Leseprobe

Von der Waterkant ins Frankenland
Walter Knevelkamp
Erinnerungen eines Bremer Bürgers
1907 - 1965

Broschiert, 232 Seiten, zahlreiche Fotos
Sammlung der Zeitzeugen (27)
ISBN 3-933336-76-7
16,80 EUR


Leseproben aus »Von der Waterkant ins Frankenland«

Zwischen Germaniastraße und Am Wall (Bremen 1911 - 1916)
Sippschaftsbande (Bremen)
Revolution (Bremen 1918)
Kaufmännischer Angestellter in Stuttgart (1926 - 1930)
Abitur und Studium (1930 - 1935)
Hilfskassenarzt in Dachsbach (1935 - 1940)
Rekrut (1941)
Landarzt (ab 1946)

[zum kompletten Inhaltsverzeichnis]



Zwischen Germaniastraße und Am Wall
(Bremen 1911 - 1916)

Noch vor meinem vierten Geburtstag kam es zu einer wesentlichen Veränderung in unserem Familienleben. Wir bezogen abermals ein neues Zuhause.

Da sich die Anwesenheit eines vierten Kindes immer stärker bemerkbar machte und die Wohnung in der Kielstraße aus allen Nähten platzte, kam es im April des Jahres 1911 zum Umzug in die Germaniastraße. Den Umzugstag verbrachten wir bei der »Oma am Wall«, wie wir unsere Großmutter väterlicherseits nannten. Das Haus mit der Nummer 24 wurde von nun an zu unserem festen Familiensitz.

Damit ich nicht nur einfach Straßennamen dahinwerfe und geschilderte Wohnverhältnisse unverstanden bleiben, muß ich an dieser Stelle einige Sätze vorausschicken. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die im 17. Jahrhundert errichteten mächtigen Bollwerke der Wallanlagen geschleift und in Grünanlagen umgewandelt. Die engen mittelalterlichen Grenzen der auf einem Dünensaum gelegenen Altstadt wurden überwunden und eine Vorstadt erschlossen, die in ihrer Größe den alten Kern bald weit übertreffen sollte.

Die innere Bremer Altstadt mit dem Dom, vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.

Zum vornehmsten Viertel entwickelte sich die östliche Vorstadt. Die Hopfenstraße, in der meine Eltern zuerst gewohnt hatten, lag in der nördlichen Vorstadt, nahe dem Bahnhof. Die sehr nah am Hafen befindliche Coblenzer Straße sowie die näher am Stadtzentrum gelegenen Häuserzüge der Kielstraße und der Germaniastraße, die parallel zur Kielstraße verlief, gehörten allesamt zur westlichen Vorstadt, einem »Neubauviertel« mit hohem Arbeiteranteil in den äußeren Bezirken. Von den aufgeführten Straßen war die Kielstraße die älteste. Sie war zwischen 1870 und 1875 angelegt worden. Die meisten Häuser in der Germaniastraße stammten aus der Zeit um die Jahrhundertwende, und unseres gehörte dem Brüderpaar Dannheim, das ganz oben wohnte. Eine Tochter von einem der Brüder war nach Amerika ausgewandert. Die Brüder selbst starben noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs rasch nacheinander.

Die Vorstadt wurde – dem damaligen bürgerlichen Bremer Sinn nach persönlicher Freiheit, Eigentum und Privatsphäre entsprechend – nicht wie andernorts üblich mit hochragenden, trostlosen Mietskasernen, sondern mit niedrigen Einfamilien-Reihenhäusern bebaut, dem »Bremer Haus«. Alle Häuser, die wir bewohnten, waren Gebäude dieses Typs.

