Leseprobe


Egon Buddatsch
Abschied von Danzig
Meine Vertreibung und Flucht 1945 - 1946

Broschiert, 152 Seiten,
zahlreiche Abbildungen.
Sammlung der Zeitzeugen (17)
ISBN 978-3-933336-55-2
12,90 EUR

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Der Ring um die Stadt wird enger

Frühjahr 1945. Die russischen Armeen rückten immer näher. Das Unfaßbare war wahr geworden: Bald würde meine Heimatstadt Danzig umzingelt sein, dann gab es keinen Ausweg mehr. Seit der verlorenen Schlacht um Stalingrad im Februar 1943 hatte sich das Kriegsglück gewendet, die vormals so siegreichen deutschen Truppen wurden unaufhaltsam zurückgedrängt und kämpften bereits auf deutschem Boden; im Westen hatten die Amerikaner den Rhein überschritten, die deutschen Städte waren von Bomben zerstört.

Luftaufnahme von meiner Heimatstadt Danzig vor dem Zweiten Weltkrieg. Weit über das Häusermeer ragt die gewaltige Marienkirche mit ihrem 82 Meter hohen Hauptturm. Von Heubude aus grüßte die vertraute Silhouette. In der Bombennacht vom 9. März 1945 und in weiteren Angriffen am 19. und 21. März 1945 versank die Stadt in Schutt und Asche.


Ich war damals 13 Jahre alt und konnte das alles kaum begreifen, zu lange hatten wir an den deutschen Endsieg geglaubt. Hitler würde siegen, das hatte man uns doch immer wieder eingehämmert, im Radio, in der Schule, beim „Jungvolk“. Bis zum Schluß hat man von „Wunderwaffen des Führers“ geredet, welche die Wende herbeiführen würden. Nun waren wir alle zutiefst entmutigt, verbittert, verzweifelt. Die Front kam von Tag zu Tag näher, die Lage für meine Heimatstadt wurde immer bedrohlicher. Niemand glaubte mehr an ein Wunder, an eine Rettung der Stadt.

Das bin ich als 13jähriger. Das letzte Foto vor der Flucht.


Mein Vater war mit einem Teil der Volksschule, an der er unterrichtet hatte, vor den anrückenden Russen und wegen heftiger Fliegerangriffe in den Westen evakuiert worden, wir wußten zunächst nicht, wohin. So war ich mit meiner Mutter, meinem kleineren Bruder, der damals vier Jahre alt war, und meiner Großmutter in unserem Wohnort Heubude bei Danzig zurückgeblieben. Angstvoll lauschten wir den Nachrichten, und ich verfolgte täglich mit einem geheimen Schaudern den Weg der vorrückenden sowjetischen Kampfverbände. Etwas Neues, Gefährliches und Unheimliches war im Anzug, das spürte ich. Nachts hörte man das dumpfe Rollen und Getöse vorbeifahrender Panzer und Geschütze auf ihrem Weg zur Front. Tag und Nacht zog – in entgegengesetzter Richtung – ein Strom von Flüchtlingen mit Pferdewagen, vollbeladen mit ihrem letzten Hab und Gut, aus Ostpreußen gen Westen, um sich vor den Russen zu retten; man hörte von ihnen viele Greuelgeschichten über die Gewalttaten sowjetischer Soldaten in den eroberten Ortschaften. (...)


Die Luftangriffe häuften sich. Sie galten zwar vorwiegend der Stadt Danzig, aber vermehrt fielen auch Bomben auf die Vororte, so auch auf Heubude. Zum Glück befand sich in unserem Haus ein sehr solider Luftschutzkeller. Seine Wände waren durch dicke Betonmauern verstärkt worden, die Decke war durch schwere Balken abgestützt und der Eingang mit einer festen Stahltür versehen worden. So fanden die anderen fünf Familien aus unserem Haus, ja, sogar Leute aus dem Nachbarhaus, einen guten Unterschlupf. Es waren überwiegend Frauen mit Kindern. Die Männer waren irgendwo an der Front mit Ausnahme von drei älteren Männern, die sich sehr umsichtig verhielten und die erregten Frauen zu beruhigen suchten. Sie gingen häufig an die Haustür und erkundeten die Lage. (...)


