Leseproben




Kinder des Jahrhunderts
Zeitgut zum Kennenlernen:
Fesselnde Geschichten des Alltags
aus mehr als 1.000 Erinnerungen
1914 - 1960

Herausgegeben von Jürgen Kleindienst
192 Seiten, viele Fotos,
Z
eitgut Verlag, Berlin
Taschenbuch
ISBN 3-933336-68-6
Schnupperpreis 6,90 EUR


Fünf Leseproben

Hildegard Kupko, Unser erstes Radio
Wilhelm Schäfer, „Ja, die passen doch“
Theresia Nobel, Ein Ei zum Geburtstag
Eva Korhammer, Wunderbare Brotvermehrung
Dorothea F. Voigtländer, Schlüssel-Kinder

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[Weimar, Thüringen;
1929]

Hildegard Kupko
Unser erstes Radio

Mein Vater war ein recht geschickter Bastler, er reparierte sogar Uhren. Leidenschaftlich gern besohlte er Schuhe. Er paßte seinen klobigen Arbeitsschuhen dicke Ledersohlen an, auf die Zwecken genagelt wurden. Sie sahen aus wie Reißzwecken, waren aber viel derber. Die Absätze erhielten Eisen in der Rundung, zirka einen halben Zentimeter breit. So war er für seine Arbeit als Zugabfertiger bei der Bahn auf seinen Wegen, die meistens aus grobem Schotter bestanden, bestens gerüstet. Auch wir zwei „Weiberleit“, Mutter und ich, bekamen auf unsere Schuhspitzen Eisen genagelt. So ausgestattet, hielten sie wesentlich länger.

Vater hantierte auch mit Farbe, besonders gern mit Ölfarben. Mit Streichen und Tapete kleben hatte er allerdings nichts im Sinn. Bei Bedarf mußte der Henner Helbig aus der Nachbarschaft geholt werden.

Im Sommer 1929 nahm sich Vater ein paar Tage Urlaub, um seine Eltern und Geschwister in Berlin wieder einmal zu besuchen. Sein Bruder Erich hatte sich einen Radioapparat bauen lassen. Eine industrielle Produktion war noch nicht so verbreitet, doch geschickte Bastler nutzten die beginnende Nachfrage, um in Heimarbeit in das lukrative Geschäft einzusteigen. Vater interessierte sich sehr dafür. Onkel Erich gab Hinweise und Tips, so daß Vater schließlich ganz besessen war von dem Gedanken, solch ein Gerät selbst zu bauen.

Er hörte sich um und fand in der Weimarer Sophienstraße den Ingenieur Zeyß, der Schaltpläne und Zubehör anbot. Also kaufte er dort alles Nötige ein und begann zu sägen, zu hämmern und vor allem zu löten – es war fürchterlich! Der Tisch in der Küche war mit den verschiedensten Utensilien belegt, nichts durfte berührt oder gar verändert werden. Die Familie aß nebenan am Abwaschtisch.

Wenn Vater vom Dienst kam, mußte das Essen abgekühlt bereitstehen. Sodann stürzte er sich förmlich auf seine Arbeit. Fast verbissen werkelte er, es wurde nicht gesprochen, durch nichts durfte er gestört werden. Ich flüchtete, sooft ich konnte. Es war nicht auszuhalten. Meine Mutter hielt stumm aus – einmal würde das Drama ja ein Ende haben.



Um 1925. Der Rundfunk erweckte ein neues Hobby: Überall enstanden Bastlergruppen, die sich mit zum Teil einfachen Mitteln ihre Empfangsgeräte selber bauten.

Es kam der Tag, an dem mein Vater sein Kunstwerk gut verpackt in
den Rucksack steckte und zu Herrn Zeyß ins Bahnhofsviertel ging, um es ihm vorzustellen. Das Gerät wurde an Akku und Anodenbatterie angeschlossen, ein Lautsprecher angeklemmt – und es dudelte auf Anhieb!

