Leseproben

[zur Startseite]

zurück»


Unvergessene
Weihnachten

Erinnerungen aus guten und
aus schlechten Zeiten
1918–1959

33 Zeitzeugen erzählen
besinnliche und heitere
Geschichten zum Fest
ausgewählt aus mehr als 1.000
Zeitzeugen-Erinnerungen
aus der Buchreihe Zeitgut.

192 Seiten, viele Fotos,
Taschenbuch, nur 4,90 EUR
ISBN 3-933336-73-2


Inhalt

Ernst Haß: Grünkohl-Weihnachten
Eckhard Müller: Später Besuch
Klaus Seiler: Schlesische Mohnklöße
Brigitte Meyer-Rudat: Drei ganz verschiedene Weihnachtsfeste
Gerta Kohlmann: Weihnachtsstollen
Maria Kühl: Balduin, der Puppenspieler
Gretel Hardeland: Die letzte Kriegsweihnacht
Liselotte Miller: Arm und doch glücklich
Inge Vogl: Mein Lied
Evelyn Steudel: Ein Sack Weihnachtsholz
Wulf Köhn: Blockade-Weihnachten
Günther Paffrath: Der Weihnachtsbaumdieb

[weiter zum ganzen Inhaltsverzeichnis]


[Hamburg-Wilhelmsburg;
November/Dezember 1926]

Ernst Haß
Grünkohl-Weihnachten

Drei Jahre nach der Inflation ging es uns immer noch schlecht. Ich war 13 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder und ich hatten eines gemeinsam: ständig Hunger! Mutter teilte uns das Brot zu, am Brotkasten hing ein Schloß! Unser Vater hatte 1924 bei der Reiherstieg-Werft in Hamburg angefangen zu arbeiten, aber jetzt, im November 1926, wurden alle Hamburger Werften bestreikt. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück, denn Mutter hat heimlich viel geweint, weil es für uns nicht genug zu essen gab. So machte ich mir Gedanken, wie ich zum Haushaltsbudget beitragen könnte und suchte in der Zeitung nach einem Job.

Ich hatte Glück! Hinter dem Rücken meiner Mutter schrieb ich eine Firma an und bekam Antwort.
Firma Henry Gabrielson-Papier Export AS, Spitalerstr. 12, Semperhaus B – stand als Absender auf der Karte.

Nun mußte ich Mutter mein Geheimnis offenbaren. Zuerst wollte sie nicht zulassen, daß ich dreimal in der Woche jeweils zwei Stunden in der Stadt als Laufjunge und Bote Geld dazuverdiente. Ich bettelte, bis sie einverstanden war.
Zum Vorstellungstermin in Hamburg kam Mutter mit. Außer mir bewarben sich fünf weitere Jungen um den Job. Vier Mark pro Woche sollte es dafür geben – das war damals viel Geld! Für eine Mark konnte man zum Beispiel vier Pfund Rama-Margarine oder 20 Eier kaufen. Bei uns in Hamburg-Wilhelmsburg gab es bei Bäcker Meier am Ernst-August-Kanal für 10 Pfennige eine Riesentüte voll Kuchenrändern. Mein Fahrrad, ein „Dauerpedder“, auf Hochdeutsch: Dauerndtreter, hatte 28,50 RM gekostet. Ich war sehr stolz darauf, denn ich hatte vom Frühjahr bis zum Herbst bei Bauer Benthak geholfen und es mir von dem Lohn zusammengespart. Ein Fahrrad mit Torpedo-Freilauf und Rücktrittbremse war viel zu teuer.

Ich bekam die Botenstelle, vielleicht weil ich schüchterner als die anderen Jungen war. Gleich am Montag sollte ich anfangen. Nach Schulschluß um 14 Uhr lief ich rasch nach Hause, damit ich pünktlich um 15 Uhr meine Stelle antreten konnte. Ich mußte meinen Sonntagsanzug anziehen, damit ich anständig aussähe, verlangte Mutter. Dann bin ich mit meinem Dauerpedder losgesaust. Von 15 bis 17 Uhr hatte ich Briefe und Prospekte auszutragen. Die Lauferei war ja zuerst ungewohnt, weil ich mich in der Gegend um den Hauptbahnhof nicht auskannte. Am zweiten Tag klappte alles schon viel besser. Ich kam mit den Fahrstühlen und Paternostern gut zurecht, das machte mir Spaß.

Als ich die ersten vier Mark nach Hause brachte, war die Freude groß. Mutter fiel mir um den Hals und drückte mich. „Mien groot‘n Jung’n“, sagte sie. Dabei wischte sie sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. Ich war stolz, daß ich Mutter helfen konnte.

Es ging auf Weihnachten zu. Der Chef und seine Sekretärin hatten Vertrauen zu mir, ich mußte auch Geld und Schecks zur Bank bringen. Einen Tag vor Heiligabend bekam ich nicht vier, sondern zehn Mark!

Mir kamen die Tränen vor Freude – so viel Geld! Die Sekretärin merkte es und nahm mich in den Arm. „God Jul“, sagte sie und gab mir einen Kuß auf die Wange, was mich ganz durcheinander brachte. Auf der Rückfahrt nach Hause hat mich kein Auto überholt, so schnell fuhr ich, um Mutter das Geld auf den Tisch zu legen. Mutter lobte mich und sagte: „Du lieber Gott, ich danke dir. Ist die Not am größten, so ist der liebe Gott am nächsten.“

Bei Bauer Rheders erstand ich einen Sack Grünkohl und half Mutter, das Gemüse abzustrubbeln. Der Kohl war noch voll Schnee und Eis und meine Finger wurden ganz klamm. Nach dem Putzen schütteten wir den Kohl zum Säubern in den Waschkessel und anschließend in Mutters größten Pott. Dann durfte ich mit Kienspan Feuer anzünden und Holz nachlegen. Mutter warnte: „Paß’ schön auf, das Feuer darf nicht ausgehen!“

Während sie bei Kaufmann Münch in Niedergeorgswerder – der existiert heute noch! – einiges besorgen wollte, heizte ich weiter ein und schwitzte nicht wenig dabei. Mein Bruder holte von draußen Holz herein. Der dampfende Kohl hat mehr als gestunken! Nach einer Dreiviertelstunde war Mutter wieder da. Mit rotem Kopf und schwer bepackt mit zwei Körben kam sie den Deich herunter. Ich lief ihr entgegen und nahm sie ihr ab. Dabei fragte ich sie: „Warum stinkt denn der Kohl beim Kochen so entsetzlich?“
„Weil er Frost gehabt hat, das muß so sein, sonst schmeckt er nicht“, erklärte sie mir.

Neugierig sahen wir zu, wie Mutter die Körbe auspackte. Dabei lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mutter hatte eine große Schweinebacke und geräucherten Speck eingekauft. „So Jungs, dat kummt alln’s in Greunkohlpott! Hier hab’ ich noch ’n paar Tannenbaumkringel, die könnt ihr mit Zwirnsfaden in den Tannenbaum hängen“, sagte sie. „Der Weihnachtsmann hat keine Zeit, is’ nichts mit der Bescherung dieses Jahr. Nächstes Jahr will er bestimmt kommen.“
Wir Jungen waren damit zufrieden.

Am nächsten Tag war Heiligabend. Wir freuten uns schon auf die Schweinebacke und den geräucherten Speck. Vormittags spielten wir auf dem Deich, wo wir uns eine Rutschbahn – bei uns sagte man Glitsche – angelegt hatten. Wir trugen Stiefel mit Holzsohlen, Schuhe mit Ledersohlen waren nur sonntags erlaubt. Das Glitschen machte richtig Spaß! Der Postbüdel (-bote) kam und stellte sein Fahrrad oben am Deich ab. Als er zum Haus hinuntergehen wollte, rutschten ihm schon beim dritten Schritt die Beine unterm Hintern weg. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, schimpfte er: „Düsse verdreihten Görn!“

Briefe und Päckchen lagen verstreut auf dem Deich, alles war aus seiner Ledertasche herausgerutscht. Wir haben heimlich gelacht, halfen ihm aber beim Aufsammeln der Postsachen. Schuld hatten wir ja. Unsere Mutter hatte alles mit angesehen und wollte es auch Vater sagen. Mein Bruder und ich hatten Angst. Aus der Strafe wurde aber nichts – Mutter hatte es vergessen!

So verging der Nachmittag, es wurde schummerig und schnell dunkel. Nach dem Waschen durften wir in die Küche – sie war voller Überraschungen! Es gab Kartoffelsalat und Knackwürste. Ich sah dankbar zu Mutter hin, die mich aber schon beobachtet hatte.

Der Weihnachtsmann ist zwar nicht gekommen, aber wir sind richtig sattgeworden, wofür wir unserem Herrgott dankbar waren. Die Lichter am Tannenbaum leuchteten in diesem Jahr besonders hell, so schien mir. Mutter stimmte ein Lied an: „Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter ...“ Als wir das zweite Lied: „Oh, du fröhliche, selige gnadenbringende Weihnachtszeit“ sangen, mußte mein Bruder laut aufstoßen, so vollgefressen war er!
Vater sagte „Mahlzeit!“
Mit dem Singen war es vorbei, wir mußten alle lachen. Es war eine ärmliche Weihnachtsfeier ohne Bescherung, aber trotzdem schön!

Das damalige Weihnachtsessen habe ich übernommen bis auf den heutigen Tag, nur Kaßler und Kochwürste kommen heute zusätzlich an den Grünkohl.

Aus: „Zwischen Kaiser und Hitler“. Reihe ZEITGUT, Band 15.

[zurück]


[Oberholz bei Much, Rhein-Sieg-Kreis
im Bergischen Land;
Dezember 1945]

Eckhard Müller
Später Besuch

Es war Anfang Dezember 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte sein Ende gefunden. Seit einem halben Jahr schwiegen die Waffen. Wir erwarteten das erste friedliche Weihnachtsfest seit sechs Jahren.

Das Leben hatte sich zunehmend normalisiert. Obwohl die Menschen in unserer ländlichen Gegend nicht in so hohem Maße unter dem Bombenterror zu leiden brauchten wie die Menschen in den Städten, war auch hier der Kriegsschrecken nicht spurlos vorübergegangen. Nun hieß es, zusammenrücken, denn der Strom von Flüchtlingen und Obdachlosen aus den Ostgebieten und aus den Großstädten hielt an. Wer noch ein Zimmer oder eine Kammer in seinem Hause zur Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich auf. Es gab eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare Solidarität. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde geteilt mit denen, die alles verloren hatten.

Unser kleines Fachwerkhaus, das ich mit meinen Eltern und mit meiner Großmutter bewohnte, teilten wir seit den letzten Kriegstagen mit einem älteren Ehepaar. Es waren entfernte Verwandte, und sie hatten in einer Bombennacht ihre ganze Habe verloren. Nun waren sie froh, bei uns wenigstens wieder ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben.

Die Militärregierung der Siegermächte hatte die zivile Verwaltung in ihre Hand genommen und somit Gesetz und Ordnung wiederhergestellt. Trotzdem waren die Zeiten noch sehr unruhig. Immer wieder machten umherstreunende Banden von sich reden. Es entstanden die wildesten Gerüchte. Man hörte von Greueltaten - auch aus einigen Dörfern in unserer Gemeinde. Denn der Schutz des Gesetzes war noch nicht überall gewährleistet.

Diese umherziehenden Gruppen setzten sich zum großen Teil aus ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa zusammen. Nach Wiedererlangung ihrer Freiheit waren viele von ihnen nicht mehr gewillt oder in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren. Was man ihnen nicht freiwillig gab, nahmen sie sich mit Gewalt. Dabei kam es auch verschiedentlich zu Übergriffen und Racheakten gegenüber ihren früheren Unterdrückern. Nach Einbruch der Dunkelheit war es ratsam, Fenster und Türen gut zu verschließen. Wer draußen noch irgendeine Arbeit zu verrichten hatte, trug Sorge, sich nicht allzuweit von den schützenden Häusern zu entfernen.

Es war an einem solchen Abend in der Vorweihnachtszeit, ich glaube, es war am Abend des zweiten Advent. Meine Eltern waren eben mit der Stallarbeit fertiggeworden und wir schickten uns an, das Abendbrot zu essen, als plötzlich an unsere Haustür geklopft wurde. Mein Vater begab sich nach draußen, um nachzuschauen. Neugierig gesellte ich mich zu ihm. Ich war damals neun Jahre alt.



Sechs merkwürdige Gestalten stehen an einem Adventsabend des Jahres 1945 vor dem kleinen Häuschen der Familie Müller im Bergischen Land und bitten um ein Quartier für die Nacht.

