Leseproben

Unvergessene Ferienzeit
Erinnerungen an Sommerfrische, Urlaub
und Freizeit. 1923-1962

32 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen
ausgewählt aus Zeitgut-Bänden.
Ortsregister, Chronik.
Taschenbuch.
ISBN 3-86614-102-5
6,90 EUR

Leserstimmen »


Viel Spaß beim Lesen
Edith Rabe, Wir konnten uns nur zuwinken
Ingeborg Werneken, O mia bella Napoli
Ursula Meier-Limberg, Mein Freund Klaus


[Markgrafenheide und Warnemünde bei Rostock
- Gedser - Kopenhagen; Sommer 1960]

Edith Rabe
Wir konnten uns nur zuwinken

Ich befinde mich an Deck des Motorschiffes „Seebad Ahlbeck", das Kurs auf die dänische Insel Falster nimmt. Langsam entschwindet meinen Blicken der Hafen von Warnemünde, die Silhouette der Stadt. Bald schon ist ringsherum nur noch Wasser. Daß das Land aber nicht fern ist, zeigen die Möwen an, die unser Schiff immer noch umkreisen.

Ich laufe zum Bug des Schiffes und spähe gespannt in die Ferne. Ist Dänemark schon in Sicht? Angestrengt suchen meine Augen das Meer ab. Endlich taucht am Horizont, zuerst nur schemenhaft, die Insel Falster auf. Langsam nähert sich das Schiff dem dänischen Hafen Gedser, meinem Reiseziel. Vor drei Wochen bin ich mit meiner Seminargruppe des Lehrerbildungsinstitutes Leipzig ins GST-Zeltlager*) nach Markgrafenheide an der Ostsee gekommen. Ich bin zum ersten


GST-Zeltlager in Markgrafenheide bei Warnemünde. In der Mitte, mit Brille, das bin ich.


Mal am Meer. In jeder freien Minute gehe ich zum Strand, wenn es warm ist, im Bikini, um mich den Wellen entgegenzuwerfen, oder an kühlen Tagen im Seemannspullover, um ferne Schiffe zu beobachten. Als es hieß, daß eine Fahrt mit einem Motorschiff bevorstehe, habe ich mich riesig gefreut. Doch jetzt, da wir der dänischen Küste entgegenschippern, mischt sich in den Jubel Wehmut, denn in Gedser dürfen wir nicht von Bord gehen. DDR-Bürgern ist es verwehrt, den Fuß in ein westliches Land zu setzen. Wer Geld und etwas Glück hat, kann im Reisebüro einen Urlaubsplatz in einem osteuropäischen Staat ergattern. Ich habe beides nicht. Außerdem will ich nicht nur in ein „erlaubtes Land" reisen. Mir haben es jene Länder angetan, die für uns unerreichbar sind. Daher habe ich begonnen, Ansichtskarten zu sammeln, die uns unsere westdeutschen Verwandten von überall her zuschicken. Inzwischen besitze ich eine stattliche Anzahl. Im Zeltlager kam mir die Idee, wie ich die Schiffsreise nutzen kann, um meine Sammlung zu vergrößern. In eine leere Streichholzschachtel habe ich einen kleinen, mehrfach zusammengefalteten Zettel gelegt mit meiner Anschrift und der Bitte an den Finder, mir doch eine Karte aus Dänemark zu schicken.


Im Jahre 1960 konnten wir DDR-Bürger zwar noch mit dem Schiff nach Gedser fahren, von Bord gehen durften wir jedoch nicht.

Voller Erwartung blicke ich jetzt dem Hafen Gedser entgegen und halte dabei meine Schachtel, die ich mit einem kleinen Stein beschwert habe, krampfhaft fest. Am Anlegeplatz stehen viele Menschen. Wie auf Verabredung winken sich die Leute zu. Als das Schiff endlich fest verankert im Hafenbecken liegt, versuche ich, Kontakt zu den Menschen aufzunehmen. Ich gebe zu verstehen, daß ich Ansichtskarten sammle und werfe meine Schachtel in die Menge. Ich habe Glück, durch den Stein gewichtig geworden, fällt sie nicht ins Hafenbecken, sondern fliegt hinüber und landet bei einem jungen Mann, der sie geschickt auffängt. Am Ufer und auf dem Schiff entsteht jetzt Bewegung, andere wiederholen, was ich vorgemacht habe. Ich bin nicht die einzige, die auf diese Weise Verbindung zu den Menschen am Kai sucht. Doch meine Stimmung, bis jetzt von Heiterkeit geprägt, wird zunehmend bedrückter, je länger ich den Promenierenden vom Schiff aus zusehe. Viele deutsche Touristen sind darunter. Wir sprechen dieselbe Sprache und dürfen trotzdem nicht das gleiche tun. Sie gehen an Land spazieren, doch wir müssen an Bord bleiben. Bevor ich noch lange darüber nachdenken kann, legt unser Schiff schon wieder ab. Ein letztes Winken und Zurufen, dann entschwindet die dänische Küste ganz langsam meinen Blicken.