Riesenfreude und Stolz erfaßten ihn: Ein einfacher Eisenbahnarbeiter hatte ein Rundfunkgerät zustandegebracht.
Nun hatten wir alles Zubehör beisammen – bis auf die Antenne, noch war kein Empfang im trauten Heim möglich. Sie mußte nach Berechnung von Herrn Zeyß 30 Meter lang sein. In der Nachbarschaft wurden Helfer organisiert, die die Antenne sowie ihren Anschluß hoch über die Straße legten. Mit einem Bananenstecker wurde sie an den Apparat angeschlossen. Über einen Schalter konnte man die Antenne nach Benutzung erden. Ich entsinne mich, daß der Ansager abends bei Programmschluß den guten Rat gab: „Und nun, liebe Hörerinnen und Hörer, vergessen Sie nicht, Ihre Antenne zu erden.“
Vater sagte darauf prompt: „Nein, wir vergessen die Beerdigung nicht“, und betätigte den Schalter. Am Ende jedes Tages wurde das Deutschlandlied gespielt.


Schön war das Äußere des Radioapparates im Vergleich zu heutigen Geräten nicht. Alle elektrischen Bauteile waren in einem Kasten aus Kunststoff, etwa 35 mal 25 Zentimeter groß, unter einer Platte angebracht. Diese Platte war mit drei Röhren bestückt. Mir erschienen sie wie Glühlampen, innen mit Silber überzogen. Links daneben befanden sich drei runde Spulen, aus feinem grünen Draht gewickelt, auf Stiftsockeln. Die mittlere war unbeweglich, die beiden anderen ließen sich drehen, um die Sender abzustimmen und die Lautstärke zu regulieren. Zu diesem Zweck betätigte man eine Schraubvorrichtung an einer kleinen Stange. Kam man bei der Lautstärkeregelung der großen Spule zu nahe, quietschte es ganz fürchterlich.

Der Lautsprecher, ein trichterförmiges Gerät der Firma N & K, wie man ihn heute noch bei nostalgischen Grammophonen sieht, war separat auf einer Eckkonsole befestigt. Ein Detektor, ein kleines Glasröhrchen mit einem Stück Metall und einem dünnen Draht darin, war ebenfalls auf die Platte montiert worden. Man sah dem Apparat an, daß er in reiner Handarbeit entstanden war – aber er erfüllte hundertprozentig seinen Zweck!

Zwei Mark betrug damals die monatliche Rundfunkgebühr, zwei Sender konnten wir empfangen: Leipzig und Berlin, glaube ich, oder Königs Wusterhausen. Auf unserer Gebührenquittung war eine niedrige Empfängernummer eingetragen, wir waren wohl weit und breit die einzigen Hörer, außer bei uns sah man im Stadtviertel nirgends eine Antenne.


Meine Eltern stellten das Gerät nur ab und zu an, eine Programmzeitschrift gab es noch nicht. Die einzelnen Darbietungen wurden durch kurze Hinweise angekündigt. Viel Musik hörten wir und noch öfter Nachrichten, das war schon angenehm. Wurde der Empfang schlechter oder unklar, Sprache und Musik verzerrt, so lag es entweder an einer verbrauchten Anodenbatterie oder am Akku. Die Batterie kostete 4,50 RM, den Akku brachte man zum Aufladen. Sein Gehäuse bestand aus dicken Glasplatten, innen waren Bleiplatten angebracht, in verdünnte Salzsäure versenkt. Oben befanden sich ein Schraubverschluß aus Porzellan sowie ein Minus- und ein Plus-Pol. Die Gefahr, sich bei geöffnetem Verschluß die Haut mit Salzsäure zu verätzen oder sich die Kleidung zu beschädigen, war ziemlich groß. Nach jeder Berührung war Händewaschen nötig.

Unser selbstgebautes Radio war viele Jahre unser bestes Stück. Einen Volksempfänger kauften wir nicht, Ende der Dreißiger Jahre schafften wir den Radioempfänger Nora an. Nora – der mit dem „magischen Auge“, das als grünes Licht die richtige Einstellung anzeigte. Das Gerät war der letzte Schrei und erlaubte eine weitaus größere Senderauswahl.