Da stand in der Dunkelheit ein gutes halbes Dutzend Männer. In gebrochenem Deutsch baten sie um ein Quartier für die Nacht.
Zögernd ließ mein Vater sie eintreten. Nachdem sie in unserer Wohnstube Platz genommen hatten, konnten wir sie im Scheine der Lampe näher betrachten. Sehr vertrauenerweckend sahen sie nicht aus. Das Leben auf der Landstraße hatte sie gezeichnet.

Während meine Mutter das Abendbrot zubereitete, versuchte mein Vater etwas über das Schicksal der Männer zu erfahren. Nach der einfachen, mit wenigen Mitteln zubereiteten, aber kräftigen Mahlzeit wurde beratschlagt, wie und wo man die Männer für die Nacht unterbringen könnte.

Im Hause selber war es, nicht zuletzt durch unsere Verwandten als neue Mitbewohner, ziemlich eng geworden. Also blieb nur noch die Scheune. Im Scheunenanbau befand sich der Holzschuppen, dort lagerte auch das Heu als Wintervorrat für unsere beiden Kühe. Hier im Heu richteten nun meine Eltern mit allerlei Decken und alten Mänteln ein warmes und bequemes Nachtlager her. Unsere alte Petroleumlampe sorgte für die nötige Helligkeit.

Kurz vor Schlafenszeit entschloß sich mein Vater zu einem "Kontrollgang", wie er sich ausdrückte. Es ließ ihm nämlich keine Ruhe, ob sich unsere Gäste auch an die Abmachung gehalten hatten, wegen der großen Brandgefahr auf das Rauchen zu verzichten. Meine Mutter bat mich mitzugehen. Im Beisein eines Kindes - so meinte sie - wäre mein Vater sicherer vor eventuellen Übergriffen.

Als wir den Holzschuppen betraten, bot sich uns im Schein der Laterne ein Bild, das ich bis heute nicht vergessen habe: Da hatte sich ein Teil der Männer unserer Sägen bemächtigt und sie schnitten nun die schweren Stämme, die hier als Brennholz lagerten, in Ofenlänge durch. Die anderen spalteten die klobigen Klötze mit dem Beil zu handlichen Scheiten und stapelten sie auf. Das alles bereitete ihnen ein sichtliches Vergnügen, umso mehr, als sie nun unsere ungläubigen und erstaunten Blicke sahen. Sie erklärten, das sei nur ein kleiner Dank für die freundliche Aufnahme.

Am anderen Morgen sind sie dann nach einem guten Frühstück - nicht ohne ein großes Butterbrotpaket, das jeder von ihnen zum Abschied in die Hand gedrückt bekam - weitergezogen, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen, doch immer wieder muß ich an jenen Dezemberabend denken, an dem die Angst, die Voreingenommenheit und das Mißtrauen besiegt wurden durch ein wenig Menschenfreundlichkeit.

[zurück]


[Flüchtlingslager "Finnenhäuser" zwischen Hüpede und Bennigsen bei Hannover, Niedersachsen; 1949]

Klaus Seiler
Schlesische Mohnklöße

Kurz vor Weihnachten gibt es die unverzichtbare Reise mit der Eisenbahn nach Hameln. Tante Friedel, Vaters Schwester, und mein Vater kennen dort einen schlesischen Schlachter. Nur der hat die richtigen Schinkenwürstchen für den Heiligen Abend. Kein Weg ist zu weit, keine Mühe, kein Umstand zu groß, um für das Weihnachtsessen einzukaufen. Am Abend kommt Vater mit einer vollgepackten Tasche nach Hause. Der Duft der geräucherten Würstchen zieht in die Wohnung ein; das Wasser läuft uns im Mund zusammen.

Heiliger Abend: Wir gehen auf der Landstraße ins Dorf, dick eingepackt gegen die Eiseskälte. Die Kirche mitten im Ort ist unser Ziel. Wir kommen zum Weihnachtsgottesdienst immer zu spät. Wir haben wohl auch den weitesten Weg. Auf der Orgelempore gibt es nur den Stehplatz, Jahr für Jahr. Wir Kinder sehen fast nichts von der weihnachtlichen Kirche. In Augenhöhe nur Wintermäntel, abgewetzte Pelze, grüne Joppen und verdrehte Gürtel. Der Geruch von Mottenkugeln steigt uns in die Nase. Umfallen kann man bei der Enge nicht, höchstens ersticken. Den Pastor können wir nur hören, eine dröhnend-singende Stimme. Ob er das Flüchtlingslager kennt?

Die tiefen Töne der Orgel schlagen auf den Darm, jedesmal. Ich habe richtig Angst vor der Orgel: Dann beginnt das fürchterliche Poltern im Inneren ... Doch endlich - nach "O du fröhliche" - öffnen sich wieder die Kirchentüren; wir werden nach draußen gedrückt, gequetscht, müssen uns - wie benommen - auf dem dunklen Platz vor der Kirche erst suchen. Aber hier: diese wunderbare, frische, eisige Luft. Wir werden wieder lebendig.
In den Häusern an der Straße sehen wir durch die Fenster brennende Kerzen an den Tannenbäumen; Kinder, Erwachsene huschen im Kerzenlicht durch die Räume. Zeit der Bescherung in vielen Familien des Dorfes.

Der Weg zurück ins Lager - auf der menschenleeren Landstraße - hat einen Zauber. "Markt und Straßen steh'n verlassen" - ich kenne dieses Lied schon aus ganz frühen Jahren. Ich verbinde es mit diesem Weg.

Es ist ganz still hier draußen. Nur unsere Schritte auf dem Asphalt sind zu hören, mehr nicht. Wir reden fast nicht, gehen auch nicht schnell, wir sind diesmal nicht in Eile ...
In der Ferne am Hang die Lichter von Lüdersen.
Diese Stunde Fußmarsch durch die kalte Nacht zwischen dem Dorf und dem Lager ist mir unvergeßlich. Die Stille, die Weite, der gefrorene, von Reif oder Schnee bedeckte Acker ringsum, der Himmel, die eisige, klare Luft, die Einsamkeit, das gemeinsame Gehen. Zu diesem Weg durch die Dunkelheit gehören die Sterne. Die Sterne sind in diesen Frostnächten zum Greifen nah. Ihre Klarheit, das ferne Blinken - als blinzelten sie uns zu. Unter dem Sternenzelt gibt es Geborgenheit. Die Sterne nehmen die Angst, die Sterne machen ruhig und froh. Sie sind wie freundliche Augen. Wir sind nicht allein. Ich könnte heulen. Weihnachten und das Sternenzelt gehören zusammen!

Mich haben später auf dem fast menschenleeren Schulweg im Dunkeln durch die Trümmerfelder von Hannover-Linden bis zum Waterlooplatz - vorbei an dem riesigen Trümmerplatz, der später das Niedersachsen-Stadion wurde -oft die Sterne getröstet. Ich war ganz sicher: Wenn sie mir zublinken, bin ich nicht allein; dann kann mir nichts passieren.

Das Weihnachtsessen ist vorbereitet, die Kartoffeln für den Brei - bei uns heißen sie Stampfkartoffeln, sie werden ja auch richtig gestampft - sind bereits geschält. Die Schinkenwürstchen gleiten ins kochende Wasser. Nach kurzer Zeit dampft es aus allen Töpfen; ein betörender Duft kommt zusammen: das Sauerkraut aus eigener Tonne (wie oft haben wir die ausgediente, hölzerne Fischtonne mit kochendem Wasser ausgeschrubbt!), die Kartoffeln, die Buttersoße, die einmaligen Hamelner Würstchen. Die Fenster beschlagen, doch wir lassen die Luft und den Duft nicht entweichen. Ein Festmahl!
Wir beten. Wir füllen die Teller, bauen Burgen, bilden kleine Seen und Flußläufe aus brauner Buttersoße. Wir genießen. Es muß so etwas wie Heimat sein - mitten in der Fremde. Wie der Himmel. Das ist Weihnachten. Zur schlesischen Weihnacht gehören unverzichtbar Mohnklöße um Mitternacht.

Für sie und für den Mohnkuchen mit Streuseln oder den gerollten Mohnstrietzel für die Sonntagnachmittage gab es das große Mohnbeet im Garten mit den leuchtenden violett-weißen Blüten. Aus den aufgeschnittenen Kapseln, immer schon vor der Reife geerntet, um den gefräßigen Spatzen zuvorzukommen und sicherheitshalber im Schuppen getrocknet, rieseln die unzähligen blauen Körner in die Schüssel. Die Kapseln lassen sich, hat man die Krone glatt abgeschnitten, richtig ausgießen. Der Mohn landet in einem weißen Säckchen, das - vor Mäusen sicher - aufgehängt wird. Manche Kapsel lassen wir genußvoll in den Mund rieseln. Wie das wohl wirkt?

Mohn macht dumm, heißt es allerdings immer wieder warnend. Den Mohn mahlt Bäcker Bänsch im Dorf; er - der schlesische Bäcker - hat eine Mohnmühle, ein echter Landsmann! Das Mahlen muß man nicht bezahlen.

Die Mohnklöße: Weißbrotscheiben, in heißer Milch gequollener Mohn, der mit Rosinen, Mandelöl und weiteren Zutaten aus winzigen Fläschchen veredelt wird - alles schwer und triefend in eine Jenaer Glasform gepreßt. Sie müssen unter einem Tuch wohl stunden- oder gar tagelang ziehen. Hilfe, mir entgleitet das Rezept!

Die Mohnklöße plumpsen ins Innere zu allen schon vorhandenen Wohltaten des Weihnachtsabends und liegen wie Steine im Magen. Sie lassen die Weihnachtsnacht zur unruhigen Nacht werden. Aber sie müssen sein ... Weihnachten ohne Mohnklöße gibt es nicht.

Die Nacht wird auch sonst unbequem. Ich nehme alle Geschenke mit ins Bett, lege sie - fühlbar - an den Rand des Kopfkissens, stecke sie unter die Bettdecke: das Holzauto aus der schwedischen Spielzeugspende, das Kamel mit seinen langen, motorbetriebenen Beinen - ein Geschenk unseres Erfinder-Onkels Georg, dem Bruder meiner Mutter; auch wenn es auf seinen Stelzenbeinen nicht laufen konnte, sondern schon beim ersten Schritt das Gleichgewicht verlor, brachte es uns doch mit einer fernen, fremden Welt in Berührung -, den schwarzlackierten Volkswagen (ebenfalls zum Aufziehen), das Sägebrettchen aus der Laubsägegarnitur. Schwieriger war es allerdings mit den Keksen, den Schokoladenkringeln und den braunen Marzipankugeln. Eine unbequeme, krümelige, klebrige, staksige, harte, hier und da immer weicher werdende Nachbarschaft in den Weihnachtsnächten, bevor der Alltag wieder begann.

Aber es mußte sein. Offenbar war die Angst, es könnte am nächsten Morgen etwas fehlen, zu groß. Immer diese Angst, es könnte einem etwas weggenommen werden; man lernt das Festhalten und Bewachen, und offenbar gibt es im Innern ein tiefes Mißtrauen ... selbst bei verschlossenen Türen.

 

 

 

 


 

 





Klaus Seiler und seine Schwester 1950 im Barackenlager bei Hannover.

(Aus "Barackenkinder" von Klaus Seiler. Das Buch ist im Zeitgut Verlag in der "Sammlung der Zeitzeugen" erschienen.)

[zurück]


[Huglfing, an der Salzstraße, Oberbayern -
London, England -
Buckenhof und Uttenreuth bei Erlangen, Mittelfranken;
Weihnachten 1952/1954/1945]

Brigitte Meyer-Rudat
Drei ganz verschiedene Weihnachtsfeste

Zwei Wochen vor dem Weihnachtfest 1952 befinde ich mich in einem kleinen oberbayerischen Dorf mit dem lustigen Namen Huglfing, etwa 60 Kilometer südlich von München gelegen. Wir sind vier Haustöchter in einem evangelischen Müttererholungsheim. Gemeinsam mit der Hausmutter versorgen wir die Mütter und sind zuständig für Haus, Garten und Waschküche, auch für Hund und Katz. Wir verstehen uns sehr gut und wechseln uns bei allen Tätigkeiten ab.

"Huuuglfiing!" ruft der Bahnbeamte auf dem kleinen Bahnhof in schönstem Bayerisch. Unsere erholungsbedürftigen Mütter sind alle gut angekommen. Das Haus ist blitzblank geputzt, und wir haben mit viel Vorfreude jede Menge Weihnachtsplätzchen gebacken. Auch sieben große Christstollen liegen gut verpackt im Keller. Im ganzen Haus riecht es herrlich weihnachtlich nach Pfefferkuchen, Anisgebäck und nach Tannenzweigen, die wir vier Mädchen überall im Haus verteilt haben.