Die Häuser in der Germaniastraße waren zweigeschossig und besaßen eine dreifenstrige Straßenfassade mit einem Eingang, Veranda und Vorgarten. Hinter dem Haus befand sich ein Hofraum. Da die Vorstadt nicht wie die Altstadt erhöht auf Dünen lag, verschwand der Keller straßenseitig wegen der Feuchtigkeit nur zur Hälfte im Erdreich, während er auf der Rückseite des Hauses meist ebenerdig und völlig frei lag. So entstand das Souterrain, in dem die Wirtschaftsräume, Waschküche, Küche und dergleichen lagen, während sich in den oberen zwei Stockwerken die Wohn- und Schlafräume befanden.
Wenn zur Erleichterung des Hauskaufs Stockwerke an Mieter abgegeben werden mußten, wurde aus dem »Bremer Haus« ein sogenanntes Bremer Zweifamilienhaus, das naturgemäß über keine abgetrennten Wohnungen verfügte. Das idyllische Straßenbild der Germaniastraße mit den schmucken Fassaden, den Glasveranden und den gepflegten Vorgärten war ein Spiegelbild der Lebensphilosophie des fest verwurzelten, abgeklärten und zufriedenen Bürgertums, das in völligem Einklang mit sich und der Umwelt lebte.

Wenn ich heute zurückblicke, erscheint mir die Zeit bis zum Hungerwinter 1916/17 als die glücklichste und unbefangenste Zeit meines Lebens.

Die Kinder aus der Germaniastraße. An Spielkameraden herrschte kein Mangel. Sooft es ging, hielten wir uns im Freien auf und verwandelten die Straße in unseren Spielplatz. Ich sitze auf den Schultern von Hans Hofmeyer, fünfter von rechts. Mein Bruder Hans ist der zweite stehende Junge von links. Das Foto, aufgenommen auf einem kleinen Platz neben der Glaserei Wolters, stammt aus dem Kriegsjahr 1915, als wir wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage Holzpantoffeln tragen mußten, um Lederschuhe zu sparen.

Ich sehe uns Kinder in unserem Hof, der eigentlich mehr ein Garten war, spielen. Es stand ein Birnbaum in der Mitte, ein Spalierbirnbaum an der Seite und ein Sauerkirschbaum in der Ecke. Die Birnen hießen »Napoleonsbutterbirnen«, konnten erst im Oktober gepflückt werden und brauchten dann noch zur Reife einige Lagerzeit. Meine Mutter kochte oder weckte sie gerne mit Vanillestangen ein. (...)

Wie unbeschwert fröhlich wir doch waren! Da liege ich mit meiner Schwester Edith im Bett. Lachend sprachen wir zusammen: »Großmama und Großpapa liegen in dem Bette, drehen sich den Pupsteert zu, knallen um die Wette!«, wobei wir uns dann jeweils den Rücken mit Schwung zudrehten.
Oder ich sehe uns noch Arm in Arm zur Doventorscontrescarpe gehen, dabei fröhlich singend: «Braut und Bräutigam, Braut und Bräutigam.« Meine Schwester wird knapp drei und ich noch nicht sechs gewesen sein. Der dort postierte Schutzmann im blauen Rock und mit Pickelhaube lachte uns an.

Blick auf die Eisenbahnüberquerung an der Ecke Hafenstraße/Contrescarpe. Im Hintergrund ist die Mühle am Doventor zu sehen, die bis zum Ersten Weltkrieg noch in Betrieb war und später abgerissen wurde.

Einmal ging meine Schwester verloren, als wir an der bekannten Spielecke Germaniastraße/Krautstraße spielten. Auf den Stufen der doch ziemlich weit entfernten Michaeliskirche wurde sie von Passanten gefunden. Zu dieser Zeit gab man verirrte Kinder bei der nächsten Polizeiwache ab, und so kam auch meine Schwester wohlbehalten wieder nach Hause. (...)

Die Straße Am Wall gehörte bis in die dreißiger Jahre zu den vornehmbürgerlichen Adressen der Hansestadt. Auch die Großmutter väterlicherseits, meine »Oma am Wall«, wohnte hier.