Aus: „Zwischen Kaiser und Hitler“. Reihe ZEITGUT, Band 15.

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[Pfaffenhofen-Weiler, Schwaben;
1932]

Wilhelm Schäfer
„Ja, die passen doch“

Mein Vater war Kleinbauer und Weingärtner, wie es in den Dörfern im schwäbischen Unterland viele gab. Die Landwirtschaft ernährte die Familie mehr schlecht als recht, deshalb gingen Vater und die anderen Kleinbauern in den Wintermonaten zum Holzfällen in den Gemeindewald. Als die Massenarbeitslosigkeit um sich griff, durften nur noch die Arbeitslosen der Gemeinde den Holzeinschlag durchführen. So kamen die kleinen Bauern um ihren Nebenverdienst. Sie hatten wohl ihre Grundnahrungsmittel, aber oft keinen Pfennig Bares im Haus.

An einem Novembertag, ich war zwölf Jahre alt, ging der Lehrer mit uns Buben zum Sport. Wir liefen von der Schule durch die engen Dorfgassen hinunter zum kleinen Sportplatz am Bach. Die Gassen waren nur mit Steinen eingeschottert, und in den Löchern stand das Regenwasser in kleinen und großen Pfützen. Ich hatte Sandalen an, da ich keine anderen Schuhe besaß. Damit meine Strümpfe nicht naß wurden, hüpfte ich immer über die Pfützen. Als der Lehrer sah, daß ich zu dieser Jahreszeit noch Sandalen trug, meinte er: „Sage deinem Vater, er soll dir ein Paar gute Schuhe kaufen.“

Daheim, beim Mittagessen, berichtete ich meinem Vater davon. Er erwiderte nichts, wurde aber nachdenklich. Nach dem Mittagessen sagte er zu mir: „Komm, wir gehen zum Schuhmacher.“ Mutter holte den Geldbeutel und gab Vater zögernd einen Zehnmarkschein. Das war damals sehr viel Geld. Ein Arbeiter verdiente 50 Pfennige in der Stunde. Ich ahnte, daß es das letzte Geld sein könnte, das meine Eltern im Haus hatten. In der Werkstatt des Dorfschuhmachers wurden mir dann schwarze Schnürschuhe anprobiert.

„Sie kosten zehn Mark“, sprach der Schuhmacher. Er kniete sich hin und drückte mit dem Daumen auf die Schuhe an meinen Füßen. „Ein bißchen eng“, bemerkte er, und ich spürte es auch. Aus einem Regal holte er dann ein Paar Schuhe, das eine Nummer größer war. „Die kosten elf Mark.“

Mein Vater, der neben mir stand, hielt noch immer das erste Paar in der Hand. Während der Schuhmacher mir die größeren Schuhe anprobierte, drückte und bog Vater die anderen hin und her, als wollte er sie etwas größer machen. Ich wußte, daß er die Elfmarkschuhe nicht kaufen konnte.


Vater entschied schließlich: „Wir wollen doch noch einmal die ersten Schuhe anprobieren.“
Ich schlüpfte also wieder hinein und zog diesmal meine Zehen zurück. Als der Schuhmacher erneut auf die Spitzen drückte, stellte er fest: „Ja, die passen doch.“

Stolz ging ich in den nächsten Tagen mit meinen neuen Schuhen, wenn sie auch etwas zu eng waren, zur Schule. Zu dieser Zeit ging mein Vater täglich hinaus zu unserem Baumstück. Dort grub er mit dem Spaten die Wiese um, damit er im Frühjahr ein weiteres Stück Ackerland hatte.




1930: Mein Vater als schwäbischer Kleinbauer mit seinem Kuhgespann.