Alle Mütter, die hier das Weihnachtsfest verbringen dürfen‚ sind nervlich und körperlich sehr mitgenommen. Sie haben jeweils drei bis fünf Kinder, die in dieser Zeit bei Oma und Opa oder bei anderen netten Menschen untergekommen sind. Wir geben uns alle Mühe, diesen Frauen ein friedliches, warmes und frohes Weihnachtsfest zu bereiten. Die schöne Dekoration mit Strohsternen‚ Glöckchen‚ Herzchen und Monden an den Tannenzweigen bringt uns in eine frohe Weihnachtsstimmung. Wie es sich gehört, fängt es auch an zu schneien, alles sieht so friedlich und weihnachtlich aus. Wir singen die alten Krippenlieder: "Der Heiland ist geboren, freu' dich du Christenheit" oder "Wärst du Kindlein im Kaschuben Lande, wärst du doch bei uns geboren".

Es gibt jeden Tag ein sehr gutes Essen, denn die Mütter sollen sich in jeder Hinsicht erholen. Wir machen Spiele und unternehmen Spaziergänge im tiefen Schnee, auch eine zünftige Schneeballschlacht darf nicht fehlen. Ausflüge in das schöne oberbayerische Bergland führen uns nach Mittenwald oder Garmisch-Partenkirchen‚ auch nach Oberstdorf.



Weihnachtsputz im Müttererholungsheim Huglfing in Oberbayern 1952.


Nun ist es Heiligabend. Ein Bergbauer bringt uns einen großen Tannenbaum, der im Speisesaal auf einem Brett mit vier Beinen aufgestellt wird. Wir schmücken ihn mit vielen Strohsternen, glitzernden Kugeln‚ Lametta und Kerzen, auf die Spitze setzen wir einen Rauschgoldengel. Auf dem Brett unter dem Weihnachtsbaum errichten wir eine Miniatur-Landschaft mit dem Stall von Bethlehem, der Krippe mit dem Jesuskind und Josef und Maria. Im Herbst haben wir dafür Moos, Wurzeln und bunte Beeren gesammelt. Als Beleuchtung stellen wir Teelichter in das feuchte Moos.

Dann werden die Kerzen angezündet, wir hören eine Weihnachtsandacht und singen viele Weihnachtslieder. Danach gibt es eine Bescherung, jede erhält ein kleines Geschenk und einen bunten Teller. Wir genießen ein herrliches Weihnachtsmenü: eine Hühnersuppe, Schweine- und Rinderbraten, dazu Kartoffelklöße, Rotkohl und als Nachtisch Birne Helene. Dazu gibt es Punsch zu trinken. Es ist wirklich ein sehr harmonischer, friedvoller Heiliger Abend. Die Mütter gehen zu Bett‚ und wir vier räumen ab. Die Kerzen am Christbaum werden gelöscht, die Teelichter an der Krippe ebenfalls. Nun ziehen wir uns warm an, denn wir wollen nach Huglfing in die Christmette.

Der Schnee liegt an den Straßenrändern über einen Meter hoch und glitzert im Mondlicht. Als wir den Berg zur Kirche hinaufkommen, ist dies ein ganz feierlicher Moment: Im Schnee flackern viele Windlichter, und vom Kirchturm bläst ein Trompeter "Vom Himmel hoch, da komm' ich her". Die Kirche ist sehr gut besucht, wir müssen stehen. Kinder führen ein Krippenspiel mit echten Tieren auf, ein Esel und ein Kalb stehen an einer Holzkrippe mit Stroh, nur das Jesuskind ist eine Puppe.
Langsam und frohen Herzens kehren wir zum Mütterheim zurück. Alles ist dunkel, die Mütter schlafen schon, und auch wir freuen uns auf unser warmes Bett. Oh Schreck!

Als wir die Haustür aufsperren, kommen uns schwarze Rauchschwaden entgegen. Schnell öffnen wir alle Türen und Fenster, damit der Rauch abziehen kann. Dann suchen wir die Feuerquelle. Beim Anblick der Krippe erschrecken wir: Alle Figuren sind schwarz verkohlt, nur die Krippe selbst mit dem Jesuskind und Maria und Josef ist unversehrt. Wir haben ein brennendes Teelicht übersehen, und nur das feuchte Moos verhinderte, daß alles komplett verbrannte. Es kommt uns an diesem Heiligen Abend wie ein Wunder vor, daß niemand zu Schaden gekommen ist.


Brigitte Meyer-Rudat, hier eine der vier Haustöchter, irrt zwei Jahre später, am Heiligabend 1954, durch Londons Nebel. Mehr davon in der nächsten Geschichte.


Christmas time 1954
Zwei Jahre später. Zwölfmal schlägt es vom Big Ben - ja, ich stehe mitten in London an der Themse. Ich bin 19 Jahre alt und schon vier Monate hier. Es ist kurz vor Weihnachten. Die Tage sind grau in grau, abends und nachts gibt es dicken Nebel. Oft ist er gelblich und riecht sehr stark nach Schwefel. Ich bin deshalb schon dreimal nicht in die Englisch-Abendschule gegangen. Es ist wirklich unangenehm, plötzlich mit wildfremden Menschen zusammenzustoßen, richtig gruselig. In den Krimis von Edgar Wallace spielt dieser Nebel nicht umsonst immer eine große Rolle.

Jetzt ist es Mittagszeit und ich habe für meine Mutter und meine Oma im fernen Deutschland in einem Antiquitätengeschäft ein Weihnachtsgeschenk erstanden: zwei wunderschöne Kerzenständer, mit Gravierungen reich verziert. Sie waren nicht ganz billig. Ob sie aus echtem Messing bestehen, weiß ich nicht. Mit den passenden Bienenwachskerzen werden sie jedenfalls feierlich aussehen. -

Wie gut geht es uns inzwischen. Ich muß an das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg denken. Wir waren als Flüchtlinge aus Pitzerwitz in Pommern in Buckenhof bei Erlangen, Mittelfranken, untergekommen: zwei Zimmer zu ebener Erde, mit alten Möbeln, drei riesige ausgestopfte Vögel hingen an den Wänden und machten mir angst. Es war kalt, wir hatten zwar einen eisernen Herd, aber keine Kohlen und auch kein Holz, doch wir waren froh, daß wir nicht in ein Flüchtlingslager zu ziehen brauchten. Unsere Wirtin legte uns zum Fest ein paar Briketts vor die Tür und einen Mantel für mich. Den hatte sie aus einer alten Jacke genäht, dazu eine selbstgestrickte Mütze, einen Schal und Handschuhe. Das war meine schönste Überraschung!
Für ein wenig Marmelade mußte ich eine Stunde in der Schlange stehen. Zehn Jahre alt war ich damals, als die Amerikaner in unsere Schule kamen und dafür sorgten, daß alle Flüchtlingskinder Schulspeisung bekamen. Eine Woche vor Weihnachten landete auf dem Dorfplatz in Uttenreuth, wo ich zur Schule ging, sogar ein amerikanischer Hubschrauber. Ein Nikolaus in rotem Mantel mit weißem Pelzbesatz stieg aus. Alle Flüchtlingskinder wurden in den großen Saal der Dorfgaststätte eingeladen. Jedes Kind erhielt eine Tüte mit Süßigkeiten, einen Becher Kakao und weiche weiße Brötchen. Diesen herrlichen Geschmack und den freundlichen Klang der fremden Sprache habe ich nie vergessen. Wie gut, daß ich als Kind immer so aufmerksam zugehört habe.

1945 wohnten farbige Amerikaner in einem früheren Café in unserer Nähe und riefen mir über den Zaun lachend "Hallo Baby, how are you?" und anderes zu. Wenn ich dann auf Englisch antwortete, bekam ich meistens eine Süßigkeit, Kaugummi, Schokolade oder Bonbons. Einmal sprach ich mit den GI's einen ganzen Satz in ihrer Sprache. Alle klatschten vor lauter Freude darüber. Einer von ihnen hob mich über den Zaun. Sie liefen mit mir hinter das große Haus, setzten sich um den Gartentisch und grinsten mich an. Dann brachte mir Jonny in einem silbernen Becher eine Riesenportion Eiskrem mit Schlagsahne und Schokoladenstreusel. Noch nie hatte ich solch ein leckeres Eis gegessen! Da fing ich an, mit großem Eifer Englisch zu lernen. -

Es hat sich gelohnt, denn in der Foreigner School‚ die ich hier in London abends besuche, komme ich sehr gut mit und mein Englisch hört sich mittlerweile ganz gut an.
Die Londoner Geschäfte locken weihnachtlich geschmückt, jedoch anders als in Deutschland. Alles ist künstlich, auch die Tannenzweige, und alles scheint mir so grell. Es erinnert mich mehr an Karneval. Weihnachtslieder werden auch gespielt: "Jinglebells, jinglebells" oder "I'm dreaming of a white Christmas". Ich kaufe mir einen unechten Tannenzweig und eine dicke rote Kerze mit Goldschleifchen.

Ich arbeite in einem Hotel. Wir haben nur zwei Dauergäste, die Dame des Hauses liegt im Krankenhaus, und das zweite deutsche Mädchen hat Urlaub. Essen kann ich für uns drei Personen schon kochen, es gibt genug Lebensmittel. Aber von Weihnachten ist nichts zu spüren. Der Hausherr weint nur noch, weil er Angst um seine Frau hat.

Zwei Tage vor Weihnachten höre ich in der Royal Festival Halle ein wunderbares Konzert, für das ich Karten erstanden habe. Die Wiener Philharmoniker spielen die Neunte Symphonie von Beethoven. Es herrscht eine einzigartige festliche Atmosphäre. Meine Freundin steht unten in der Halle und winkt mir zu.

Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich Pumps und einen wunderschönen Seidenripsrock. Dem stimmungsvollen Rahmen angepaßt, will ich in der Pause die breite Marmortreppe hinunterschreiten. Da gleite ich mit den schönen glatten Pumps aus und - hopp-hopp-hopp - rutsche ich auf meinem Allerwertesten die Treppe hinunter! Die feingekleideten Konzertbesucher um mich herum sind erschrocken. Zwei galante Herren helfen mir wieder auf die Beine. Wie gut, daß die Sitze gepolstert sind. Trotz dieses Mißgeschicks bleibt das Konzert ein unvergeßlicher Kunstgenuß.

Jetzt werde ich doch ein wenig traurig. Heute ist Heiligabend. Das Päckchen von Mutti und Oma ist noch nicht eingetroffen, die Lady liegt immer noch im Krankenhaus. Ich bin den Tränen nahe, als mich gegen 17 Uhr eine Leiterin vom Deutschen Jugendkreis anruft und fragt, ob ich den Heiligen Abend nicht doch mit meinen Landsleuten zusammen feiern möchte. Natürlich will ich das. Nur wie finde ich sie?

Per Telefon erhalte ich eine genaue Wegbeschreibung. Nachdem ich alles versorgt habe, mache ich mich guten Mutes auf den Weg. Es ist bereits nach 19 Uhr. Es regnet, die Straßenbeleuchtung brennt nicht gerade sehr hell. Die Straßen‚ die Häuser, alles sieht gleich und recht trübsinnig aus. Die wenigen Leute, denen ich begegne, kommen mir etwas angetrunken vor. Die nach einer Straße fragen?

Nein, ich muß dieses Haus doch finden! Also nochmals um den U-Bahnhof herum, über den Platz, zur Kingsroad, dann rechts um die Ecke, ein großes Backsteinhaus. Ich stehe davor: es ist zwar die richtige Nummer - nur leider die falsche Straße! Ich bekomme ganz weiche Knie, mir wird hungrig und mulmig. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und klingele an einer Haustür, einmal, zweimal.

Die Tür wird geöffnet. Eine junge Frau nimmt mich bei der Hand und zieht mich in das Wohnzimmer. Da sind keine Zweige, kein Tannenbaum mit Kerzen. Nein, bunte Luftschlangen hängen quer durch den Raum‚ in der Mitte ist eine Tanzfläche und ein wenig angeheiterte Menschen drücken mir ein Glas in die Hand. "Very fine cherry", rufen sie, "drink, please drink!"

Ich versuche nochmals nach der Straße zu fragen, es ist zwecklos. Ich renne einfach hinaus. Jetzt haben sie es geschafft, ich heule laut vor mich hin und versuche, mein jetziges Zuhause zu finden. Dort angekommen, ist es bereits 22 Uhr. Ich unternehme einen letzten Versuch, den Abend zu retten, und es gelingt mir tatsächlich, meine Bekannte telefonisch zu erreichen. Ja, sie warten immer noch auf mich. Sie nennt mir eine Buchhandlung am Trafalgar Square, wo sie mich gleich abholen wird. Erneut mache ich mich auf den Weg - und finde diese Buchhandlung!