Meine Mutter hatte Angst. Ich mußte in ihrem Bett schlafen. Draußen hörte man ununterbrochen das Rasseln und Klirren schwerer Panzerketten und das Brummen der Motoren; auf der Landstraße jenseits der Weichsel fanden große Truppenbewegungen statt. Unser Haus lag ganz in der Nähe der Weichsel. Man brauchte nur eine Straße, dann ein Eisenbahngleis und schließlich den Hof eines Nachbarn zu überqueren, dann stand man schon am Ufer des Stromes, der meine Kindheit so stark geprägt hat. Die meisten Fenster unserer Wohnung blickten auf die Weichsel hinaus, und obwohl wir im Parterre wohnten, konnten wir immer etwas vom Fluß sehen, und seien es die Aufbauten und Schornsteine der Dampfer, die vorüberfuhren und deren Namen wir häufig kannten.

Das Foto zeigt meine Mutter als junge Frau. Es ist eines der ganz wenigen, die ich habe retten können.


Unsere Wohnung besaß einen überdachten Balkon und zusätzlich eine Glasveranda, wo wir Kinder – mein älterer Bruder Helmut und der jüngere Bodo – gerne spielten. Von hier konnten wir über die Weichsel blicken, auf die Straße vor unserem Haus und in den kleinen Vorgarten mit Fliederbäumen und Beerensträuchern, der zu unserer Wohnung gehörte. Die vier Zimmer: die „gute Stube“, das Schlafzimmer, das Kinderzimmer und der Raum meiner Großmutter. Alle besaßen große Kachelöfen, die im Winter, der meist sehr kalt war, eine wohlige Wärme ausstrahlten.

Mein liebster Aufenthalt war das Zimmer meiner Großmutter, einer sehr lebenserfahrenen, fleißigen und gütigen Frau, die zumeist strickend in ihrem Sessel am Fenster saß und sich sehr freute, wenn ich sie besuchen kam. Sie hat mir viele spannende Episoden aus der biblischen Geschichte vorgelesen und erklärt. Großmutter besaß eine Muschel, in der man das Meer rauschen hörte. (...)

Diese alte Postkarte zeigt den Strand von Heubude/Ostsee etwa um 1910. Sehr gern lauschte ich den Erzählungen meiner Großmutter von früher.

In der Schreinerei arbeiteten auch zwei russische Kriegsgefangene. Sie interessierten mich sehr, weil sie mit ihren Pelzmützen und ihren abgerissenen Uniformen so fremdartig aussahen. Einer flüsterte mir jedesmal eindringlich zu: „Tipa, Tipa – Brot!“, wobei er mir vorsichtig einen kunstvoll aus Holz geschnitzten Vogel zeigte, den er gegen ein Stück Brot eintauschen wollte. Das durfte aber niemand sehen, weil es streng verboten war. Man durfte keine Kontakte zu einem Kriegsgefangenen haben, das wußten wir Kinder. Dennoch steckte ich dem Gefangenen heimlich einige Roggensemmeln zu, worüber dieser überglücklich war, da er immer einen schrecklichen Hunger hatte. Vorher schaute ich aber zu den Fenstern unseres Hauses empor, ob auch niemand mich beobachtete. Meine Mutter hatte mich vor Frau Zoels, unserer Nachbarin, gewarnt, deren Mann war Blockwart bei der Partei, und sie würde „alles weitermelden“. Aber mir war das eigentlich egal. Das waren meine ersten Begegnungen mit leibhaftigen russischen Soldaten.