„Du kannst mir helfen!“ sagte Vater nach der Schule zu mir. Ich ging mit ihm zur Baumwiese. Mit meinen neuen Schuhen stieß ich den Spaten leicht in die Erde. Die Zeit verging schnell. Als die Dorfglocke vier Uhr läutete, verspürte ich auf einmal an meinem rechten Fuß Schmerzen. Es war der Fuß, mit dem ich den Spaten in die Erde gedrückt hatte. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, ich hätte aufschreien können, doch ich biß die Zähne zusammen. Da meine Eltern für diese Schuhe ihr letztes Geld ausgegeben hatten, wollte ich mich nicht noch darüber beklagen. Auf dem Heimweg hinkte ich mühsam hinter meinem Vater her. Zu Hause, im Wohnzimmer, ratterte Mutters Nähmaschine. Vater ging in den Kuhstall, um das Vieh zu füttern.

Endlich allein, konnte ich in der Küche meine Schuhe ausziehen und mir die Bescherung ansehen. Der zu enge Schuh hatte mir auf dem Fußrücken die Haut aufgescheuert, so daß das blanke Fleisch zu sehen war. Im Zorn griff ich nach einem spitzen Küchenmesser und stieß es dort, wo das Leder gescheuert hatte, in den Schuh. Ich machte einen etwa drei Zentimeter langen Schnitt. Die Spalte klaffte weit auseinander wie die aufgesprungene Schale einer reifen Kastanie. Erleichtert dachte ich: „Der verdammte Schuh kann jetzt nicht mehr drücken!“
Da ich meine Schuhe selbst putzte, erfuhren meine Eltern nie von der Angelegenheit. Wenn Mutter im Winter fragte, warum mein rechter Strumpf oft so naß sei, gab ich einfach keine Antwort.

Aus "Stöckchenhiebe", Reihe ZEITGUT, Band 3.

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[Bremen;
1945]

Theresia Nobel
Ein Ei zum Geburtstag

Wir waren Ende Februar 1945 aus der Kinderlandverschickung von Sachsen nach Bremen zurückgekehrt. Wegen der vielen Luftangriffe und des ständigen Beschusses durch den Feind, der vor der Stadt lag, mußten wir die meiste Zeit im Bunker verbringen. Dort saßen wir alle in völlig überbelegten Räumen. Es war so heiß und sauerstoffarm, daß man nicht einmal ein Streichholz zum Brennen bringen konnte.

In den letzten Kriegstagen sprach sich herum, daß ein Eiergroßhändler seine Vorräte lieber an die Deutschen verteilen wollte, als sie später den Besatzern zu überlassen. Unsere Familie zählte zu dieser Zeit fünf Personen. Wir bekamen 120 oder 150 Eier, genau weiß ich es nicht mehr. Man stelle sich das vor, so viele Eier in dieser Zeit der Entbehrungen!

Die Eier wurden im Haus versteckt, ein Teil zwischen den halbverbrannten Fußbodendielen, ein Teil im Keller unter dem Deckel der Wasseruhr, ein Teil in einem rasch errichteten Verschlag unter der Kellertreppe. Den Rest vergruben wir zwischen dem Kellerfenster und den Verblendsteinen, die vor allen Kellern als Schutz vor dem Druck explodierender Bomben und vor Bombensplittern angebracht worden waren. Damit ja niemand sie uns wegnahm! Diese Menge Eier ersparte uns den Hunger!


Der Krieg war aus. Inzwischen schrieben wir den 15. Mai. Mir fiel ein, daß Lore, meine Klassenkameradin, Geburtstag hatte. Lore und ihre Familie hatten viel Schlimmes durchgemacht. Zuerst wurden sie in der Nordstraße, wo sie ein Textilgeschäft betrieben, ausgebombt. Sie fanden daraufhin Unterkunft in der Hamelner Straße.



Meine Gruppe aus dem Religionsunterricht in den Trümmern der St.-Marien-Kirche von Bremen. Das Foto entstand anläßlich unserer Schulentlassungsfeier im Frühjahr 1945. Links außen bin ich zu sehen, dahinter meine Schwester Hildegard.


Als Lore mit uns zusammen aus der Kinderlandverschickung nach Hause kam, war auch dieses Haus zerstört. In der Bäckerei an der Ecke erfuhr sie, wo ihre Eltern sich aufhielten. Sie wohnten mit mehreren Personen in der Waller Heerstraße in einem kleinen Laden ohne Nebenräume. Sie hatten kaum Möbel zur Verfügung und schliefen auf dem Fußboden. Lore erzählte mir in diesen Tagen, daß sie nach einem Angriff eine Frau gesehen habe, die ein Kind auf dem Arm trug, das keinen Kopf mehr hatte.