In einigen Minuten sind wir am richtigen Haus. Es ist einfach wunderbar: Als die Tür aufgeht, steht dort ein kleiner Tannenbaum mit brennenden Kerzen, geschmückt mit Strohsternen und Lametta. Vor Freude wird mir ganz warm ums Herz. - Ja, Christ ist geboren, freut euch alle Christenheit.
Am ersten Weihnachtstag treffen sich hier morgens ab neun Uhr viele Menschen aus verschiedenen Ländern, die gemeinsam Weihnachtslieder singen und plaudern wollen. Auch meine deutschen Freunde sind da. Es ist ein wunderbares Erlebnis.

[zurück]


[Lausen bei Leipzig;
1933–1939]

Gerta Kohlmann
Weihnachtsstollen

Während meiner Kindheit in den dreißiger Jahren lebte ich mit meinen Eltern und vier älteren Geschwistern in einem kleinen Dorf der Leipziger Tiefebene.

Besonders gut erinnere ich mich an die alljährlich wiederkehrende, für uns Kinder schönste und geheimnisvollste Zeit in unserer Familie: die Adventszeit. Alle flüsterten untereinander, viel öfter als sonst sah man ein verschmitztes Lächeln die Gesichter erhellen, und ein Augenzwinkern konnte mehr aussagen als tausend Worte. Für mich als die Kleinste war das alles sehr aufregend, schließlich glaubte ich noch fest an den Weihnachtsmann!

Das Wichtigste für uns alle im Advent war mit Sicherheit das Zauberwort „Weihnachtsstollen“. Jeder wirkte an der Herstellung dieses wohlschmeckenden Gebäcks mit, die eine sorgfältige Vorbereitung benötigte.

Bevor wir überhaupt mit unserem Werk beginnen konnten, mußte meine Mutter einige Kilometer ins Nachbardorf zum Bäcker laufen, um einen Backtermin zu vereinbaren. Von dort brachte sie auch gleich die Hefe mit.

Alle anderen Zutaten kauften wir im nächstgelegenen Lebensmittelgeschäft, was genauer Überlegung bedurfte. Wir hatten damals nur sehr wenig Geld, doch Mama wußte sich zu helfen. Das ganze Jahr über sammelte sie die Rabattmarken des Ladens, wir Kinder klebten sie sorgfältig in die dazugehörigen Heftchen, die Mama gewissenhaft nur für den Stolleneinkauf aufhob.

Endlich war es so weit. Mit unserem Handwagen fuhren wir drei Kilometer zum Lebensmittelhändler, und ich war stolz, auf dem Hinweg im Wagen sitzen zu dürfen. Im Geschäft angekommen, bot sich meinen Kinderaugen eine wahre Wunderwelt. So viele große Säcke standen am Boden und alles zusammen duftete so lecker und verwirrend!

Der Kaufmann wußte genau, in welchen Säcken sich die Zutaten für unsere Stollen befanden, nahm seine Schaufel und füllte wunschgemäß alles in Tüten. Süße und auch ein paar bittere Mandeln, in andere Beutel Rosinen, Korinthen, Zitronat, Zucker, Mehl, Staubzucker, ja und die Butter schnitt er von einem großen Block ab. Er wog alles genau ab und füllte schließlich noch eine große Flasche voll Rum. Wir luden dann unseren Einkauf auf den Handwagen und traten den Heimweg an.

Jetzt konnten die Vorbereitungen richtig beginnen. Meine großen Geschwister, die schon mit Messern arbeiten durften, hackten die gebrühten und abgezogenen Mandeln, dann schnitten sie das Zitronat in kleine Würfel. Ich war noch zu jung für den Umgang mit scharfen Klingen und wurde zum Verlesen von Rosinen und Korinthen eingeteilt, denn da waren noch zu viele kleine Stiele dran. Nach allen Mühen füllten wir die Früchte in eine Schüssel, und mein Vater trat in Aktion: Er beträufelte die Mischung mit Rum, bis sie feucht glänzte.

Während wir uns am Abend ausruhten, begann für Mama die Hauptarbeit. Sie bereitete den Teig, was viel Kraft kostete, denn das hieß kneten, kneten und nochmals kneten. Zunächst bereitete sie das Hefestück mit warmer Milch, dann verarbeitete sie es mit rund 15 oder mehr Pfund Mehl, Zucker, Butter, Eiern, Milch und etwas Salz in einem großen Asch (sächsisch für Schüssel, kleine Wanne) zu einem Teig, der zwischendurch immer wieder ruhen mußte, so daß sie viel Zeit dafür benötigte. Endlich war es geschafft, und der Asch mit dem Teig wurde in mehrere Decken verpackt und auf den Handwagen gestellt. Dazu kam die Schüssel mit den rumgetränkten Früchten. Am nächsten Morgen, zwischen vier und fünf Uhr, liefen Mama und zwei meiner Brüder zur Backstube ins nächste Dorf.

Von dem Moment an war unser mühevoller Einsatz vergessen, denn wir warteten jetzt nur noch darauf, daß der Bäcker die fertigen Stollen brachte. Wenn er dann mit seinem von einem Schimmel gezogenen Kastenwagen vorfuhr und uns die Herrlichkeit übergab, durften wir das Gebäck zwar noch nicht anrühren, doch jedes Jahr bereitete er aus dem Rest des Hefeteigs einen großen, viereckigen Butter-Zucker-Kuchen. Das war für uns, die wir an altbackenes Brot gewöhnt waren, eine wahre Köstlichkeit, und wir verspeisten ihn bis auf den letzten Krümel noch am selben Tag.

Nach dem Genuß dieser Delikatesse fiel es uns schon gar nicht mehr schwer, noch die zwei Wochen zu warten, bis der Stollen endlich angeschnitten wurde. Und dann zählte wirklich nur noch der wunderbare Geschmack des Gebäcks, das inzwischen eine weit über meine Heimat Sachsen hinaus bekannte Spezialität geworden ist.

Aus: „Pimpfe, Mädels & andere Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 4.

[zurück]



[Altenburg, Thüringen;
1937]

Maria Kühl
Balduin, der Puppenspieler

Wenn es draußen ungemütlich wurde, tagelang regnete und der Sturm durch die Bäume fegte, wenn es merklich kühler wurde und wir Kinder lieber in der warmen Stube spielten, fragte bestimmt irgendeiner von uns: „Na, wetten, daß Balduin bald kommt?“

Balduin war ein Landstreicher, der jeden Herbst kam, um bei uns zu „überwintern“. Für uns Kinder bedeutete das eine herrliche Abwechslung in diesen grauen Herbst- und Wintertagen, denn Balduin war Puppenspieler.

Das ganze Jahr über zog er durchs Land und spielte in Thüringen auf Dorffesten. Sein „Ensemble“ trug er im Rucksack. Er benötigte nur ein paar Puppen, um sein Publikum zu begeistern. Über eine lange Leine spannte er ein dunkelrotes, fettiges Samttuch, das er mit Klammern befestigte. Das war „Balduins Puppentheater“. Wenn er hier bei uns in Altenburg den Winter verbrachte, führte er für uns und unsere Freunde aus der Nachbarschaft Stücke auf. Ich empfand es immer als eine Ehre, daß dieser große, dunkle Mann, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, nur für uns Kinder spielte.

Er hatte etwas Fremdländisches an sich, etwas Rätselhaftes, er war mir ein bissel gruselig, was meine Phantasie und meine Neugier auf Geschichten und Märchen noch mehr anregte. Er verzauberte uns mit seinen Puppen, ließ sie singen und tanzen, sich beschimpfen und prügeln, aber zuletzt wurde immer alles gut. Balduin stellte Begebenheiten dar, die sich irgendwo auf einem Dorf oder in einer kleinen Stadt in etwa so zugetragen hatten. Und damit ließ er uns teilhaben an der großen, weiten Welt.

Wenn er dann endlich hier ankam, hämmerte er gewaltig an unsere Haustüre, weil er wußte, daß er erst eine bestimmte Prozedur über sich ergehen lassen mußte: Großmutter und Mutter schrien dann: „Balduiiin! Draußen bleiben!“
Und er blieb vor der Tür stehen. Vater brachte ihn in die Werkstatt. Dort mußte Balduin seine total abgewetzten und von Flöhen und Wanzen besiedelten Klamotten ausziehen, sie wurden sogleich verbrannt. Mutter rannte in die Waschküche, ließ Wasser in den großen Kessel ein und zündete darunter ein Feuer an. Auch der kleine Badeofen wurde angeheizt. In der Werkstatt bekam Balduin vom Vater einen Mantel, dann mußte er sich in der Badewanne abschrubben, rasieren und von meinem Vater die Haare stutzen lassen.

Dieses Badevergnügen war für uns Kinder schon eine Extra-Vorstellung. Wir lagen vor der Waschküche auf der Lauer und warteten darauf, bis er erst leise, dann immer lauter zu singen begann. Da unsere Badestube ein Gewölbe hatte, klang es vortrefflich. Und es waren bestimmt keine anständigen Lieder, denn mich schauderte es immer sehr. Aber natürlich wollte ich das alles genauso miterleben wie meine Brüder. Ich war gerade sechs Jahre alt.

Dann kam ein total rotgesichtiger, völlig entstellter Balduin aus der Badestube heraus. Ohne Bart, mit kurzem Haar, sauberem Hemd, sauberen Hosen, frischen Socken und Holzpantoffeln. „Na, Frau Meestern, gefall‘sch Euch?“

Ich weiß noch genau, wie er meine Mutter angrinste mit seinen funkelnden, dunklen Augen. Dann setzte er sich an den gedeckten Tisch und aß, aß und aß. Ganz langsam, ganz bedächtig mahlte er mit den Backenknochen, wobei er lustig um sich blickte. Wir Kinder standen am Tisch und wunderten uns nur, was dieser Mensch alles in sich hineinstopfen konnte. Nach diesem ausgiebigen Essen verschwand Balduin in der Gesellenkammer über der Werkstatt und schlief stundenlang. Meine Brüder hatten ihn da oben neben der Leistenkammer belauscht und kamen zurück mit der Bemerkung: „Der schnorcht soo sehre, da biechen sisch de Balken!“
(weiter gehts im Buch)

Aus: „Pimpfe, Mädels & andere Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 4.

[zurück]


[Finsterwalde, Niederlausitz;
Dezember 1944]

Gretel Hardeland
Die letzte Kriegsweihnacht

In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges lebten wir in unserer Kleinstadt verhältnismäßig ruhig und unbehelligt. Das änderte sich aber mit zunehmender Kriegsdauer.

Seit ihrer Ausbombung in Essen 1943 lebten meine Großeltern bei uns in Finsterwalde. Unsere Mutter wurde in einen Maschinenbetrieb zum Ankerwickeln zwangsverpflichtet. Sie war vorher nie berufstätig gewesen, und schon gar nicht wußte sie, wozu der Anker bei einem Elektromotor dient. So stand sie recht hilflos vor ihrer Maschine und schaffte ihr Tagessoll einfach nicht. Der Meister, ein Bekannter, half immer mal, konnte aber nicht ständig bei ihr an der Werkbank stehen.

Neben Mutter arbeitete ein zwangsverpflichteter junger Franzose. Er übernahm, nachdem er sein eigenes Pensum geschafft hatte, stillschweigend Mutters Teil. Mutter brachte ihm dafür Frühstücksbrote.

Der Franzose riskierte damit Kopf und Kragen. Die Verabredung blieb natürlich nicht unbemerkt, aber die Kollegen hielten fest zusammen, keiner ließ eine Bemerkung fallen. Obwohl der Franzose in einem Lager für Zwangsarbeiter lebte, sah er in seinem einzigen Anzug immer adrett gekleidet aus, was uns unter diesen Umständen ein Rätsel war. Er war stets freundlich, alle Arbeitskollegen mochten ihn.

Eines Tages stand in unserem Hof, hinten beim Kohlenschuppen, ein völlig erschöpfter, zerlumpter Mann. Wie wir später erfuhren, war er, ein russischer Arzt, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden. Der Mann sprach gut Deutsch. Das verwunderte mich sehr, hatte ich doch in der Schule gelernt, alle Russen seien Untermenschen, Bestien, Analphabeten. Ich war 15 Jahre alt und wußte es nicht anders.
Der Russe fragte, ob er für ein Stück Brot bei uns Holz hacken oder Kohlen schleppen dürfe.

Damals gab es viele Zwangsarbeitslager, in denen es sehr grausam zuging. Dem russischen Arzt zufolge schien es in dem Lager, in dem er untergebracht war und das außerhalb von Finsterwalde lag, erträglich zu sein. Er hatte regelmäßig die Möglichkeit, aus dem Lager herauszukommen, wenn auch meistens heimlich. Aber der ständige Hunger setzte den Häftlingen zu.