Dem feuchten Element war unser Vater als Küstenstädter zugetan, aber als Spaziergänger geriet er zum Fanatiker. Am Sonntagnachmittag mußte bei passendem Wetter unbedingt ausgeflogen werden. Unter der Woche ging Papa Knevelkamp den »Bremer Nachrichten« mit spitzer Schere an den Leib und schnitt jeden Spazier- und Wandervorschlag aus. Nach diesen preiswerten Führern wanderten wir dann. Einkehren war purer Luxus, und die Straßenbahn mußte meist genügen, um in die Natur zu kommen. Gelegentlich nahmen wir den Zug, natürlich nur die vierte Klasse. In irgendeiner Wirtschaft – es muß auf einem Sonntagsausflug in den Jahren 1914 bis 1916 gewesen sein – staunten wir über den Preis von einer Silbermark für ein Schinkenbrot.

Familie Knevelkamp auf Sonntagsausflug am Hollersee im Bremer Bürgerpark 1915. Der Berufslichtbildner, der am Sonntagnachmittag auf Kundenfang ging, forderte die anderen Spaziergänger auf, sich umzudrehen, was sie gefälligerweise taten.

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Sippschaftsbande (Bremen)

(...) Bremen war ein bedeutender Auswandererhafen. Auch in meiner Familie befanden sich Menschen, die der alten Heimat den Rücken kehrten. Es war zur Zeit des berühmt-berüchtigten kalifornischen Goldrausches. Nach den Erzählungen meiner Mutter hatte ihr Vater noch einen Bruder. Ein Vetter von ihnen aus Geestemünde hatte in Kalifornien Gold geschürft. Er hatte wohl mehr Glück als Verstand, denn er war, wie man hörte, als reicher Mann zurückgekehrt. Als dem Bruder die Geschichte zu Ohren kam, überlegte er nicht lange. Er entschloß sich, es ebenfalls zu wagen. Hastig schnürte er sein Bündel und schiffte sich mit den wenigen Habseligkeiten in die Neue Welt ein. Aber er kehrte nicht als reicher Mann zurück. Nie wieder hörte man etwas von ihm. Um sein Schicksal zu erahnen, bedarf es keiner großen Phantasie. Es genügt, sich nur einen der vielen Hollywoodwestern vor Augen zu führen, und es liegt auf der Hand, wie der verschollene Bruder bei seiner Goldsuche geendet haben mag. In welcher fremden Erde fernab der Heimat wird sein Leichnam mitsamt den Träumen und Hoffnungen auf Wohlstand wohl begraben worden sein?

Die historische Postkarte zeigt den Freihafen von Bremen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bremen war – neben Hamburg – der wichtigste deutsche Auswandererhafen. Von hier aus begaben sich jährlich Zehntausende von Menschen auf den Seeweg in die Neue Welt.

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Revolution (Bremen 1918)

(...) Die letzte Stunde einer »goldenen« Epoche hatte geschlagen. Ihre Uhr war abgelaufen, kaum daß sie richtig aufgezogen worden wäre. Überall war der Sturz des Kaisers als Bedingung der Entente für den Frieden bekannt. Begonnen hatte die Revolte, als die deutsche Hochseeflotte sich in einem letzten verzweifelten Versuch der erdrückenden Übermacht der englischen Seestreitkräfte stellen sollte. Die Matrosen meuterten, und überall im Kaiserreich brachen Unruhen aus.
Der Putsch verlief in Bremen glimpflicher und unblutiger als in anderen Städten wie beispielsweise München. Rufe nach Massenerschießungen wurden in den Reihen der falschen Propheten zwar vereinzelt erhoben, verhallten aber glücklicherweise ungehört. Im täglichen Leben bemerkte man erstaunlich wenig von der Novemberrevolte. Manchmal fuhr ein Lastwagen vorbei, der anstelle nützlicher Dinge rote Fahnenschwenker geladen hatte. Es gab Aufläufe und Versammlungen. Viele fühlten sich zum Politiker berufen und versuchten in Hetztiraden die Massen zu begeistern. Aber noch hatte der unangefochtene Großmeister dieser Zunft die Bühne nicht betreten, noch öffnete sich der Vorhang zum letzten Akt des Dramas nicht, das allerlei bunte Farben von Blutrot bis Kotbraun anbot, aber niemals mehr das Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreichs.