Ich wollte Lore etwas Gutes tun und ihr zum Geburtstag ein Ei schenken. Meine Mutter erlaubte es. Rasch lief ich zu Lore und gab ihr das Ei in die Hand. Später erzählte sie mir, daß sie vor Freude geweint habe. Und sie sagte mir auch, wie es mit dem Ei weiterging.

Lores Mutter hatte die Nachbarn, die nicht ausgebombt waren, gebeten, ihr etwas Mehl und Zucker zu geben, damit sie für ihre Tochter einen kleinen Kuchen backen konnte. Während sie sich eine Weile bei ihnen aufhielt, stürmten amerikanische Besatzungssoldaten, die vor dem Haus Kabelarbeiten verrichtet hatten, in den Laden. Sie waren betrunken, stürzten das Regal um, das Lores Mutter aus ihrem Textilgeschäft in der Nordstraße gerettet hatte. Und das Ei, das für den Geburtstagskuchen bestimmt war, warfen sie an die Wand!

Aus: "Wir wollten leben", Reihe ZEITGUT, Band 5.

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[Friedberg, Hessen;
Winter 1945]

Eva Korhammer
Wunderbare Brotvermehrung

Ich war zwölf im Dezember 1945. Unser erstes Weihnachten wieder ohne Angst vor Sirenen, Bomben und Bunker!
Sogar einen Winzling von Weihnachtsbaum hatte mein Vater „organisiert“. Einen größeren hätte er ohnehin nicht schleppen können, geschwächt, wie er gerade heimgekehrt war. Ein größerer hätte auch nicht in unsere „Wohnmansarde“ unterm Dach gepaßt, diesen Verschlag ohne Wasser und Strom, der uns Bomben-Flüchtlingen zugeteilt worden war. Wenigstens fehlte es dem Winzling an nichts: mehrmals eingeschmolzene Kerzen (Luftschutzzuteilung) mit Dochten aus Pfeifenreinigern, Lametta (Stanniolstreifen, die zu Störzwecken abgeworfen worden waren), Kugeln (aus nassem Zeitungspapier geformt und mit Ich-weiß-nicht-was gefärbt). Was fehlte, waren Backzutaten. Der Bäcker um die Ecke hätte unser Blech mit in seinen Ofen geschoben – wenn was draufgelegen hätte!

Meine Mutter hamsterte unverdrossen für ihr Anstatt-Rezept: Graue Kleie statt Weizenmehl, „Sowei“-Eiersatzpulver, Süßstoff statt Zucker, Natron statt Hefe, Wasser statt Milch. Mit viel Glück konnte sie ein Klümpchen ergattern. Für Rosinen oder Sukkade gab es keine Alternative...


In jenem Winter fing ich an, als Rathauswegweiser zu arbeiten. Dies zu erklären, muß ich meine Zeugnisnoten von damals preisgeben, die aus der Stadt, in der wir ausgebombt worden waren: In der Spalte Kunst stand ein „Ungenügend“ (weil ich keinen HJ-Pimpf aus dem Gedächtnis malen konnte), in der für Fleiß ein „Mangelhaft“ wegen meines fehlenden Eifers beim Knochensammeln für Seife. – Nur bei Englisch stand ein „Gut“. Und das prädestinierte mich nun zum Rathauswegweiser.
Auch die kleine hessische Provinzstadt, in die wir geflohen waren, wollte sich vom Krieg erholen. Ihren Bewohnern lag daran, rasch zu den Besatzungsbehörden vorzudringen, um wieder ein bißchen Ordnung in ihr Leben zu bringen.

Unsere Sieger kamen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und waren gar nicht so unfreundlich. Nur verstanden sie eben kein Wort Deutsch. Und die Bürger des Städtchens nur mäßig Englisch.