Wenn er, von den Nachbarn unbemerkt, abends bei uns eintraf, bekam er erst einmal ein warmes Essen. Beim Tee erzählte er von seiner Familie, von seinen Geschwistern, die ebenfalls Mediziner waren. Seine größte Angst war, nach Kriegsende – und er hatte recht mit seiner Behauptung, es werde bis dahin nicht mehr lange dauern, – nach der Rückkehr in seine Heimat als Kollaborateur hingerichtet zu werden. Leider geschah das tatsächlich mit zahlreichen Zwangsverschleppten. Stalin und seine Männer glaubten diesen armen Menschen nicht, daß sie nicht freiwillig mit den Deutschen mitgegangen waren.

Weihnachten 1944 kam mein Vater zum ersten Mal nicht nach Hause. Am Heiligen Abend meinte unsere Mutter, wir bekämen später Besuch. Wir sollten uns leise unterhalten, nur die Weihnachtslieder könnten wir schön laut singen. Mutter stellte sich ans Küchenfenster, lauschte nach draußen zum Hof. Schließlich öffnete sie die Tür, und wer kam da herein? – Der Franzose aus der Fabrik und der Arzt aus Rußland!

Zur letzten Kriegsweihnacht hatten wir selbst nicht viel zu essen. Damit es auch für bunte Teller für die beiden Männer reichte, fielen unsere ein bißchen kleiner aus. Was machte das schon! Mutti hatte für uns alle ein kräftiges, warmes Essen gezaubert. Danach saßen der Russe und der Franzose am Ofen, während am Baum die Kerzen brannten und wir Weihnachtslieder sangen.

Spätabends verließen die Männer vorsichtig das Haus. Die anderen Mieter durften nicht merken, daß sie bei uns gewesen waren. Auf Muttis Eltern konnten wir uns verlassen, sie verrieten nichts. Wie wir aber meinen kleinen Bruder überzeugt hatten, noch nicht einmal seinem besten Freund von unseren Besuchern zu erzählen, weiß ich heute nicht mehr.



Gretel Hardelands Vater trug auch zu Hause immer Uniform. Nur gut, daß er nicht ahnte, wen die Mutter am Heiligen Abend 1944 eingeladen hatte.


Bedrückend war für meine Mutter und mich die Tatsache, daß wir auch meinem Vater, der in den letzten Kriegsmonaten nur noch einmal nach Hause kam, auf gar keinen Fall etwas erzählen durften. Er war bis zum Kriegsende überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Schon in Friedenszeiten zeigte er sich gern in Uniform, sogar bei der Taufe meines Bruders. Während des Krieges erinnere ich mich an keinen Urlaubs- oder Feiertag, an dem er nicht seine Uniform anhatte, sogar am Heiligabend. Ob er uns aus „Patriotismus“ verraten hätte? ...
Mit Sicherheit hätte er sich sofort von meiner Mutter getrennt aus maßloser Enttäuschung, daß sie es gewagt hatte, „Untermenschen“ ein wenig Nächstenliebe zu schenken.

Aus: „Wir sollten Helden sein“, Reihe ZEITGUT, Band 12.

[zurück]


[Birkach*) bei Augsburg, Bayern;
Weihnachten 1946]


Liselotte Miller
Arm und doch glücklich

Durch die politischen Nachwirkungen des Krieges waren wir 1946 in ein kleines Dorf in den westlichen Wäldern von Augsburg verschlagen worden, dort, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagten. Eine lange, beschwerliche Zeit lag hinter uns: der Abschied von der niederschlesischen Heimat, ein menschenunwürdiger Transport im Viehwaggon und mehrere Aufenthalte in Massenlagern. Endlich brachte uns ein klappriger LKW mit anderen Leidensgenossen an ein unbekanntes Ziel der erzwungenen Reise.

Da standen wir nun mit unseren letzten Habseligkeiten auf dem Dorfplatz: Mutter, mein fünfjähriger Bruder Werner, meine achtjährige Schwester Ursula und ich, elfjährig. Eine kleine Wohnung war uns zwar zugeteilt worden, aber die Leute hatten uns nicht gewollt. Niemand wollte uns eigentlich. Wer will schon eine fremde Frau mit drei Kindern im Haus?

Werner drückte sich an die Mutter und begann zu weinen. Die herbstliche Kühle kroch durch unsere Kleider. Zuletzt, als alle anderen schon einen Hauswirt gefunden hatten, erbarmte sich ein älterer Bauer. Er lud uns auf seinen Bretterwagen und „Bräundl“, sein Haflinger, zog uns zu einem kleinen Hof, wo wir endlich ein Dach über dem Kopf fanden. Der Bauer wies uns eine freundliche aber unbeheizbare Kammer zu, in der zwei Betten mit Seegrasmatratzen standen. Dieser Raum sollte zur eigentlichen Privatsphäre unserer neuen Heimat werden. Die Möbel, eine abgewetzte Truhenbank, ein wackliger Stuhl und ein Büffet, hatten bestimmt schon viele gute und schlechte Tage erlebt.
Die ebenerdige Sommerküche, von der aus die Bäuerin den Backofen im Freien und den Kachelofen der eigenen Stube befeuerte, durften wir mitbenutzen, ebenso den riesigen Herd, der fast ein Drittel der Küche einnahm. Dieser riesige Herd faszinierte uns. Besonders tröstlich empfanden wir das große Wasserschiff, auf das man sich in der kalten Jahreszeit abwechselnd setzen konnte. Was die Bäuerin zum jähen Entschluß ihres Josef gesagt haben mochte, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen, erfuhren wir nie. Man konnte es nur ihrer säuerlichen Miene entnehmen.

So nach und nach erfuhren wir mehr über unsere Wirtsleute. Auch sie hatten durch den Krieg großes Leid erfahren, war doch ihr einziger Sohn auf den Schlachtfeldern Rußlands geblieben. Sepp und Anna, beide nicht mehr die Jüngsten, kränkelten. Ihre häufige Verdrossenheit ließ sich wohl nicht zuletzt damit erklären, daß sie einfach zu wenige Worte fanden, um sich den Schmerz von der Seele zu reden. Da auch die Tochter, ihr noch einziges Kind, kurz vor der Heirat in ein weit entferntes Dorf stand, hatten sie sich wohl in meiner Mutter eine Arbeitskraft erhofft und dabei uns drei Kinder mit in Kauf genommen.
Obgleich ihr die Arbeit fremd war, half Mutter – nicht zuletzt des lieben Friedens willen – wo immer sie konnte. Schon vor fünf Uhr früh fuhr sie die Milch zur Rampe an der Sammelstelle, wo das Milchauto sie abholte. Mir als der Ältesten wurde das Kühehüten anvertraut, das ich mit großer Begeisterung übernahm. Dabei konnte ich ungestört meinen Gedanken und Phantasien nachhängen, im Feuer Kartoffeln braten oder aus aufgetrennter Wolle allerlei Nützliches stricken, solange sich das gefräßige Vieh nicht am Klee der Nachbarweide vergriff. Im großen und ganzen mochte ich Kühe. Wir Kinder konnten das Heimweh unserer Mutter und ihre Traurigkeit nicht verstehen. Litten wir auch manchmal an der eingeschränkten Freiheit im Haus, so war diese draußen fast grenzenlos: Wald und Wiesen, soweit das Auge reichte, die Tiere im warmen dampfenden Stall, die Dorfkinder, mit denen uns bald eine innige Freundschaft verband. Hier gefiel es uns, hier wollten wir bleiben.


Meine damalige Klasse vor unserer kleinen Dorfschule im Nachbarort Klimmach.


Mit Freude gingen wir zur Schule in den Nachbarort nach Klimmach, wo in einem einzigen Raum alle Klassen gleichzeitig unterrichtet wurden. Während der junge kriegsversehrte Lehrer den einen den Lehrstoff beibrachte, arbeiteten die anderen still. Wie ein Schwamm sogen wir auf, was wir sahen und hörten, hatten wir doch längere Zeit keine Schule mehr besuchen können. Wir begannen das karge Leben zu lieben, auch wenn sich unsere Gedanken in diesen Hungerwintern, die zugleich mit sibirischen Temperaturen und riesigen Schneemengen einhergingen, zwangsläufig um die Beschaffung von Nahrung und Heizmaterial drehten. Wie schätzten wir damals die Wälder! Wir lebten im Rhythmus der Jahreszeiten und ernteten dankbar, was sie uns gerade boten. Im Gegensatz zu den Städtern mußten wir nie hungern. Die tägliche Brotration beim Bäcker war sicher, ebenso, als Höhepunkt jeden Genusses, das Eck „Velveta“-Schmelzkäse, das es auf Marken einmal pro Woche in der Milchsammelstelle gab. Der Bedarf an Süßem wurde mit Zuckerrübensirup gedeckt. Zur Aufbesserung unserer Mahlzeiten tauschte Mutter ihre letzten Damasttischdecken und Tassen aus Rosenthalporzellan gegen ein Stück Butter hier oder ein Pfund Mehl dort. Uns Kinder rührte das wenig, der Teller mußte voll sein.

Aus unserer kleinen, bescheidenen Zufriedenheit wurde ein großes Glück, als drei Tage vor dem Weihnachtsabend des Jahres 1946 unerwartet unser Vater vor der Tür stand. Drei Jahre Ostfront und zwei Jahre Arbeitseinsatz als Kriegsgefangener in einer Ziegelbrennerei in Kasachstan hatten ihn gezeichnet. Die Sohlen seiner Schuhe waren mit Schnüren zusammengehalten, und um seinen ausgezehrten Körper schlotterte ein viel zu weiter Mantel. Trotz unendlicher Wiedersehensfreude hatte sein Blick etwas Abwesendes, das sich erst langsam verlor.

Der einzige, der unsere Freude nicht teilte, war unser Jüngster. Werner verstand nicht, daß sich nun plötzlich ein Fremder zwischen ihn und seine geliebte Mama drängte und die innige Einheit seines jungen Lebens zu stören wagte. An diesem ersten gemeinsamen Heiligen Abend wollten wir Vater verwöhnen. Er sollte es fast so schön haben wie früher. Dazu gehörte selbstverständlich ein Christbaum. Dürres Bruchholz durften Notleidende jederzeit holen, selbst gegen den Willen der Waldbesitzer. Das hatte sogar der Pfarrer von der Kanzel gesagt. Aber grünes Holz?

Ratsuchend wandte ich mich an Peppi, meine neue Freundin, die mich nach und nach in die Geheimnisse des Dorflebens einweihte. Für die Beschaffung des Christbaumes gab es folgende Regeln: Er mußte aus dem Staatsforst sein. Privatwald war tabu. Der Förster war weit, aber bei den Bauern konnte man es nie wissen. Von einem guten Christbaum erwartete man einen tadellosen Wuchs. Außerdem durfte er nicht zu buschig, aber auch nicht zu nackt sein. Jeder andere war ein „Glump“, und man sollte sich schämen.

Unter Beachtung all dieser Ratschläge glückte unsere Mission, und Peppi und ich stellten eine mannsgroße Fichte vor das Küchenfenster, weil im Zimmer kein Platz war. Den einzigen Schmuck bildeten ein paar zerknitterte Lamettastreifen, Relikte aus den Kriegstagen, die zur Irritierung der Radaranlagen deutscher Flakgeschütze abgeworfen worden waren.

Nach vollbrachter Tat spürten wir unseren leeren Magen und freuten uns auf das Festmahl. Es sollte sogar eine leibhaftige Gans geben! Weil im Dorf die Hühnerpest ausgebrochen war, hatte sie die Bäuerin noch eilig ins Jenseits befördert. So lag nun die Gans bläulich und etwas hartbrüstig, aber herrlich duftend, als Weihnachtsgeschenk von Sepp und Anna in einer geliehenen Pfanne. Dazu aßen wir Kartoffeln und Blaukraut und tranken Apfelschalentee. Auf die Nachspeise, einen Götterpudding, mußte wir leider verzichten, da sich die Enten darüber hergemacht hatten, als er zur Abkühlung in den Schnee gestellt worden war.

Als Höhepunkt und Abschluß der Weihnachtsschlemmerei erwarteten wir noch einen großen Teller Plätzchen; die Zutaten vom Mund abgespart, zusammengetauscht, zigmal versteckt und doch immer wieder gefunden. Nach dem Essen reichte Mutter ihn herum, und als die Reihe sich zu bedienen an Bauer Sepp war, geschah das Unvorhergesehene, die Katastrophe. Er sagte: „Vergelts Gott“, nahm den Teller und verschwand geehrt in seiner Stube!

Wir trösteten uns mit weihnachtlichen Weisen aus dem Volksempfänger, die wir alle mitsangen. Die Eltern hörten noch mit einem halben Ohr die Rede des neuen Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard, bis es Zeit zum Aufbruch in die Mitternachtsmesse wurde. Bauer und Bäuerin traten mit ihrem Sonntagsgewand zur Tür heraus. Anna trug einen großen hellbraunen Fuchspelz, den sie wie eine Königin um die Schultern geschlungen hatte, und der sich mit dem Kopf im eigenen Schwanz festbiß.