Auf dem Spielplatz in der Nordstraße, ganz in unserer Nähe, kam es am 7. November, einen Tag nach dem Ausbruch der Unruhen, zu einer großen Versammlung. Eine Kapelle spielte. Am Vormittag des 15. November etablierten sich die selbsternannten Räte im Rathaus – die Wortführer hatten sich in einigen Betrieben per Akklamation bestätigen lassen –, und einige Revolutionäre gerieten regelrecht ins Schwitzen, als sie sich abmühten, auf dem Altan des altehrwürdigen Rathauses die blutrote Fahne anzubringen.

In den folgenden Wochen kamen überall die Truppen aus dem Felde zurück. In Bremen kehrte zunächst, am 11. Dezember 1918, das im Herbst 1914 aufgestellte Reserve-Infanterieregiment 213 heim. Ich stand damals im Gedränge am Domshof. Das aktive I. Infanterieregiment 75 kam später, am 1. Januar 1919, und da stand ich dann beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal, das sich damals noch beim alten Rathaus befand und später, im Zweiten Weltkrieg, eingeschmolzen wurde. Eine Kapelle spielte das Deutschlandlied.

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Kaufmännischer Angestellter in Stuttgart (1926 - 1930)


(...) Die Wirtschaftslage war durch die sogenannte Deflation in ganz Deutschland trostlos. Zum 1. Juni 1926 fand ich endlich im weit entfernten Stuttgart eine Stellung in einer Lederwarenhandlung, die allerdings von Anfang an wiederum nichts Gutes verhieß. Der Mitinhaber – er nannte sich Messinger und war knapp 30 Jahre alt – versuchte sich mehr schlecht denn recht als Finanzmakler. Er war in London und in Belgien gewesen, sprach englisch und französisch und diktierte mir seine Korrespondenz in diesen Sprachen. (...)

Nachdem auch bei der Firma Messinger kein Glück zu machen war, verzweifelte ich vollends. Auf die Idee, zum Arbeitsamt zu gehen und Arbeitslosenunterstützung zu verlangen, kam ich nicht. Ohnehin war die Arbeitslosenunterstützung damals zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig.
Ein Brief an die Eltern, in dem ich mitteilte, daß ich heimkehren würde, war zur Post gebracht und der Koffer schon gepackt, als ich mit Gottes Hilfe und durch Vermittlung eine Stelle fand.
Mein neuer Brötchengeber war die Firma Kleemanns Vereinigte Fabriken in Stuttgart-Obertürkheim. Bei Messinger hatte ich ein Gehalt von 200 Mark bezogen. Kleemann bot mir nur 150 Mark an. Ich war willig, zu jedem Preis zu arbeiten, wenn das Geld nur reichte, um mich durchzuschlagen.

Im Hof der Maschinenbaufirma und Eisengießerei Kleemann in Stuttgart-Obertürkheim 1929, wo ich als Fremdsprachen-korrespondent beschäftigt war. Ich stehe rechts an der Leiter.

Am 1. Februar 1927 fing ich an. Der Firma fehlte ein Fremdsprachenkorrespondent, und ich gab mir außerordentlich große Mühe, saubere Briefe in deutsch, englisch, französisch und spanisch zu schreiben. Als mir zu Ohren kam, daß der Mitinhaber Willy Kleemann einige Zeit in Südamerika verbracht hatte, beeilte ich mich, die Stolze-Schrey-Kurzschrift in spanisch zu erlernen. Aber seine Sprachkenntnisse reichten gerade aus, um die fremdsprachliche Korrespondenz zu überfliegen und grob zu verstehen, jedoch nicht, um zu diktieren. Nach zwei oder drei Wochen ließ mich mein neuer Chef rufen. Ich wußte zuerst nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Mir schwante Übles. Erleichtert vernahm ich die erlösenden Worte, daß er mein Salär auf 170 Mark aufbessern werde.