Heute würde man sagen, meine Laufbahn sei vorprogrammiert gewesen. Ich sehe es allerdings mehr als Folge meiner guten Beobachtungsgabe. Ich merkte, wie schwer es die beiden Nationen miteinander hatten – und pflanzte mich vor dem Rathaus auf. Möglichst dicht bei den US-Posten. Und sobald ich merkte, daß der Dialog zwischen Bürger und Soldat mangels Vokabeln zu kippen drohte, sprang ich als lebender Wegweiser mit Englischkenntnissen ein. Was ich da radebrechte, hätte meinen Englischlehrer wohl vorzeitig ins Grab gebracht. Die Amis fanden es toll! Sie konnten bald nicht mehr auf mich verzichten und belohnten mich mit „Hershey“-Schokoriegeln, „Schoka-Cola“ und Chewing Gum satt.



Während unserer Evakuierung 1945/46. Man sieht es am Muster - ich trug ein Kleid, das aus der geretteten Küchengardine meiner Eltern genäht worden war.



Das Spielchen war so bequem und ertragreich, daß ich es wohl bis zur Währungsreform durchgehalten hätte. Aber eines sonnigen Wintertages trat Bill in mein Leben. Bill war zwei Meter lang, hatte etwa den gleichen Taillenumfang und wog so seine zwei Zentner. Er arbeitete im Hauptquartier als Koch. Und er fand, ich sähe viel zu unterernährt aus, um bei den Rathausposten herumzulungern. Sprach’s, schleppte mich in seine Stabsküche (unsere Turnhalle), räumte den nächstbesten Tisch leer und schöpfte aus beängstigend brodelnden Riesentöpfen, was auf einen großen Eßteller ging. Als nächstes stand ein üppiges, dampfendes, soßiges, fettschimmerndes Mahl vor mir!

Mir wurde schon vom Anblick der ungewohnten Dinge speiübel. Ich fing an zu heulen. Meinen gutherzigen Bill brachte das aus dem Tritt.
„Hey, sister!“ flötete er. „Honey! Why are you crying? Tell me, sister, please!“
Wenigstens höflich wollte ich bleiben. „Thank you for this, but I can not, and my name is Eva not Hanni and sister is also not right“, schluchzte ich zusammen.
„Your sister is also not right?“ fragte Bill erschrocken weiter. „How many brothers and sisters do you have?“
Natürlich, Geschwister hieß „brothers and sisters“! Jetzt wußte ich’s wieder, und jetzt konnte ich Bill klarmachen, daß ich keine hatte.
„How many?“ beharrte Bill.
Die erkaltende Soße bleckte mich aus glibbrigen Fettaugen an. Ich hob abwehrend die Hand. „No...“ setzte ich an.
Da hatte Bill schon aufgeschrien. „Five brothers and sisters?“ Im nächsten Moment war er verschwunden.


Ich fand mich damit ab, ihn mit meinem Gejammere vertrieben zu haben. Aber an der Tür holte mich seine Stimme ein: „Hej, Eva, wait!“
Bills obere Hälfte verschwand fast hinter einem Karton, der bis zum Rand vollgepackt war mit Weißbrotpäckchen, Schokobarren, Milchpulver, Zucker, Süßkartoffeldosen, Erdnußbutter und noch mehr. Alles in fünffacher Ausfertigung! Ich mußte das Zeug zu kleinen, tragbaren Stapeln türmen, denn Bill bat mich, möglichst unauffällig nach Hause zu bringen, was ich der Stabsküche entzog.

Am ersten Weihnachtstag probte ich mit Erni, Sigrid, Paul und Suse aus meiner Klasse „brothers and sisters“. Und natürlich genossen auch meine Eltern, daß mein Englisch so holprig war!
Am Dreikönigstag beichtete ich es Bill aber dann doch. Zur Verstärkung hatte ich Erni, Sigrid, Paul und Suse dabei. Das war wohl ein Fehler. Bill lachte nur und schenkte jedem von uns eine Dose Maiskolben.