Es war eine sternklare Nacht. Der Schnee häufte sich beidseits des Weges. Einer trat in die Fußstapfen des anderen. Von allen Seiten zitterten die Lichter der Stallaternen dem steilen Hügel zu, über den der Weg, umsäumt von Wäldern, zur Kirche im Nachbardorf führte. Der Papa war wieder da! Wir fühlten uns geborgen nach all den vaterlosen Jahren, kuschelten uns abwechselnd an ihn und spürten nicht die Kälte durch unsere dünnen Schuhe. Es ging wieder aufwärts.

Aus: „Lebertran und Chewing Gum“, Reihe ZEITGUT, Band 14.

[zurück]


[Hamburg;
Dezember 1946]

Inge Vogl
Mein Lied

Vorweihnachtszeit in Hamburg. Am Hauptbahnhof steige ich aus. Hoffnungsvoll, tief in meiner Manteltasche, trage ich die Lebensmittelmarken. Wie dünne Briefmarken befühle ich sie ab und an. Ein Wert für wahlweise 250 Gramm Butter oder Schmalz.
Die Luft ist diesig und frostig. Es dunkelt rasch. Nur zwei Stunden habe ich Zeit, dann machen die Läden zu. Ich bin elf Jahre alt. Da! Das erste Lebensmittelgeschäft.

„Butter oder Schmalz? Nee, Kleine, ist schon ausverkauft.“
Der nächste Laden. „Tut mir leid, haben wir nicht.“
Meine Hoffnung hat nun einen Dämpfer. Trotzdem habe ich noch Mut. Die Gaslaternen werden angezündet. Licht in Wohnungen und in leeren Schaufenstern. Meine Schritte werden länger. Mein Kopf will dichten: „Wiehnachtsmann, stick de Lichter an ...“
Wieder ein Geschäft. „Ich möchte gerne Butter oder Schmalz.“ – Statt einer Antwort höre ich einen Seufzer und sehe ein Kopfschütteln.
Der Himmel hat sich in Schwärze versteckt.
„Wiehnachtsmann, stick de Lichter an, op’n Steendamm, dat ick seehn kann...“
Holla, da drüben ist ein Milchgeschäft.
„Butter, Schmalz? Nein, wir haben nichts zugeteilt bekommen.“
„Onkel, wie spät ist es?“
„Halv soß, min Deern. Mußt no Hus gohn, is all düster.“
Auch in meiner Seele wird es ein wenig dunkel. Die Straßenlaternen leuchten tröstlich hell. Wann sie die wohl ausmachen? – Genau, das ist es!
„Wiehnachtsmann, stick die Lichter an, opn Steendamm, dat ick seehn kann. Pust se wedder ut –“ und was reimt sich auf „ut“? – Mir fällt nichts ein. Dafür bekommt das Ganze eine Melodie und einen Takt für meine Füße.

Hier. Ein Kellergeschäft! Und wenn die auch nichts haben? Mein Mund fragt. Meine Augen betteln stumm. – Nichts, schon seit 14 Tagen nichts.
Auf der Straße packt mich die große Enttäuschung und Zorn kribbelt im Genick.

Das Hansa Theater. Ich bleibe stehen. Große Sehnsucht im Herzen schaue ich zu. Taxen, Türen auf, hübsche Herren und Damen steigen aus, in toller Uniform neigt sich ein Pförtner, öffnet die Tür und nimmt einen rotsamtenen Vorhang zur Seite. Wie im Märchen! Wie Weihnachten, so hell, feierlich, geheimnisvoll.
Enttäuscht, zornig, trotzig, sehnsüchtig gehe ich jetzt singend um die Straßenecke:

Wiehnachtsmann, stick de Lichter an,
op’n Steendamm, dat ick seehn kann.
Pust se wedder ut, krist wat an de Schnut!

Genau! Das ist es! Auf „ut“ paßt „Schnut“.
Oh, noch ein Milchgeschäft!
Die Frau dreht gerade den Schlüssel um. Zu. Läßt mich nicht mehr hinein. Meine Nase wird platt an der Schaufensterscheibe. Meine Augen gehen flink durch den fast leeren Raum. Da, in der Ecke! Ein volles Faß Schmalz!

Mein Lied singend, fahre ich mit der U-Bahn heim in die kleine Schrebergartensiedlung nach Wandsbek Gartenstadt, wo wir seit unserer Ausbombung wohnen.

Am folgenden Morgen stehe ich in aller Frühe auf und mache mich erneut auf den Weg in die Innenstadt. Selig vor Freude, mit 250 Gramm Schmalz in der Tasche, fahre ich laut singend nach Hause.

Mein Weihnachtsmann-Lied habe ich bis heute nicht vergessen. Es gehörte bis jetzt ganz alleine nur mir!
Oder hat mich vor 50 Jahren jemand singen hören?

Aus: „Nachkriegs-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 2.

[zurück]


[Reckenthin bei Pritzwalk, Mecklenburg-Vorpommern;
Dezember 1946]

Evelyn Steudel
Ein Sack Weihnachtsholz

Anno 1946. Weihnachten kam näher und näher, aber nichts Wärmendes und nichts Sättigendes rückte in Sicht. Wir drei Kinder, fünfzehn, zwölf und acht Jahre alt, hatten Angst vor diesem Weihnachtsfest. Unsere Mutter sagte in ihrer Naivität immer nur den einen stereotypen Satz: „Der liebe Gott wird schon sorgen!“

Bis jetzt schien es so, als hätte der liebe Gott uns vergessen, wie schon so oft. Uns graute vor Eiseskälte in der Stube unter dem geklauten Tannenbaum. Weder Holz noch Kohlen waren vorrätig, und das nasse Reisig, das wir täglich aus dem leergeräumten Wald klaubten, qualmte nur im Ofen. Wärme gab es nicht ab.

Es war die Zeit der vielen Tanzvergnügungen auf den Dörfern. Die Menschen freuten sich darüber, wieder in hell erleuchteten, warmen Sälen die Nächte durchtanzen zu können. Und da Mamas lieber Gott sich in Sachen „warme Weihnachtsstube bei Zobels“ immer noch nicht rührte, beschlossen wir drei Kinder, zur Selbsthilfe zu greifen. Unser Vorhaben fanden wir bestätigt durch das Bibelwort: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“
Also mußten wir selbst für Holz sorgen.

Am 22. Dezember war nun im Nachbardorf wieder Tanz angesagt. Auch die Einwohner unseres Dorfes marschierten durch die nächtliche Kälte dorthin. So machten wir uns – ohne Wissen unserer Mutter – einen Plan, bei dem jeder eine Aufgabe zu erfüllen hatte: Meine ältere Schwester erkundete, von welchem Hof die Leute zum Tanz gingen, und spähte deren Holzbestände aus. Ich organisierte einen Sack – heil mußte er sein!

Unser kleiner Bruder kannte die Hunde im Dorf. Er besuchte sie alle und wollte feststellen, ob er mit ihnen so auf Du und Du stand, daß er den einen, auf den es dann ankommen würde, beruhigen könnte.

Endlich war der Tanzabend herangekommen. Die meisten Höfe standen still und verlassen, und stockdunkel war es sowieso. Meine Schwester hatte einen großen Bauernhof mit traumhaften Brennholzbeständen ausgeguckt. Und mein Bruder hatte nachmittags noch dessen Hund eine gekochte Kartoffel gebracht, das einzige, was wir unbeobachtet verschwinden lassen konnten. Ich hatte mir den Sack fest um den Leib gebunden. In der schützenden Dunkelheit konnte das weihnachtliche Holzabenteuer beginnen.

Wir schlichen unauffällig zu dem dunklen Hof mit dem vielen trockenen Holz. Mein Bruder kroch leise in die Hundehütte zu dem schwarzen Bello, und meine Schwester und ich schlichen mit dem Sack an die Rückwand des Holzschuppens. Natürlich war der Schuppen verschlossen, denn außer uns gab es viele kleine Flüchtlingskinder, die nach Holz suchten.

Nun war es so weit! Durch die Latten der hölzernen Trennwand konnten wir gut mit unseren Händen greifen und Holzstück für Holzstück herausziehen. Wir hantierten leise und füllten schnell den Sack mit duftenden, ganz trockenen Birken- und Fichtenscheiten, wie unser Ofen sie noch nie erlebt hatte. Der würde sich wundern!

So hatten wir mit unseren kleinen Händen bald ein kreisrundes Loch in der Innenseite der hohen Holzwand entstehen lassen, dabei jegliche physikalische Gesetze außer acht lassend. Als unser Sack fast voll war, geschah das Unglück: Mit donnerndem Getöse krachte die ganze hohe Holzscheitwand zusammen. Es krachte und polterte so gewaltig in die nächtliche Stille hinein, daß alle Hunde des Dorfes gleichzeitig in ein fürchterliches Gekläffe fielen. In panischem Schrecken ergriffen wir unseren Sack und machten uns über den Hinterhof davon. Mein kleiner Bruder kam leise fluchend und hinkend hinterher. Bellos Kette hatte sich bei dessen plötzlichem Gespringe und Gekläffe um sein linkes Bein gewickelt, so daß er eine blutige Schramme davontrug, die man durch das Loch in seiner Hose sah.

Aber das zählte alles nicht, auch nicht unsere aufgerissenen Hände. Wir kletterten über zwei Koppelzäune und schoben den Sack jedes Mal unten durch. Ungesehen und mit viel Herzklopfen kamen wir mit der kostbaren Beute an dem Stallgebäude an, in dem wir ganz oben neben der Schrotkammer wohnten. Mühsam asteten wir den Sack die steile Stiege im Dunkeln empor. Leise öffneten wir die Stubentür und stellten strahlend das Diebesgut vor unsere verdutzte Mutter hin.

„Mama, Weihnachten ist gerettet, es wird warm!“ sagten wir fröhlich. „Der liebe Gott hat uns vergessen, aber wir haben ihn an uns erinnert, und er hat uns geholfen.“

Während wir stolz unseren Sack Holz auskippten, schichtete sie Scheit für Scheit hinter dem Ofen auf. Sie sprach dabei kein Wort, und es fiel ihr auch keiner von ihren frommen Sprüchen ein, mit denen sie uns sonst traktierte. Aber auf die Holzscheite fielen ihre Tränen.

Aus: „Nachkriegs-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 2.

[zurück]


[Berlin-Neukölln;
1948/49]

Wulf Köhn
Blockade-Weihnachten

Es ging langsam auf Weihnachten zu. Die Tage wurden kürzer, und die Dunkelheit kam früher. Wir wohnten in Neukölln, im amerikanischen Sektor von Berlin. Zu den Ärgernissen der Blockadezeit gehörte auch das regelmäßige Abschalten des Stroms. Es gab ihn täglich nur stundenweise, in der übrigen Zeit war „Stromsperre“. Solange es draußen noch hell war, wenn ich ins Bett mußte, bemerkte ich das kaum. Aber jetzt wurde es am späten Nachmittag schon dunkel, während ich noch nicht einmal mit meinen Schularbeiten fertig war.

Die Abende spielten sich bei Kerzenschein ab. Aber selbst die Kerzen waren knapp und wir mußten damit sparsam umgehen. Mein Großvater hatte ein Gerät gebastelt, mit dem wir Kerzen gießen konnten. In einer alten Konservendose wurde das Kerzenwachs erhitzt und in eine Röhre gegossen, in der ein Baumwollfaden befestigt war. Unser bisheriger Sammeleifer, der sich auf Heu, Stroh, Eicheln, Brennesseln, Pferdeäpfel und Pflaumenkerne erstreckte, wurde jetzt auf Kerzenreste ausgedehnt. Wir sammelten auch alles, was einigermaßen nach Fett aussah und nicht eßbar war. Das Ergebnis unserer selbstgegossenen Kerzen war im wahrsten Sinne des Wortes „betrüblich“, denn diese Kerzen erzeugten meist ein äußerst trübes Licht. Wir ließen den Lichtschalter in unserer Stube auch nachts an, damit wir sofort bemerkten, wenn es zwischendurch eine Stunde Strom gab. Dann wurden sofort die Arbeiten erledigt, zu denen man Strom oder Licht brauchte. Meine Mutter fing dann manchmal mitten in der Nacht zu bügeln an, während ich verschlafen meine Schulhefte herausholte und zu lesen und zu rechnen begann.

Der Nachbarfamilie Lezius ging es da besser. Sie hatte in der Küche eine Gaslampe, die auch bei Stromsperre funktionierte. Zum Glück wurden die Straßenlaternen vielerorts mit Gas betrieben, so daß es draußen nicht ganz dunkel war, wenn wir spät abends unterwegs waren. Es gab aber auch Stadtteile mit elektrischer Straßenbeleuchtung. Dort konnte man bei Stromsperre wirklich kaum die Hand vor Augen sehen.