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Abitur und Studium (1930 - 1935)

(...) In meiner Freude schrieb ich den Eltern, daß ich das Abitur nachgeholt hätte, nun die Universität besuchen und das Studium der Medizin ergreifen würde. Auf die Antwort von zu Hause mußte ich nicht lange warten. Sofort fand ich einen Brief meines Vaters in der Post. Es war ein Brandbrief. Er zeigte sich geradezu erschrocken über mein Vorhaben und riet mir energisch ab, solcherlei hochgesteckte Plänen zu verfolgen. Seiner Meinung nach sollte ich froh über die gute Stellung bei Kleemann sein und sie auf keinen Fall aufgeben. Zwischen den Zeilen stand deutlich geschrieben, daß seine größte Sorge darin bestand, ich könnte Unterstützung einfordern. Geld von zu Hause wäre mir gewiß nicht unangenehm gewesen, aber ich war schon allzu lange gezwungen, meine eigenen Wege zu gehen, um hierauf zu vertrauen. Dabei kreisten mir die Sorgen, wie das Studium finanziert werden sollte, wie ein Hornissenschwarm um den Kopf.

Dem väterlichen Verbot schenkte ich keine Beachtung und lief spornstreichs zum Stuttgarter Mittnacht-Bau, wo das Kultusministerium seinen Sitz hatte, um mein Abiturzeugnis abzuholen. Ich konnte die ganze Situation noch nicht ganz fassen und bangte, ob ich es auch wirklich erhielt. Es wurde mir ausgehändigt. Ich beschloß, für Anfang Mai von meiner Firma Urlaub zu erbitten, damit ich mich in der nächstgelegenen Universität, also in Tübingen, umsehen und immatrikulieren konnte. Nachdem mir der Urlaub bewilligt worden war, fuhr ich nach Tübingen, wo ich im Christlichen Hospiz Unterschlupf fand und mir dort ein Zimmer mietete.

Im Chemie-Auditorium der Universität Tübingen während des Wintersemesters 1930/31. Der Saal war stets bis auf den letzten Platz gefüllt.

Damals galt die Erstimmatrikulation von 3000 Medizinstudenten im Sommersemester 1930 als großer Sprung. Am Tag der Einschreibung an der Tübinger Hochschule stand ich unter anderen wartenden Studenten im Universitätsbau und setzte, als die Reihe an mich kam, mit etwas erregter Hand meinen Namen unter die Immatrikulation. Als ich mich mit dem Ablauf des Studiengangs vertraut machte und sah, daß im ersten Semester weder Kurse noch Vorlesungen stattfanden, für deren Besuch ein Testat, also ein Nachweis, vorgeschrieben war, entschloß ich mich, meine Zeit nicht zu vergeuden, dieses Semester zu überspringen, den Stoff nachzulernen und das eigentliche Studium im darauffolgenden Wintersemester in Angriff zu nehmen. Natürlich belegte ich alle vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen. (...)

Ich stürzte mich sofort in die Vorlesungen und in die Lernarbeit. Das war ein Kinderspiel gegenüber den Belastungen der verflossenen Jahre. Lehrbücher zu kaufen war mir zu teuer, so daß ich fleißig in den Vorlesungen mitschrieb und nach meinen Kollegheften lernte. Die Kolleghefte für das abgelaufene Sommersemester konnte ich mir von einer Kommilitonin ausleihen. Für die Prüfungen war dies kein Nachteil. Die Professoren legten besonderen Wert darauf, daß die Studenten nicht irgendein Lehrbuch irgendeines anderen Dozenten zum besten gaben. Vielmehr wollten sie genau das hören, was sie selbst in den Vorlesungen vorgetragen hatten.

Zur Vorbereitung auf das Physikum, die Zwischenprüfung im Studiengang Medizin, waren fünf Semester vorgeschrieben – ein Semester zuviel, wie ich fand, denn alles war leicht in vier Semestern zu schaffen. Als Fächer waren vorgeschrieben: zwei Semester Botanik, zwei Semester Zoologie, zwei Semester Physik, zwei Semester Chemie, zwei Semester Physiologie und natürlich vier Semester Anatomie mit Histologie und Präparierübungen in den Wintersemestern.

