind nahm ich endlich zu. Da war ich 21 Jahre jung und stolz
darauf, endlich eine frauliche Figur zu haben. Doch die Schlüsselzeit
hat mir nicht geschadet: Meinen eigenen Haushalt schaffte ich auch mit
dem Großen Latinum ohne die damals übliche Haushalts- und Mütterschule.
Alles ging flott von der Hand. Dafür hapert es noch heute in Mathematik.
Das können meine Kinder um so besser.
Aus: "Schlüssel-Kinder",
Reihe ZEITGUT, Band 6.
alle Fotos:
Zeitgut-Archiv
[nach
oben]
Inhalt
Orte
8
Warum es bei Zeitgut spannend wird 9
Richard Nettersheim
Der kleine Vaterlandsverteidiger 13
Ernst Haß
Mein Weihnachtswunsch: Ein Vater 18
Hans Wagner
Potsdamer Erkundungen 21
Liesel Hünichen
Autofahren 1927 30
Hildegard Kupko
Unser erstes Radio 35
Willi F. Blaudow
Der dicke und der kleine Dirigent 39
Wilhelm Schäfer
Ja, die passen doch 45
Johannes Oldenettel
Neue Stiefel 48
Hans Edmund Friedrich
Semis sieben Schuljahre als Halbwertiger 51
Hans Östreich
Eine handfeste Belehrung 58
Gisela Schoon
Unbedachte Provokation 64
Gretel Hardeland
Lazaretteinsatz 67
Heimo Gericke
Eigentlich waren Ferien 74
Marianne Bickel
Marianne, raus! 80
Volker Stutzer
Ein zärtlicher Augenblick 85
Evelyn Steudel
Gebrannte Kinder 90
Bernhard Eser
Menschenfresser 94
Hanna Rieck
Das Brot 105
Dieter Biedekarken
O, poor boys! 107
Theresia Nobel
Ein Ei zum Geburtstag 115
Hans Engels
Die Heimkehr 118
Erika Wagner
Die Puppe 121
Helga Kamm
Geschichten vom Rübezahl und Butterbrote 125
Gabriele Schmidt
Stromsperre 129
Eva Korhammer
Wunderbare Brotvermehrung 132
Siegbert Stümpke
Ihr kriegt mich nie! 136
Dorothea F. Voigtländer
Hunger oder kalte Füße? 142
Brigitte Mauel
Unser Vater ein Kohlenklau? 145
Heinrich Polthier
Luftbrücke in die Freiheit 148
Hans-Dieter Mauel
Der Absturz 152
Liselotte Kubitza
1951 ein aufregendes Jahr 155
Dorothea F. Voigtländer
Schlüssel-Kinder 160
Monica Arcucci
Im Wahlkampf 163
Siegfried Lührsen
Central-Lichtspiele 169
Ingo Becker-Kavan
Wie Elvis 175
Verfasser
182
Verlagsprogramm 187
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