Wieder zu Hause, wartet tatsächlich eine Ansichtskarte aus Kopenhagen auf mich. Die erste farbige, große Karte für meine Sammlung! Immer wieder betrachte ich sie. Auf der Rückseite steht geschrieben:

Viele Grüße aus Dänemark sendet Ihnen Theo Weber. Ich konnte Ihnen leider an der Kaimauer nur zuwinken ...

Einmal in diese faszinierende Stadt reisen, das ist mein größter Wunsch. Ein paar Tage später treffen noch zwei Karten aus Gedser sowie zwei Fotos ein, die der freundliche Absender von unserem Schiff gemacht hat.

Im Sommer 1990, fast auf den Tag genau dreißig Jahre später, erfüllt sich mein Traum. Nach der Währungsunion buche ich bei einem Busunternehmen für 99 DM eine Fahrt nach Kopenhagen. Gegen Abend steige ich in Vetschau in den Bus. Von Warnemünde geht es mit der Fähre bis Gedser und von dort weiter mit dem Bus bis Kopenhagen.

Als ich dann auf dem Rathausplatz von Kopenhagen stehe, den ich bisher nur von der alten Ansichtskarte her kenne, kann ich mein Glück kaum fassen. Eine Stadtrundfahrt führt mich anschließend zu weiteren Sehenswürdigkeiten. Am späten Nachmittag sitze ich erschöpft wieder im Bus, lasse erst Kopenhagen, dann Gedser hinter mir. In der Abendsonne geht es mit der Fähre zurück nach Warnemünde. Am nächsten Morgen, gegen vier Uhr, komme ich zu Hause an, todmüde, aber glücklich.

*) Gesellschaft für Sport und Technik: 1952 gegründete Massenorganisation der DDR zur vormilitärischen und wehrsportlichen Erziehung und Ausbildung.

Aus: „Von hier nach drüben", Reihe ZEITGUT, Band 11.

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[Oldenburg - Neapel, Italien; 1955/56]

Ingeborg Werneken
O mia bella Napoli

Als nach dem großen Kriege zehn Jahre vergangen waren, hatten die Deutschen wieder ein Dach über dem Kopf und sich so richtig satt gegessen, so daß sie begannen, nach neuen Genüssen Ausschau zu halten. Schicke Kleidchen wippten über Petticoats und das „Pferdeschwänzchen", die neue Haartracht, wehte im Wind, wenn die Teenager-Girls sich fest an ihre Boys klemmend mit Tempo 60 auf ihren Motorrollern durch die Straßen brausten. Etwas ältere Semester, wie wir, gesetzt und mit Familie, dachten an ein Auto, ein kleines. Eines Tages stand tatsächlich ein „Käfer", kaum 100.000 Kilometer auf dem Buckel, vor unserer Haustür.

Dann brach das Reisefieber aus. Aus den neuen Radios erklang „O mia bella Napoli" und „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt" und die Germanen starrten wie 2000 Jahre vordem ihre Vorfahren, gebannt auf Bella Italia, denn „Kennst du das Land ..." hatte schon Goethe gefragt. Die erste Blechlawine setzte sich in Gang über die damals noch nicht untertunnelten Berge, rastlos über Schotterstraßen, vorbei an ungeschützten Steilhängen über die Alpen, wie weiland Hannibal mit seinen Elefanten.

In Italien brach die große Freude aus. Campingplätze wurden angelegt, die ersten Bettenburgen, drei bis vier Stockwerke hoch, reckten sich gen Himmel. Und wenn abends beim Mandolinenklang die Nachbarn aus dem kalten Norden es gar so schlimm trieben in trunkener und ungewohnter Weinseligkeit, sprach man hinter vorgehaltener Hand schon mal vom „Furor(e) Teutonicus", denn seit 2000 Jahren hatten die zarten und feinsinnigen Südländer den Sturm, der damals über sie hinwegbrauste, nicht vergessen.

Meine beiden Töchter vor einem Kiosk in Italien mit einem Mickymaus-Heft auf Italienisch.