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Hilfskassenarzt in Dachsbach (1935 - 1940)

(...) Ich hatte zunächst beträchtliche Schwierigkeiten, festzustellen, wo die kleinen Orte überhaupt lagen, in denen ich nach dem Willen des dortigen Landrats als sogenannter Hilfskassenarzt die medizinische Versorgung übernehmen sollte, da der ansässige Arzt zum Militärdienst nach Nürnberg eingezogen worden war. Ich vermutete sie in der näheren Umgebung von Ansbach und setzte mich einfach in einen Zug, der dorthin unterwegs war. Immerhin hatte ich auf meiner Fahrt in die Ungewißheit der kommenden Jahre warme Sachen im Gepäck.

Als ich in der alten markgräflichen Residenzstadt ankam, war es stockfinstere Nacht. Nur mit Mühe tastete ich mich durch die vorschriftsmäßig verdunkelten Gassen und fand eine Absteige für die Nacht. Am nächsten Morgen forschte ich weiter nach jenen ominösen Dörfern und mußte dabei feststellen, daß mich noch ein ganzes Stück Weg erwartete.

Mit dem Bummelzug machte ich mich wieder auf die Reise. Damals stand noch der alte Ansbacher Bahnhof, der später von Bomben zerstört und in seiner ursprünglichen Gestalt auch nicht wieder aufgebaut wurde. In Steinach mußte ich umsteigen. Schließlich kam Neustadt an der Aisch in Sicht, und dann ging die Fahrt weiter nach Dachsbach.

Der Marktflecken bot damals einen kümmerlichen Anblick, um so mehr, wenn der Betrachter zuvor in Großstädten wie Bremen und München gelebt hatte. Wenig erinnerte an längst versunkene bessere Zeiten, als die Ansbacher Markgrafen hier einen Amtmann zur Aufsicht über ihre Landeskinder residieren ließen oder die Ritter von Dachsbach – das Hauptgebäude der Burg, das »Wasserschloß«, steht heute noch – ihre Herrschaft ausübten. (...)

Auf irgendeine Weise mußte ich zu meinen bettlägerigen Patienten in den umliegenden Dörfern gelangen. Auf Schusters Rappen konnte dies schlecht geschehen. Meine Patienten wären verstorben, bevor ich angekommen wäre. In kluger Voraussicht hatte ich bereits in meiner Bayreuther Zeit den Kraftfahrzeugführerschein erworben. Anfangs benutzte ich für meine ärztlichen Besuche den Kraftwagen des stolzen Arztsitzinhabers. Es handelte sich um einen BMW, der durchaus angenehm zu fahren war. Jedoch ging auch dies nicht lange gut. Ständig war Ärger und Streit damit verbunden, als säße Xanthippe unablässig auf dem Beifahrersitz. Kann es sein, daß ich den »Kollegen« falsch einschätze? Vielleicht wollte der verkannte Philanthrop nur dafür sorgen, daß ich nicht ziellos durch das Leben tändelte, und stellte mir deshalb immer neue Aufgaben.

Was den fahrbaren Untersatz betraf, konzentrierte sich mein Sinnen und Trachten darauf, irgendwo einen eigenen Gebrauchtwagen zu ergattern. Fabrikneue Autos waren unter den Kriegsverhältnissen ohnehin kaum zu bekommen. Schließlich spürte ich in Dottenheim einen feilgebotenen Opel Kadett auf, doch große Ansprüche durfte man an dieses Gefährt nicht stellen, denn alle 2000 Kilometer fingen die sogenannten Bremsankerplatten zu klappern an. Immerhin lief das Auto, und so nahm ich es im Frühjahr 1940 für meine Arztbesuche in den Dienst. (...)

Der gebrauchte Kraftwagen der Marke Opel Kadett, den ich im Frühjahr 1940 für meine Patientenbesuche erwarb. Deutlich zu erkennen sind die vorschriftsmäßig verdunkelten Scheinwerfer.