Später, als die Russen immer näherkamen, als die Schreckensmeldungen über ihre Greueltaten sich häuften, als wir durch Rundfunkmeldungen, durch viele Plakate, durch die Berichte von den Flüchtlingen und Soldaten hörten, daß die sowjetischen Soldaten raubend, mordend, plündernd, vergewaltigend näherdrangen, da hatte uns längst die Angst gepackt. Inzwischen lagen wir nachts nur noch halbangezogen im Bett, denn die Fliegerangriffe nahmen zu. Wir lagen wach im Bett, lauschten und warteten. Blickte man zur Stadt hinüber, sah man an einzelnen Stellen den Himmel gerötet. Was würde noch alles auf uns zukommen?
„Wollen wir nicht auch lieber flüchten?“ fragte ich meine Mutter an einem jener Tage.
Sie schaute mich ratlos an: „Flüchten? Wohin sollen wir denn flüchten? Es ist doch alles gleich jetzt. Laßt uns nur zusammenbleiben. Mag dann kommen, was da will.“ (...)

Nun wurde es gefährlich, die nötigen Einkäufe zu machen. Die Gefahr hatte eine neue Qualität erreicht. Als ich einmal gerade draußen auf der Straße war, ertönte plötzlich ein dumpfer Laut wie ein Donnerschlag in der Ferne, dann ein hohles Sausen in der Luft,, das zu einem starken Rauschen und Heulen anschwoll, bis ein schreckliches Krachen ertönte. Das mußte ziemlich in der Nähe gewesen sein. Ich hatte mich schnell neben einem Baum zusammengekauert. Eine schwere Granate war irgendwo eingeschlagen. Die Russen begannen, uns mit ihrer weitreichenden Artillerie zu beschießen. Zunächst die Weichselbrücke, die nicht weit von uns entfernt war, und dann die Stadt selbst. In regelmäßigen Abständen hörte man jetzt den dumpfen Abschuß, das hohle Sausen und den harten, schmetternden Knall des Einschlags irgendwo in der Stadt. Die Menschen waren sehr beunruhigt.

Dann folgte die nächste böse Überraschung: russische Tiefflieger. Sie kamen recht behäbig angeflogen und so tief, daß man ihre Hoheitsabzeichen, den roten Stern, deutlich an ihrer Seite erkennen konnte. Und sie schossen mit ihren Maschinengewehren auf alles, was sich bewegte – und das, wo unser Ort so vollgestopft war mit Soldaten und Flüchtlingen! Alle stürzten in die Häuser oder warfen sich auf den Boden, suchten irgendwo Deckung. Ich konnte gerade noch in den Hausflur hasten. Ein furchtbarer Schlag, Staub, Splitter, Qualm. Drei leichtere Fliegerbomben waren auf das Nachbarhaus gefallen, vor dem sich einige Soldaten aufgehalten hatten. Ich blickte vorsichtig hinaus: Ein seltsamer Anblick. Durch die Wucht der Explosionen war von einem Augenblick zum anderen das gesamte Dach abgedeckt worden! Man sah nur noch das nackte Gerüst der Dachbalken!

Die Langgasse mit dem Langgasser Tor in friedlichen Zeiten. Sie war und ist eine der Haupteinkaufsstraßen von Danzig.


Die Geschäfte machten Totalausverkauf – ohne Lebensmittelkarten! Die alte Ordnung galt nicht mehr. Beim Fleischer, beim Kaufmann, im Milchgeschäft, man erhielt von allem, was noch da war, unrationiert. Das war der große Abschied, das war das Ende! Wie sollten wir denn weiterleben, wenn die Geschäfte alle leer waren?

Das war für mich unbegreiflich. Wie gehetztes Wild liefen wir durch die Straßen, von Geschäft zu Geschäft, um schnell noch ein Stück Fleisch, ein Kilo Butter, Mehl, Nudeln und Backwaren nach Hause zu tragen. Anfangs mußten wir diese Dinge noch bezahlen. Aber was bedeutete jetzt Geld? Besaß es überhaupt noch einen Wert? Etwas Eßbares, das war für uns wertvoll, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause!

Ab und zu hörte man den Abschuß eines russischen Ferngeschützes, den fernen Einschlag der Granate, die irgendwo irgendeinem Unheil brachte. Oder es kamen wieder Tiefflieger, und wir suchten in panischer Angst Deckung, preßten uns an den Boden und schlossen die Augen. Ich wollte durchkommen, ich wollte überleben.