Um mehr und immer mehr dieser blonden Riesen ins Land zu locken -und lange bevor der Teutonengrill an der Adria Wirklichkeit wurde - gab man Benzingutscheine aus, die den kostbaren Treibstoff ins gelobte Land verbilligten, während die Eingeborenen zähneknirschend einen hohen Preis zahlen mußten. Und - man kennt das ja bei diesen Südländern - sie waren ohne Maß und Ziel und verschwendeten die Marken mit vollen Händen. Daraus entwickelte sich eine Art „Geschäft", von Nutzen für beide Seiten: Man brauchte bei der Reiseplanung nur „vier Wochen Sizilien" anzumelden, um verbilligte Bons für 3000 Kilometer zu erhalten. Tatsächlich fuhr man nur bis zum Gardasee und verkaufte die überflüssigen 2000-Kilometer-Marken mit Aufpreis an die schon wartenden Italiener. So mancher deutsche Urlauber finanzierte auf diese Art einen Teil seines Urlaubs. O bella Italia!

Wir gehörten selbstverständlich nicht zu jener Sorte von Zeitgenossen. Oh nein, wir fuhren bis Neapel und hatten, na sagen wir mal, Marken bis Salerno. Reine Vorsorge, versteht sich. Man benötigte ja auch Benzin zum Hin- und Herfahren, denn ich mochte keine Stadt verlassen, ehe ich nicht sämtliche Kirchen und Museen von innen bestaunt, jeden Marktplatz besichtigt und an jeder Ausgrabungsstätte heimlich gebuddelt hatte. Zum Leidwesen unserer beiden Töchterchen, deren kleine Beinchen manchmal nicht mehr mitlaufen wollten.

So zogen wir träumenden Herzens, den alten VW bis übers Dach beladen mit Zelt, Gaskocher, Bettwäsche und zwei kleinen Blondschöpfen, auch im Jahr 1956 durch das gelobte Land voller Sonne, Wärme, Wein und Papagalli immer weiter nach Süden. Wir kamen nach Herculaneum, und besichtigten dann die Ausgrabungen in Pompej. In das berühmte Freudenhaus mit den obszönen _ heute nennt man das erotisch _ Wandmalereien durften nur die Männer eintreten, ich mußte vor der Tür bleiben, die Kinder natürlich auch. Alles ging gesittet zu, niemand wäre im Badeanzug in den Speisesaal oder über die Straße gegangen, und für Besichtigungen hatte man seine Sonntagskleidung mit.

„Neapel sehen und dann sterben" - heißt es. Ein besonderes Andenken sollte mich zehn Jahre lang an unseren Urlaub 1956 erinnern.

In Napoli, wo der Vesuv gerade „streikte" und die berühmte Rauchfahne nicht über der Bucht stand, wollte ich wenigstens das vielbesungene „Santa Lucia" sehen, das Hafenviertel. Ich ahnte ja nicht, was uns dort erwartete: Hütten aus Blech und Pappe, bettelnde Kinder, Steinwürfe und Schwarzhändler - späte Kriegsfolgen.

Zwei Uhren wollte man uns verkaufen, eine für Papa und eine für Mama, natürlich aus echtem Gold. Diese Spangenuhr sah wirklich picobello aus, aber 50 Mark waren damals viel Geld. Und überhaupt hatten wir ja unsere Prinzipien: wir kaufen doch keine keine illegale Ware!

Doch als wir mit Müh' und Not und vielfachem „No, no, no!" endlich wieder im Wagen saßen, steckten diese Unermüdlichen, Aufdringlichen ihre schwarzgelockten Schöpfe ins geöffnete Autofenster und flüsterten „Benzinbon".

Was soll ich sagen? Mindestens zehn Jahre hatte ich Freude an meiner „echt goldenen" Spangenuhr, wenn sie auch von Jahr zu Jahr silberner wurde. Aber was soll's, Gold vergeht, Erinnerung bleibt. O mia bella Napoli!


Aus: „Deutschland - Wunderland", Reihe ZEITGUT, Band 18.

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[Brüssow, Uckermark;1936]

Ursula Meier-Limberg
Mein Freund Klaus

Mit zwölf Jahren hatte ich meinen ersten Freund. Er hieß Klaus und kam jeden Sommer in den Ferien aus Berlin zu seiner Tante Mieze. Sie war Mutters Freundin, deshalb nannte auch ich sie Tante. Klaus war wie ich eine Wasserratte. Und so zogen wir jeden Tag mit Badetasche und einem Paket Butterbrote an den Großen Brüssower See.