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Rekrut (1941)


Zunächst kam ich zur Ableistung meiner zweimonatigen Rekrutenzeit zum Infanterie-Ersatzbatallion 21 nach Fürth in die Sedan-Kaserne.

Als Rekrut 1941 beim Infanterie-Ersatzbataillon 21 in Fürth. Zwischen den Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1922 war ich mit meinen 34 Jahren bei weitem der Älteste.

Mein Rekrutendasein habe ich in außerordentlich schlechter Erinnerung behalten. Als ich am 3. Juni 1941 eingezogen wurde, war ich immerhin schon 34 Jahre alt. Der ärztliche Dienst bei Tag und Nacht war nicht spurlos an mir vorübergegangen, und ich verfügte über weitaus weniger körperliche Leistungsfähigkeit als die anderen Rekruten, die Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1922, also vor Kraft strotzende junge Leute. Die Burschen liefen flink wie die Wiesel. Ich dagegen hatte noch nicht einmal passendes Schuhwerk bekommen, lief mir die Füße wund und hatte schließlich zweierlei Stiefel an den Füßen, da die »Knobelbecher« nicht sitzen wollten. Einmal bekam ich durch die zahlreichen Blasen sogar eine Lymphangitis am rechten Fuß. Mit Vorliebe versuchte ich deshalb, der Tortur zu entgehen und mich zum sogenannten Arbeitsdienst zu melden, was mir aber nicht immer gelang, da ich angesichts der Kürze der Rekrutenzeit möglichst im Exerzierdienst ausgebildet werden sollte.

Frühmorgens zogen alle unter Gesang zum Exerzierplatz, dem Freiübungsgelände Hainberg, und nachmittags war das Exerzieren auf dem Kasernenhof angesagt. Eines Tages tauchte in meiner Gruppe ein geistig wenig Begabter auf und machte prompt verschiedene Fehler. Der aufsichtführende Feldwebel bemerkte das und fühlte sich gefordert. Kurzerhand übernahm er höchstpersönlich das Kommando über unsere Gruppe und jagte uns mit Aufstehen und Hinlegen um so dreister herum.

Zu allem Überdruß brach an diesem Nachmittag auch noch ein Gewitter los. Den anderen Gruppen wurde erlaubt, in das Kasernengebäude einzurücken und auf den Gängen weiterzuexerzieren, wir aber wurden im strömenden Regen herumgehetzt und mußten uns in die morastige Brühe des Kasernenhofs werfen. Solchermaßen traktiert hätte ich gute Lust gehabt, mich zu beschweren. Wohlweislich verzichtete ich darauf. Man muß einen Soldaten, den man gegen das feindliche Feuer hetzen will, eben zu einem willenlosen Werkzeug machen, der, wie es schon im Dreißigjährigen Krieg hieß, »seinen Feldwebel mehr fürchten muß als den Feind«.

Während dieser Zeit – am 20. Juni 1941 – brach der Rußlandfeldzug aus, der bei vielen Deutschen jegliche Hoffnung auf ein nahes Kriegsende erstickte. Hoffnungen hatte ich mir nie gemacht, denn meine Meinung stand schon lange fest. Aber ich hütete mich, in offener Runde kundzutun, daß dieser Krieg nach fünf Jahren Dauer ohnehin mit einer vernichtenden Niederlage enden würde, denn das wäre »Wehrkraftzersetzung« und lebensgefährlich gewesen.

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Landarzt (ab 1946)


Viele meiner alten Patienten, namentlich die Bauern, waren Privatpatienten, da die Landwirtschaftliche Krankenkasse noch nicht existierte. Der Bauernstand war damals hochgeachtet, und der stolze Bauer fand es ganz wunderbar, daß er einen »eigenen« Arzt besaß und sich nicht unter seine Knechte und Mägde im Wartezimmer einreihen mußte. So reifte in mir der Entschluß, auch ohne Kassenzulassung in Dachsbach zu bleiben. Zeitungen waren leider nicht leicht zu haben, und auch Fachzeitschriften oder Ärzteblätter trafen kaum bei mir ein. Deshalb blieb es mir verborgen, daß für eine gewisse Dauer, bis zur Währungsreform 1948, die strengen Regeln der Kassenzulassung außer Kraft gesetzt waren und ich wahrscheinlich leicht die Vertretung der Krankenkassen in Dachsbach hätte erreichen können. Man hatte nach dem Zusammenbruch die Landesversicherungsanstalten mit der Genehmigung von Anträgen zur Kassenzulassung betraut, und diese waren hiermit sehr großzügig verfahren.