Aber als ich das nächste Mal in die Stabsküche schaute, arbeitete dort ein dürrer, muffiger US-Soldat. Ich fand nicht den Mut, ihn nach Bill zu fragen. Wenn ich es getan hätte, wäre mir heute wohler. So nagt immer noch ein Quentchen Reue an mir. Womöglich war Bill über meine fünf Geschwister gestolpert.

Aus: "Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.

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[Bonn/Rhein;
1952–1955]

Dorothea F. Voigtländer
Schlüssel-Kinder

Sie kratzte gräßlich am Hals, die Kordel, an dem der kalte Hausschlüssel von Mutti unter dem Pullover oder dem Kleid befestigt worden war, denn der Schlüssel durfte nicht verlorengehen. Während des Unterrichts schimpfte unsere Lehrerin immer, wenn wir gelangweilt mit dem Schlüssel spielten. Meine Freundin Gisela hatte auch einen. Der war kleiner, hing aber auch an einer festen Kordel um den Hals. Schick war das nicht, aber notwendig.

Wir waren acht, neun Jahre alt. Wenn wir mittags aus der Schule nach Hause kamen, war keiner da, der auf unser Klingeln die Tür geöffnet hätte. Beide Eltern gingen arbeiten, damit das Geld reichte. Also, den Schlüssel aus dem Pullover gezogen, der dann nicht mehr, wie morgens, kalt, sondern von der Körperwärme warm in unseren Händen lag. Rasch wurde die Tür geöffnet: eine unordentliche Wohnung empfing uns. Mal kam Gisela zu mir nach Hause, mal ging ich zu ihr. Denn eine Wohnung ohne Mutti und die Geschwister war irgendwie unheimlich. Die jüngeren Geschwister kamen erst abends nach Hause, Mutti holte sie nach der Arbeit im Kinderhort ab. Dann wurde es laut und munter.

Aber mittags war es schrecklich still in der unaufgeräumten Wohnung. Verwöhnt wurden wir nicht, denn Mutti schrieb jeden Tag auf einen Zettel, was alles zu erledigen war: Lüften, Betten machen, spülen, einkaufen. Das Mittagessen hatte sie am Abend zuvor gekocht, das mußte aufgewärmt werden. Oft brannte es uns an oder war zerkocht. So schnell wie möglich arbeiteten wir „kleinen Hausfrauen“ den Arbeitszettel ab, damit wir rasch mit den Hausaufgaben beginnen konnten. Dann hatten wir endlich frei.


Autos gab es nur wenige, so war die Straße unser Spielplatz. Wir spielten Völkerball, Seilhüpfen oder Verstecken in den Vorgärten der Nachbarschaft, die das nicht immer witzig fand. Nur die alte Frau Bauer schimpfte nie. Sie lud uns sogar zu einer Tasse heißer Schokolade ein – welch ein Genuß! –, denn sie sah auch, daß wir spindeldürren Mädchen nie genug zu essen hatten, obwohl wir alles Eßbare zwischen die Zähne nahmen, was man uns gab.

Darum war auch die „Kinderlandverschickung“ Thema Nummer eins in der Schule. Wir wurden „durchleuchtet“, wie das damals hieß, stiegen dazu in die damals mobile Röntgenstation, ein riesiger Wagen, der auf dem Schulhof wartete. Da gab es so manche Tränen, wenn TBC, Tuberkulose, festgestellt wurde. Aber meist sagte die Waage aus, was Sache war: Wir wurden alle für „zu leicht“ befunden.

„Sag mal, ißt du eigentlich nie genug?“ fragte mich die Schulärztin kopfschüttelnd und gab mir einen Zettel für Mutti mit, die mich dann für die nächste Kinderlandverschickung in den Sommerferien anmelden mußte. Ich war glücklich, denn das bedeutete eine vergnügte Fahrt ab dem Bonner Hauptbahnhof in Richtung Schwarzwald, in den Bregenzer Wald, an den Bodensee oder in ein altes Kloster bei Passau an der Donau. Geographieunterricht einmal anders.