Fast unser ganzes Leben spielte sich nun im Keller ab. Es war zu gefährlich, sich tagsüber in der Wohnung aufzuhalten. Die Frauen wagten es zwar, schnell das Mittagessen oben zu kochen, dann aber hockte man wieder unten zusammen und verzehrte das einfache Mahl: Kartoffelflinsen (-puffer) mit Zucker, Erbseneintopf, Kartoffelsuppe oder Weißkohlgemüse; Fleisch war Mangelware. Vor einiger Zeit hatte ich mein letztes Kaninchen, das ich in einem Stall in unserem Keller großgezogen hatte und das mir so liebgeworden war, selber schlachten müssen. Es gab niemanden, der mir diese Arbeit abnehmen konnte. Also, sei ein Mann! sagte ich mir. Aber es war furchtbar für mich, bis ich alles hinter mich gebracht hatte. Sogar das Fell mußte ich selber abziehen. Ich brachte keinen Bissen herunter, und ich habe auch nie wieder Kaninchen essen können. Dann hatte jemand aus der Nachbarschaft ein Pferd geschlachtet, alle bekamen ein Stück ab. Nur mit großem Widerwillen aß ich von dem süßlich schmeckenden Fleisch. (...)

An einem ruhigeren Tag war meine Mutter noch einmal in der Stadt gewesen, um ihre Mutter und ihre Schwester zu sehen, die zusammen in einer Wohnung lebten. Sie kehrte ganz erschüttert zurück und erzählte mit tonloser Stimme, was sie gesehen hatte: „Man hat eine Anzahl von Deserteuren an den Bäumen der Hindenburg-Allee aufgehängt, alle in einer Reihe. Und alle trugen ein Schild auf der Brust: ,Ich war feige vor dem Feind!’ Sogar ein ganz junger war dabei. Es hätte unser Helmut sein können ...!“ (...)

Mutter und ich vermißten meinen großen Bruder Helmut sehr. Er war 1944 als Panzergrenadier an der Ostfront, in Kurland, eingesetzt.


Mehrere Verwandte mit vollgepackten Rucksäcken waren gekommen, die ebenfalls in einem der Vororte von Danzig gewohnt hatten: „Packt schnell ein paar Sachen und kommt mit. Wir gehen nach Plehndorf, wo noch Schiffe nach dem Westen abfahren. Kommt! Kommt! Die Russen sind schon ganz nah!“

Meine Mutter war völlig ratlos. „Ich kann doch nicht alles im Stich lassen! Und die zwei Kinder? Und wo soll Hermann (mein Vater) uns dann finden?“
Trotz guten Zuredens konnte sie sich nicht zu dem schwerwiegenden Entschluß durchringen, alles stehen- und liegen zu lassen und zu fliehen. Resigniert und niedergeschlagen zogen die anderen weiter.

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Inhalt
»Abschied von Danzig«

Vorwort 9

Letzte Kriegstage in Danzig
Der Ring um die Stadt wird enger 10
Verheerender Bombenangriff 20
Das schreckliche Unglück 26
Einmarsch der Russen 38
Flucht durch die brennende Stadt 40
„Wir sind die letzten!“ 45

Danzig nach dem Sieg der Russen
Heimkehr – Neue Bleibe und gefährliche Spiele 48
Erneuter Auszug aus dem Heimatdorf 58
Ankunft der polnischen Miliz 64
Wieder ein neues Obdach für mich 69
Auf dem „schwarzen Markt“ in Danzig 77

Unterwegs gen Westen
Wir müssen raus – Abschied von der Heimat 83
„Schiebt, Kinder, schiebt!“ 86
Ein böser Zwischenfall 91
Wir überschreiten die neue polnische Grenze 93

In Berlin
Ankunft und Abschied 98
Quarantäne 100
Im Kloster St. Katharinen-Stift 105
Eine Lehre oder Besuch der höheren Schule? 111
Erika – ein guter Stern 119

Ein neues Leben beginnt
Mein Wiedersehen mit dem Vater 123
Beschauliches Leben am Meer 126
Unsere Übersiedlung ins Rheinland 128

Besuch der alten Heimat 1976 131
Nachwort 142