Die Fenster unseres Treppenhauses gingen zum Hof hinaus, so daß der Schein der Straßenlaternen dort nicht hinreichte. Kamen wir abends aus dem Kindergarten nach Haus, war es so dunkel, daß man noch nicht einmal einen leichten Lichtschein durch die Fensterscheiben sah. Wir zogen uns dann am Treppengeländer nach oben, ertasteten das Schlüsselloch und tappten durch den dunklen Flur in die Küche, bis wir eine Kerze angezündet hatten. Selbst das war sehr umständlich, denn wir hatten keine Streichhölzer. Der einzige Weg führte über den Gasanzünder, mit dem erst der Kocher angezündet wurde. Dann konnte daran die Kerze angesteckt werden. Bis dahin aber geschah alles bei völliger Dunkelheit. Als ich einmal den Gasanzünder verlegt hatte, mußte meine Mutter Herrn Lezius bitten, uns eine Kerze anzuzünden, damit wir den Anzünder finden konnten. Dabei hatte er nur am anderen Ende unserer Kochmaschine gelegen.
Einmal gingen wir nach Treptow, da fiel mir eine große Uhr auf, die an einer Häuserwand befestigt war.

„Wie wird die denn aufgezogen?“ fragte ich meine Mutter.
„Die braucht man nicht aufzuziehen, die läuft mit Strom.“
„Aber was ist bei Stromsperre? Bleibt die Uhr dann stehen?“
Da erfuhr ich zum ersten Mal, daß es eine regelmäßige Stromsperre nur in West-Berlin gab, weil die Blockade insgesamt nur den Westteil der Stadt betraf, und ich begann, die Ost-Berliner zu beneiden.

Mit Beginn der Blockade waren die wenigen Lebensmittel, die es nach der Währungsreform schon wieder gegeben hatte, wieder aus den Geschäften verschwunden. Es gab jetzt fast gar nichts mehr. Wir standen jeden Monat dreimal vor den Dekadenstellen, wo die Lebensmittelkarten für jeweils zehn Tage ausgegeben wurden, und anschließend wieder in Schlangen vor Geschäften, in denen oft schon alles ausverkauft war, ehe man drankam.
Manchmal wechselte ich mich mit meiner Mutter ab, und wir standen gleichzeitig an zwei Schlangen. Ich mußte ihr dann immer den Platz „freihalten“. Mitunter kam ich in Schwierigkeiten, wenn ich plötzlich vorne stand, aber meine Mutter noch nicht wieder da war. Dann stotterte und stammelte ich, konnte aber nichts kaufen, da ich kein Geld und keine Marken hatte. Später ließ mir Mutter beides in einem Portemonnaie zurück, damit das nicht wieder passierte.
Die Luftbrücke brachte uns einige haltbare Lebensmittel. Neben den Trockenkartoffeln gab es „POM“, ein grünliches Pulver, das als Kartoffelersatz verwendet wurde. Es bestand wohl hauptsächlich aus Mais und Soja. Ich aß den daraus angerührten Brei sogar gern, wenngleich andere darüber schimpften. Viele Gemüsesorten gab es als getrocknete Schnitzel, von denen mir vor allem noch die von Roten Beten in Erinnerung geblieben sind. Ich durfte mir, wenn ich spielen ging, ab und zu eine kleine Handvoll davon mitnehmen. Man hatte lange etwas davon, denn die Schnitzel mußten erst lange im Munde aufweichen, ehe sie eßbar wurden.

Für Kinder gab es noch Trockenmilch, die man nicht nur zu einem Getränk, sondern – mit Mehl gestreckt – auch zu einem süßen Brei anrühren konnte. Der wurde mit dem Löffel direkt aus der Tasse gegessen. Eine seltene Delikatesse war das Eipulver. Mit Wasser angerührt und auf der Pfanne gebraten, entstand eine Art Rührei, allerdings ohne Speck und Schinken. Daran war überhaupt nicht zu denken.

Daß die Luftbrücke keine richtige Brücke war, sondern aus einer endlosen Kette von Flugzeugen bestand, wurde mir schnell klar, denn wir wohnten genau in der Einflugschneise zum Flughafen Tempelhof. Alle zwei bis drei Minuten flog eine Maschine mit dröhnenden Motoren nur wenige Meter über unser Haus hinweg, in endloser Reihe, Tag und Nacht. Wenn das Brummen eines Flugzeugs in der Ferne kaum verklungen war, kündigte sich auf der anderen Seite schon das nächste an. Für mich war dieses Geräusch nicht beängstigend, eher beruhigend – bis ich eines Tages erfuhr, daß in der Handjerystraße ein Flugzeug abgestürzt und auf ein Wohnhaus gefallen war. Dabei waren einige Hausbewohner ums Leben gekommen. Parallel zur Zietenstraße, in der wir wohnten, lag die damalige Prinz-Handjery-Straße, dort vermutete ich die Absturzstelle, fand sie aber nicht. Ich wußte ja nicht, daß die Wilmersdorfer Handjerystraße gemeint war. Obwohl meine Mutter mir das erklärte, hatte ich von da an dennoch Angst. Wie schnell konnte eine Maschine auch auf unser Haus stürzen! Manche Nacht lag ich nun in meinem Bett und konnte nicht einschlafen, während ein Flugzeug nach dem anderen über unser Dach hinwegbrummte.

Die Amerikaner oder: „Xänkju!“
Für mich waren die Amerikaner der Inbegriff des schlechten Benehmens und eines besseren Lebens zugleich. Ich hatte bis dahin zwar noch keine Gelegenheit gehabt, einen kennenzulernen, aber meine Mutter mahnte mich ständig: „Benimm dich nicht wie ein Amerikaner!“
Die Amerikaner, kurz Amis genannt, schienen ständig in der Nase zu bohren, sich bei Tisch am Kopf zu kratzen und die Beine auf den Tisch zu legen. Letzteres hatte ich zwar noch nie gewagt, aber gehört, das sei die normale Sitzhaltung eines jeden Amerikaners.

Wir hatten damals eine scheußliche Sandseife im Kindergarten. Sie erzielte ihre Reinigungswirkung wohl weniger aus den Seifenanteilen als vielmehr aus dem Scheuereffekt, sie erzeugte auch keinerlei Schaum, sondern eine Art Sandpampe, die zusammen mit dem Schmutz wieder abgewaschen wurde. Eines Tages bekamen wir ein Stück weißer Seife, die wundervoll weich war und stark schäumte. Wir erfuhren, das wäre amerikanische Seife. Von nun an bezeichneten wir alles als „amerikanisch“, was qualitativ besser war als die gewohnten Dinge.

Ein andermal brachte ein Junge eine kleine Tafel Blockschokolade mit, die noch an einem weißen Fallschirm hing. Er hatte sie auf der Straße gefunden. Dabei erfuhren wir, daß die Amerikaner für die Kinder Schokolade und andere Süßigkeiten an Fallschirmen abwarfen, kurz bevor sie landeten. Ich habe oft zu den Flugzeugen hinaufgeschaut, wenn sie tief über mich hinwegflogen. Es gab normale Flugzeuge mit einem Rumpf und zwei Propellern, aber auch größere mit Doppelrumpf und vier Propellern. Es gelang mir allerdings nie, einen Fallschirm zu erwischen. Ein einziges Mal sah ich einen einsamen Fallschirm nach unten trudeln, aber bevor ich ihn erreichen konnte, hatten sich bereits mehrere Jungen darauf gestürzt.

Irgendwann gab es in der Schule aber für jeden eine Tafel Blockschokolade – die erste Schokolade in meinem Leben. Sie bestand aus einem einzigen Riegel mit fünf Kästchen. In jedes Kästchen war ein Buchstabe eingeprägt, so daß sich das Wort BLOCK ergab. Man brauchte schon gute Zähne, um davon etwas abzubeißen. Die meisten Jungen verspeisten die Schokolade sofort, aber ich nahm sie mit nach Hause. Meine Mutter stellte mir frei, meinem Bruder etwas abzugeben; ich gab ihm zwei Kästchen und meiner Mutter eins, das sie aber nicht annahm. Da hob ich es für Großvater auf, der es aber mit Hinweis auf seine Zähne ebenfalls ablehnte. So konnte ich es mit ruhigem Gewissen selber essen. Es war ein ganz besonderer Genuß.

Den Geschmack kannte ich zwar schon ein bißchen vom Schokoladenreis her, den es einmal wöchentlich als Quäkerspeise gab – einen dicken dunkelbraunen Reisbrei; aber der Genuß der reinen Schokolade war ungleich eindrucksvoller. – Außerdem kostete es immer ein gewisses Maß an Überwindung, den Schokoladenreis zu essen, da er häufig kleine weiße Maden enthielt, die deutlich in dem braunen Brei zu sehen waren. Wir fischten sie zwar heraus, wenn wir sie sahen, werden aber bestimmt viele unentdeckte mitgegessen haben. Das war trotzdem kein Grund, auf die Speise zu verzichten.

In der Adventszeit erkrankte meine Mutter wieder an der Kopfgrippe und lag meist im Bett. Eines Tages entdeckte ich, daß in der Hermannstraße Weihnachtsbäume verkauft wurden. Da meine Mutter zu schwach war, um sich selbst darum zu kümmern, drückte sie mir 50 Pfennig in die Hand und schickte mich los. Ich sprach den Händler an, zeigte ihm das Geld und sagte ihm, daß ich das für einen Baum ausgeben könne. Er überlegte einen Augenblick und führte mich zu einem kleinen Baum, den ich gut allein tragen konnte. Er stellte ihn auf, drehte ihn hin und her, damit ich ihn gut betrachten konnte, und fragte, ob er mir gefalle. Er gefiel mir, und ich nahm ihn mit.
Meine Mutter war entsetzt, als sie den Baum sah: „Mein Gott, was hast du dir denn da andrehen lassen?“

Ich fand ihn ganz in Ordnung. Bei näherem Hinsehen stellte sich allerdings heraus, daß es nur ein halber Baum war: Er hatte nur an einer Seite Äste, die andere Seite war völlig kahl. Der Händler hatte den Baum so geschickt vor mir gedreht, daß ich immer nur die volle Seite zu sehen bekam. Meine Mutter lächelte aber dann doch; immerhin war es mein erster Einkauf mit eigener Entscheidung. Wir stellten den Weihnachtsbaum auf ein kleines Tischchen an die Wand, da war die Rückseite ohnehin nicht zu sehen. Ich fand diese Lösung übrigens so praktisch, daß ich heute noch nach solchen Bäumen Ausschau halte: Man kann sie dichter an die Wand stellen, ohne daß sie umfallen.

Kurz vor dem Weihnachtsfest wurde uns im Kindergarten angekündigt, daß uns Amerikaner besuchen würden.
(weiter gehts im Buch)

Gekürzt aus: „Nachkriegs-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 2.

[zurück]


[Kürten, Nordrhein-Westfalen;
etwa 1956]

Günther Paffrath
Der Weihnachtsbaumdieb

Am 6. Oktober feierten wir das Erntedankfest. Bis dahin war ich kein sehr eifriger Kirchgänger, wobei ich unter „eifrig“ ohnehin größere zeitliche Intervalle des Kirchenbesuchs verstehe. Doch zu diesem besonderen Anlaß war es für mich als Jungbauer ein inneres Bedürfnis, dem Schöpfer für Milch und Eier, Korn und Kartoffeln zu danken.

An diesem Tag wurde in unserer Kirche der neue Pfarrer eingeführt. Da ich in der zweiten Reihe, unmittelbar hinter seiner Familie, saß, konnte ich das feierliche Geschehen aus nächster Nähe beobachten. Kirchenbesucher, Presbyter und Amtsbrüder des neuen Pastors blickten mit ernsten Gesichtern drein. Ganz anders jedoch der neue Pfarrer. Er erschien mir quirlig und fröhlich, sein rotblondes Kraushaar wippte bei jeder Bewegung. Neben ihm saß in betont aufrechter Haltung seine dunkelhaarige Frau, daneben die Tochter mit dem in unserer Region seltenen Namen Rahel. Und genau hinter dieser saß ich. Was mir an der etwa Achtzehnjährigen auffiel, war ihr wunderschönes, schwarzes, kräftiges Haar, das, zu einem langen Zopf geflochten, über ihr dunkelblaues Samtkleid herabhing. Ich konnte den Blick von dieser Haarpracht einfach nicht wenden.
Als wenig später der Organist unvermittelt die ersten Musiktöne in voller Kraft erklingen ließ, wendete sich der prächtige Haarkopf in Richtung Orgel. Für einen Moment vergaß ich fast zu atmen und starrte auf dieses feine Profil, einer marmornen Göttin gleichend.