März 1954: Wir Schlüssel-Kinder wurden nicht gerade beneidet. Deshalb trug ich den Schlüssel unter dem Pullover. Weil ich so dünn war, wurde ich von 1950 bis 1954 jedes Jahr in den Schulferien aufs Land "verschickt".


Am Bahnhof gab es ein großes Hallo. Wir Schlüsselkinder kannten uns fast alle schon. Jedes Jahr kamen ein paar Neue hinzu, die meist aus dem Osten angereist waren. Auch Jungen. „Wo geht es diesmal hin?“, war die Frage. Am Zielort ging dann die Keilerei los, wer in welchem Raum und am liebsten am Fenster sein Bett hatte. Wieder wurden wir am Anfang gewogen, gut „gefüttert“, mußten mittags schlafen und jeden Nachmittag wandern. Frische Luft war ein Muß. Am Ende der drei Wochen wurden wir wieder gewogen. Die meisten hatten gut zugenommen. Aber ich nicht. Zwar hatte ich rote Wangen und war braungebrannt von der Sommersonne, aber kein Gramm Fett wollte bei mir bleiben, ich blieb jahrelang spindeldürr. Das bedeutete immer wieder eine neue Kinderlandverschickung, bis das aus der Mode kam.

Erst nach dem ersten Kind nahm ich endlich zu. Da war ich 21 Jahre jung und stolz darauf, endlich eine „frauliche Figur“ zu haben. Doch die Schlüsselzeit hat mir nicht geschadet: Meinen eigenen Haushalt schaffte ich auch mit dem Großen Latinum ohne die damals übliche Haushalts- und Mütterschule. Alles ging flott von der Hand. Dafür hapert es noch heute in Mathematik. Das können meine Kinder um so besser.

Aus: "Schlüssel-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 6.

alle Fotos: Zeitgut-Archiv

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Inhalt

Orte 8
Warum es bei Zeitgut spannend wird 9

Richard Nettersheim
Der kleine Vaterlandsverteidiger 13
Ernst Haß
Mein Weihnachtswunsch: Ein Vater 18
Hans Wagner
Potsdamer Erkundungen 21
Liesel Hünichen
Autofahren 1927 30
Hildegard Kupko
Unser erstes Radio 35
Willi F. Blaudow
Der dicke und der kleine Dirigent 39
Wilhelm Schäfer
„Ja, die passen doch“ 45
Johannes Oldenettel
Neue Stiefel 48
Hans Edmund Friedrich
Semis – sieben Schuljahre als Halbwertiger 51
Hans Östreich
Eine handfeste Belehrung 58
Gisela Schoon
Unbedachte Provokation 64
Gretel Hardeland
Lazaretteinsatz 67
Heimo Gericke
Eigentlich waren Ferien 74
Marianne Bickel
„Marianne, raus!“ 80
Volker Stutzer
Ein zärtlicher Augenblick 85
Evelyn Steudel
Gebrannte Kinder 90
Bernhard Eser
Menschenfresser 94
Hanna Rieck
Das Brot 105
Dieter Biedekarken
„O, poor boys!“ 107
Theresia Nobel
Ein Ei zum Geburtstag 115
Hans Engels
Die Heimkehr 118
Erika Wagner
Die Puppe 121
Helga Kamm
Geschichten vom Rübezahl und Butterbrote 125
Gabriele Schmidt
Stromsperre 129
Eva Korhammer
Wunderbare Brotvermehrung 132
Siegbert Stümpke
„Ihr kriegt mich nie!“ 136
Dorothea F. Voigtländer
Hunger oder kalte Füße? 142
Brigitte Mauel
Unser Vater – ein „Kohlenklau“? 145
Heinrich Polthier
Luftbrücke in die Freiheit 148
Hans-Dieter Mauel
Der Absturz 152
Liselotte Kubitza
1951 – ein aufregendes Jahr 155
Dorothea F. Voigtländer
Schlüssel-Kinder 160
Monica Arcucci
Im Wahlkampf 163
Siegfried Lührsen
Central-Lichtspiele 169
Ingo Becker-Kavan
Wie Elvis 175

Verfasser 182
Verlagsprogramm 187

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