Dachsbach im Frankenland, meine Wahlheimat nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Sommer 1945. Die Luftaufnahme stammt aus den fünfziger Jahren und zeigt den Marktflecken ohne die heutigen Neubaugebiete. Am oberen, linken Bildrand ist das sogenannte Wasserschloß zu erkennen, rechts unten verläuft die inzwischen abgebaute Eisenbahnstrecke, die »Aischtalbahn«.

Der sogenannte Bachlechner erklärte sich 1948 bereit, das ehemalige Milchhäuschen auszubauen, mit meinem Geld und seiner Arbeitskraft. Ich war froh, es mieten, hier wohnen und meine Sprechstunde abhalten zu können. Die Wohnverhältnisse waren immer noch allgemein sehr beengt, da die ausgebombten und vertriebenen Familien die Dörfer bis unter die Hausdächer füllten.

Nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 quollen zwar die Ladenregale schlagartig wieder über, vielerorts fehlte aber das Geld zum Kaufen. Besonders bei meinen Eltern in Bremen haperte es damit, da die Rentenzahlung nur zögerlich funktionierte. Ich legte in meine Briefe nach Bremen immer soviel Geld, wie ich gerade entbehren konnte. Für die Schreibarbeiten konnte ich mir schon eine gute Seele leisten, für den Junggesellenhaushalt eine Besorgerin, eine robuste Frau aus Rauschenberg, die sich zu wehren wußte, wenn ich brummte und schimpfte, weil sie zuviel Kohle verbrauchte. (...)

Im November 1951 gelang es mir, von einem in Konkurs gegangenen Eisenwarenhändler das Haus am jetzigen Oberen Dorfplatz 2 zu kaufen. Es blieb mir nicht erspart, wegen der damaligen Preiskontrollen einen Prozeß zu führen, so daß ich erst im Lauf des Jahres 1953 mit dem Umbau beginnen konnte, der nötig war, um dort eine Praxis einzurichten. Erst im Dezember 1953 konnte ich das kleine, bescheidene Häuschen beziehen. Für viele Jahrzehnte wurde es ein trautes Heim.

Das Haus am Oberen Dorfplatz 2 erwarb ich 1951 und bezog es im Dezember 1953. Im Erdgeschoß befand sich die Artzpraxis. Die Patienten betraten die Praxisräume durch die Tür neben der Garage; hinter den drei kleinen Fenstern links daneben befand sich das Wartezimmer und daran angrenzend das große Sprechzimmer mit den anderen Praxisräumen. Der zweite ebenerdige Eingang führte in die Privaträume in der ersten Etage.

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Inhalt
»Von der Waterkant ins Frankenland«

Inhalt
Vorworte der Söhne 7

Bremen – Germaniastraße 24
1907–1923

Eines Lebens Anfang 11
Sippschaftsbande 13
Zwischen Germaniastraße und Am Wall 20
Vorschule 41
Kriegsgeschrei 46
In der Realschule am Doventor 60
Revolution 63
Nachkriegszeiten 69

Vom Lehrling zum Landarzt
1923–1965

Lehrjahre sind keine Herrenjahre 87
Kaufmännischer Angestellter in Stuttgart 95
Abitur und Studium 103
Medizinalpraktikant 129
Vertretungsarzt 142
Hilfskassenarzt in Dachsbach 153
Rekrut 159
Von Lazarett zu Lazarett 162
In Dänemark 167
Kriegsgefangenschaft 191
Entlassen nach Dachsbach 196
Landarzt 210

Epilog 219