Die dunkelblauen Augen, langbewimpert unter schwarzen Brauen, sahen an mir vorbei hinauf zur Orgel. Wenn sie mich angeschaut hätten, ich glaube, ich wäre überrot geworden. Ihr Blick streifte mich jedoch nicht einmal. Dennoch hatte mich die Schönheit des Mädchens innerhalb weniger Sekunden in ihren Bann gezogen. Rahel!

In der Folgezeit sprach ich den Namen der Angebeteten oft leise vor mich hin. Wie gut konnte ich Jakob verstehen, der für seine Rahel sieben Jahre umsonst gearbeitet hatte. Ich würde mindestens sieben mal sieben Jahre für meine Rahel arbeiten.
Vorerst begann ich, meine Lebensgewohnheiten zu ändern. Anstatt dreimal im Jahr ging ich fortan jeden Sonntag zur Kirche, hoffend, hinter dem schwarzen Zopf, hinter der märchenhaften Lichtgestalt sitzen zu dürfen.

Meinen Eltern entging diese wundersame Wandlung nicht. Wahrscheinlich fragten sie sich, welches Schlüsselerlebnis mich wohl der Kirche so nahegebracht haben könnte.
Meine Verhaltensänderung beschränkte sich nicht auf den eifrigen Kirchenbesuch. Auch meine Umgangsformen wurden andere, und ich legte größeren Wert auf meine Garderobe sowie auf gerade Körperhaltung und auf meinen Gang, der gravitätischer wurde.

Dennoch dauerte es bis in den November hinein, ehe ich es wagte, Rahel nach dem Gottesdienst auf dem Kirchvorplatz anzusprechen. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Witterung sehr unfreundlich sei, was sie bestätigte. Sie bot mir an, mich unter ihren Schirm, einen kleinen, lilageblümten, zu stellen. Dieser schützte zwar ihr schönes Haupt vor dem Regen, mich jedoch benutzte er mehr als Regenrinne. Dennoch war es für mich der herrlichste Augenblick meines jungen Lebens. Ich genoß förmlich jeden Tropfen, der von ihrem Schirm auf meinen Nacken floß.

In eine freundlich-lockere Unterhaltung vertieft, schritten wir die wenigen Meter bis zum Pfarrhaus, wo ich mich von ihr verabschiedete. In ihren dunkelblauen Augen sah ich ein kurzes Aufleuchten, als ich die Hoffnung äußerte, es möge doch am nächsten Sonntag aus dem Sonn- ein Regentag werden, der es mir erlaube, mich wieder unter ihren Schirm stellen zu dürfen.
Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, der folgende Sonntag war ein strahlender Novembertag. Nach dem Gottesdienst trat ich wieder zu Rahel und wies darauf hin, daß heute ein besonders schöner Tag sei, was sie ebenso fand. Diesmal führten wir ein etwas längeres Gespräch. Mit Freude stellte ich eine harmonische Übereinstimmung zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem Wesen fest. Jetzt nahm mein Bestreben, ihr möglichst nahe zu sein, neue Dimensionen an.

Nachdem ich bereits Mitte November dem Kirchenchor beigetreten war, schloß ich mich Anfang Dezember einem Bibelkreis und einer kirchlichen Jugendgruppe an. Alle diese Bemühungen zielten darauf hin, nicht nur vor Rahel, sondern auch vor ihren Eltern zu bestehen, die möglicherweise Vorbehalte gegen einen freundschaftlichen Umgang ihrer Tochter mit einem Jungbauern haben könnten. Insgesamt war ich in einer sehr glücklichen Stimmung, die sich auch von der immer winterlicher werdenden Witterung nicht beeinträchtigen ließ. Der Winter nahte indessen mit Schneeregen und Reif.

Ende November verhandelten mein Vater und ich mit mehreren Weihnachtsbaumaufkäufern. Wir hatten vor einigen Jahren eine große Waldwiese mit jungen Fichten bepflanzt, die in diesem Jahr Weihnachtsbaumgröße erreicht hatten und verkauft werden konnten. Anfang Dezember begann also die „Waldernte“. Der Ertrag für zahlreiche harte Arbeitsstunden sollte nun zu unserem Wohl in bare Münze umgewandelt werden. Mitte Dezember war die Aktion abgeschlossen. Nur vereinzelt erschienen noch private Käufer, um ihren Weihnachtsbaum direkt bei uns, dem Erzeuger, zu erwerben. Wir waren somit in jenen Tagen häufig draußen in der Fichtenparzelle. Dabei fiel uns auf, daß immer wieder Bäume fehlten, also Diebe am Werk gewesen sein mußten. Meistens an Stellen, wo ohnehin schon Bestandslücken waren. Offenbar hatte man sich daran erinnert, daß es sich in unserem Wald leicht klauen und unter einem gestohlenen Weihnachtsbaum gut singen ließ. Da wir uns nur ungern die Früchte unserer Arbeit fortnehmen und der Willkür in unserem Wald freie Bahn lassen wollten, patrouillierten wir regelmäßig um unseren Baumbestand.

Eines Abends, es schneite leicht, war ich wieder auf der Pirsch. Bald wurden die Flocken dichter und dichter.
„Bei Schnee wird es einfacher sein, eine Spur zu verfolgen“, dachte ich mir und malte mir aus, wie ich einen Dieb mit harschen Worten anhalten und zur Rede stellen würde. Es tat mir gut, meinem Zorn über die Baumklauer in leisen Selbstgesprächen freien Lauf zu lassen.

Da plötzlich sah ich etwa hundertfünfzig Schritte unterhalb von meinem Standort eine Gestalt in dunkelgrünem, inzwischen schneebesprühtem Loden aus unserer Parzelle treten. Eine spitze Kapuze, ebenfalls schon schneeüberzuckert, ließ den Menschen wie einen Riesenwichtel erscheinen. Mühsam schleppte er zwei Weihnachtsbäume mit sich den Berg hinan. Ich stieß einen Ruf aus und begann, den Hang hinabzurutschen. Der Kapuzen-Mensch schien mich gesehen zu haben, denn er schlug eilig einen schmaleren Nebenweg ein. Als ich parierte, änderte er die Richtung, dennoch kam ich ihm immer näher. Schließlich war ich nur noch wenige Meter hinter ihm.

Er hatte an Geschwindigkeit zugelegt und mußte sich gehörig anstrengen, denn die Weihnachtsbäume ließen sich gewiß nicht leicht ziehen. Obgleich er wissen mußte, daß ich direkt hinter ihm war, hielt er nicht an. Da ich wegen der Enge des Weges und der Breite der beiden Bäume nicht an ihm vorbei konnte, rief ich laut: „Hallo!“
Dann noch einmal: „He, hallo!“
Der Dieb blieb stehen, drehte sich um, und ich erstarrte. Unter der schneebedeckten Zipfelmütze schauten rotblonde Locken und darunter das Gesicht unseres neuen Pfarrers hervor!
Ich geriet in große Verlegenheit, hatte ich doch den Vater meiner Angebeteten beim Weihnachtsbaumklau gestellt. Der Pfarrer mochte die „Baumentnahme“ vielleicht als Kavaliersdelikt ansehen, möglicherweise hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Für mich aber würde es das Ende meiner großen Liebe bedeuten, fände ich jetzt nicht die richtigen Worte. Ich begann das Gespräch mit der überflüssigen Frage: „Haben Sie Weihnachtsbäume geholt?“
„Das habe ich, junger Freund. Aber – wo bin ich bloß hier? Ich habe wohl den rechten Weg verfehlt!“
Im Innern bestätigte ich letztere doppeldeutige Feststellung, stieß indessen, heiser vor Erregung, lediglich hervor: „Woher haben Sie die Bäume?“
„Die habe ich vom Schöpfer erstanden, einen für mich und einen für das Gemeindehaus. Aber weshalb fragst du, mein Sohn?“
Seine ruhige, freundliche Art und die Formulierung „mein Sohn“ verwirrten mich ziemlich, darum fragte ich erneut: „Bei wem kann man solche schönen Bäume erwerben?“
„Bei Gott, in Gottes freier Natur“, wiederholte er.
Seine Unbefangenheit irritierte mich.
„Weshalb fragst du so eindringlich?“, wollte der Pfarrer wissen. „Und warum bist du mir so auffällig gefolgt? Ich habe dich schon eine Weile hinter mir gespürt. Gelt, du bist doch der fleißige Kirchgänger, der mir schon immer aufgefallen ist und von dem meine Tochter Rahel manchmal spricht?“
Bevor ich, nach den passenden Worten suchend, etwas erwidern konnte, beantwortete er seine Frage selbst: „Laß mich raten, junger Freund. Du willst sicher auch einen Baum haben, und weil ich gleich zwei besitze, denkst du, ich könnte dir getrost einen abgeben, so wie das der Martin mit seinem Mantelteil getan und wie es unser Heiland gepredigt hat. Es sei drum so, wie du es dir wünschst. Du kriegst den rechten hier. Es ist der größere Baum, ihn hatte ich fürs Gemeindehaus ausgewählt.“

Einen Augenblick sah er mich schweigend an, dann fügte er hinzu: „Sicher bist du damit einverstanden, wenn ich dich bitte, mir für diesen schönen Baum, den ich eigenhändig gefällt und bis hierher geschleppt habe, zehn Mark zu zahlen. Der Küster kann dann einen Ersatzbaum kaufen.“

Ich war drauf und dran, ihm die Meinung zu sagen: Der Baum würde aus unserem Wald stammen, er könne doch nicht verlangen, daß ich meinen eigenen Baum kaufe und ihm den zweiten kostenfrei überlasse! Und daß ich es nicht gutheißen würde, wenn er sich in einem fremden Wald einfach bediene ...
Jedoch war ich viel zu verwirrt, um klare Worte zu finden, verschüchtert stieß ich lediglich hervor, ich wisse nicht, ob ich genug Geld bei mir hätte.

Ich kramte nach meiner Geldbörse, fand sie auch in einer meiner zahlreichen Jackentaschen und bezahlte tatsächlich meinen eigenen Baum.

Den Dieb ließ ich unbehelligt von dannen ziehen. Allerdings nahm ich mir insgeheim vor, zur Strafe den Gottesdienst mindestens drei Wochen lang nicht zu besuchen.
So geschehen an einem Freitag.
Am darauffolgenden Sonntag saß ich wieder brav hinter Rahels langem, schwarzem Zopf.

Aus: „Halbstark und tüchtig“, Reihe ZEITGUT, Band 17.


zurück»

[Startseite]

Inhalt

Die Orte unserer Weihnachtsgeschichten 8
Alle Jahre wieder 9

Erna Hannemann
1918 – meine schönste Weihnachtsfeier 10
Erna Hannemann
Tante Käthes große Überraschung 15
Ernst Haß
Grünkohl-Weihnachten 17
Bruno Rettelbach
Früh übt sich ... 21
Gerta Kohlmann
Weihnachtsstollen 27
Elisabeth Kirch-Schuster
Der Kaufladen 31
Maria Kühl
Balduin, der Puppenspieler 35
Gertrud-Karola Wolff
Die Weihnachtsgans 43
Adolf Wondrejz
Weihnachten an der Wolchow-Front 46
Irmgard Pondorf
Ein ungewöhnliches Geschenk 53
Friedrich Göhrs
Der Kriegsweihnachtsmann 56
Hildegard Brandt
Retter in der Not 59
Bernadette Schnüttgen
Das Geheimnis von Haus Nr. 37 62
Gretel Hardeland
Die letzte Kriegsweihnacht 67
Hans Döpping
„En avant!“ oder: Der Bettler und die Könige 71
Eckhard Müller
Später Besuch 77
Liselotte Miller
Arm und doch glücklich 81
Gerda Weinert
Ein weißer Weihnachtsmann 87
Inge Vogl
Mein Lied 95
Georg Günther
Die Annonce 98
Benno Schweizer
Heimliche Bescherung 102
Evelyn Steudel
Ein Sack Weihnachtsholz 105
Hans Engels
Das Tretauto 108
Luise Rüth
Großvaters Bescherung 112
Heinrich Schröter
Nur zwei Worte 115
Anneliese Weiss-Müller
Goldene Ringe 116
Dorothea F. Voigtländer
Weihnachten im Keller 119
Wulf Köhn
Blockade-Weihnachten 122
Klaus Seiler
Die Schüssel auf dem Schrank 131
Klaus Seiler
Schlesische Mohnklöße 134
Ernst Haß
Willis Heimkehr 139
Ernst Haß
Gerhard 144
Barbara Weiske
Eine Weihnachtsgeschichte 148
Renate Beitsch
Abgesahnt 152
Brigitte Meyer-Rudat
Drei ganz verschiedene Weihnachtsfeste 156
Bernadette Schnüttgen
Vergebliche Liebesmühe 165
Günther Paffrath
Der Weihnachtsbaumdieb 167
Elisabeth Schmack
Warten auf das Christkind 173

Verfasser 179

zurück»

[Startseite]