Klaus war anders als meine alten Schulkameraden. Er konnte und wußte alles, er neckte mich nicht, er zog nicht an meinen Zöpfen, und er dümpelte mich nie im Wasser. Er sagte auch nie zu mir: „Du bist doof.“ Er ging schon fünf Jahre aufs Gymnasium. Meine Umschulung aufs Lyzeum in Prenzlau hatte wegen Großmutters Tod nicht stattgefunden, denn ich hatte ja bei ihr wohnen sollen.

Klaus machte mich auf viele schöne Dinge aufmerksam. So sah ich unseren See plötzlich mit ganz anderen Augen. Jeden Tag hatte er ein anderes Gesicht. Mal war er tiefgrün, mal grau, dann wieder schwarz und unheimlich. Manchmal meinten wir, auf dem Grund funkelnde Edelsteine zu erkennen. Wenn wir morgens sehr früh zum Schwimmen gingen und erst wenige Menschen am See waren, konnten wir hören, wie das Wasser rauschte und beim Aufschlag der Wellen an den Laufsteg gluckste.
„Hörst du“, sagte dann Klaus, „jetzt will der See mit uns sprechen.“

Sommer 1936: Das bin ich nach dem Schwimmen im Bademantel. Ich war ebenso wie mein Freund Klaus eine Wasserratte.

Manchmal spielten wir Wolkenbildersuchen und freuten uns, wenn jeder dasselbe Bild sah.

Wir schwammen fast jeden Tag über den See. Das war weit und dauerte fast 45 Minuten. Zurück liefen wir meistens durch den Park. Wenn wir Glück hatten, nahm uns auch schon mal der Fischer mit seinem Kahn mit. Dann bekam ich einen Kranz aus Seerosen, denn schwimmend konnten wir sie nicht erreichen, da es zu gefährlich war, sich in ihnen zu verfangen. Es gab nichts, was unsere Harmonie störte. Wir waren mit allem in Einklang.

Doch dann geschah etwas Unfaßbares. Klaus wurde an einem wunderschönen, sonnigen Tag mit großem Gebrüll aus der Badeanstalt geworfen. „Du Judenlümmel hast hier nichts zu suchen!“

Ich verstand überhaupt nichts. Was war hier los? Wieso „Judenlümmel“?
Ich schrie zurück: „Er hat euch doch nichts getan!“
Klaus nahm seine Sachen und ging, ohne ein Wort zu erwidern. Außerhalb der Badeanstalt setzte er sich auf die Wiese, den Kopf in beide Hände gestützt. Dann beschimpfte man mich, daß ich als deutsches Mädchen mich „mit so einem“ abgebe.

Ich lief zu Klaus, setzte mich zu ihm ins Gras und wußte nicht, was ich machen sollte. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen. Aber die Scheu vor solcher Zärtlichkeit war zu groß. Schließlich gingen wir nach Hause – Hand in Hand, zum ersten Mal.

Am nächsten Tag war Klaus abgereist.

Der Große Brüssower See, über den wir in den Sommerferien fast täglich schwammen. Die Zöpfe steckten unter Badekappen. Die in der Mitte (Kreuz) bin ich zusammen mit Schulfreundinnen.

Wenig später stand im „Stürmer“, der verrufensten Zeitung der Nazis: „Ein deutsches Mädchen, U. L., schwamm mit einem Judenlümmel über den Brüssower Großen See.“
Dies war der erste Schatten, der auf mein junges und bisher unbeschwertes Leben fiel.

Vater konnte mir auch nicht erklären, was ein Jude sei. Ich solle dem lieben Gott danken, daß ich keine Jüdin sei, und ihn bitten, Klaus beizustehen. Ich erfuhr dann, daß Klaus einen jüdischen Vater hatte, seine Mutter aus Brüssow, unserem Heimatort, stammte und Christin war.

Ich verstand das alles nicht. Ich fragte immer wieder, aber ich hatte den Eindruck, daß niemand so recht wußte, was ein Jude sei. Ich hörte immer nur, die seien eben anders. Sie seien schuld am Ersten Weltkrieg gewesen, sie seien schuld an der Arbeitslosigkeit und so weiter. Vater meinte, daß es immer noch Menschen gebe, die den Juden böse seien, weil diese Jesus Christus gekreuzigt hätten.
„Ja, aber das ist doch so lange her, damit hat Klaus doch nichts mehr zu tun!“ warf ich ein.

Mit diesem traurigem Erlebnis ging meine wunderschöne Kindheit zu Ende. Kurz darauf kam ich auf eine weiterführende Schule und war nur noch in den Ferien zu Hause. Die Sehnsucht nach meinem kleinen Heimatort und die Erinnerung an Klaus sind bis heute geblieben.

Aus: „Pimpfe, Mädels & andere Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 4.

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