[Ernst
Köckeritz befindet sich zusammen mit seinem Bruder Didi in einem
Waisenhaus im Thüringer Wald.]
Ich saß an einem Ecktisch und malte. Meine Mutter hatte mich oft
gelobt, wenn mir ein Pferd, ein Baum oder ein Haus ganz besonders gut
gelungen war, und in der Schule hatte ich im Zeichnen immer eine Eins
gehabt. Didi spielte auf dem Fußboden mit der Holzeisenbahn und
mit Bauklötzen. Tante Thea kam mit einem fremden Herrn in den Tagesraum
und ging mit ihm auf mich zu. Der Mann sah sehr interessiert zu, nahm
eine meiner Zeichnungen in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.
Er nickte, und Tante Thea sagte: »Ernst, komm doch mal mit in
mein Zimmer.«
Im Büro angekommen, schloss Tante Thea die Tür und sagte:
»Ernst, der Herr hier ist Kunstmaler und hat gesehen, wie wunderschön
du malen kannst. Er würde dich gerne adoptieren, wenn du deine
Malkunst bei ihm zu Hause vervollkommnen möchtest. Das möchtest
du doch, gell?«
Ich stand nur da und sagte nichts. Ich wusste, dass schon mehrere Waisenkinder
adoptiert worden waren, aber nun sollte ich an der Reihe sein. Ein Gefühl
von Panik stieg in mir hoch, und ich hörte Tante Thea ganz weit
weg, wie durch Watte, sagen: »Weißt du, adoptieren, das
bedeutet, du bekommst einen neuen Vater und eine neue Mutti und wohnst
für immer in einem schönen Haus.«
Der Kunstmaler ging in die Knie, so dass sein Gesicht in gleicher Höhe
mit meinem war, legte seine Hände auf meine Schultern und sagte:
»Du wirst es gut bei uns haben, es soll dir an nichts fehlen,
und malen kannst du, so viel du nur willst.«
Langsam erfasste ich die Situation.
»Na, was meinst du?«, fragte der Kunstmaler. Ganz klar schaute
ich ihn an und antwortete fest: »Ja, aber nur, wenn mein Bruder
mitkommt.«
Der Mann richtete sich wieder auf und sah Tante Thea an. Die zuckte
mit den Schultern und sagte zu mir: »Du kannst wieder zu den anderen
gehen.«
Im Weggehen hörte ich, wie der Kunstmaler sagte: »Zwei Kinder
auf einmal, das geht leider nicht.«
Ich setzte mich wieder an den Tisch, aber zum Malen hatte ich keine
Lust mehr. Didi kam und fragte, was der Mann gewollt habe, aber ich
gab keine Antwort. Ich schaute aus dem Fenster zu, wie der fremde Mann
wieder wegfuhr.
(...)
Am nächsten
Morgen war die ganze Welt weiß. Es musste die ganze Nacht geschneit
haben, und es schneite immer noch. Dicke weiße Flocken sanken
langsam und lautlos auf die Erde nieder und setzten sich auf die Tannen,
auf die Straße und auf das Dach. Thüringen sah aus wie in
Watte gepackt.
Das Abräumen der Tische ging heute besonders schnell. Jedes der
Kinder holte sich einen Schlitten aus dem Keller und trug ihn nach oben
in den Hof. Die ersten Probefahrten wurden sofort auf der abschüssigen
Straße vor dem Heim unternommen, aber in dem tiefen, lockeren
Schnee liefen die kleinen Schlitten nicht besonders gut.
»Der Wanderweg zur Hohen Warte ist viel steiler, da kriegen wir
richtig Tempo drauf!« Aber ganz zur Hohen Warte schafften wir
es doch nicht. Einige waren sogar schon wieder auf ihren Schlitten talwärts
unterwegs. Keuchend blieb die kleiner gewordene Schar einige hundert
Meter höher stehen und sah prüfend zurück. Schon nahmen
die ersten Anlauf, warfen sich bäuchlings auf den Schlitten und
sausten unter Schneegestöber dorthin, wo sie gerade hergekommen
waren. Mit Gejohle taten die Übrigen es ihnen gleich. In den Kurven
musste man verteufelt aufpassen und tüchtig mit den Füßen
gegensteuern, sonst landete man abseits des Weges im Wald oder gar an
einem Baum. Von Mal zu Mal ging es schneller, denn der Schnee wurde
durch die Trampelei beim Hochgehen und auch durch die Schlittenkufen
immer fester und glatter. Dass es dabei immer noch schneite, störte
uns überhaupt nicht.
Die Mittagszeit rückte näher. Als wir beim Mopperheim ankamen,
waren einige Kinder dabei, den Hof mit Schneeschiebern von der weißen
Pracht zu befreien. Die Mädchen hatten einen großen Schneemann
und eine wunderschöne Schneefrau gebaut, die links und rechts an
der Einfahrt standen. Nach dem Essen hatte es immer noch nicht zu schneien
aufgehört. Auf dem Hof lag schon wieder eine Schneedecke. Statt
ins Kernbachtal gingen die Jungen zum Schneeschieben auf den Hof und
die Mädchen zum Abwaschen in die Küche.
Da kam mir eine tolle Idee. Ich schlug vor, den großen Schneehaufen
auszuhöhlen und einen richtigen Eskimo-Igludaraus zu machen. Mit
Feuereifer machten wir sechs Jungen uns an die Arbeit. Mit Schneeschiebern
und Händen gruben wir uns immer tiefer in den festgeklopften Schneeberg
hinein. Bald war der Hohlraum so groß, dass die ganze Belegschaft
von Zimmer »Birke« bequem hineinging, ohne sich zu drängeln.
Nun musste noch der zu groß gewordene Eingang mit Schnee so lange
zugemauert werden, bis nur noch eine Person hindurchpasste. Bald war
auf dem Hof niemand mehr zu sehen. Tante Thea schaute irritiert über
den leeren Platz: keine Menschenseele. Sie wollte gerade wieder ins
Haus gehen, als sie ein gedämpftes »Huuhuu« hörte.
Doch woher kam es? Wie eine Indianerin schlich sie an der Wand entlang
und um den Schneeberg herum. Als sie dicht am Iglueingang war, sausten
die sechs Eskimos hintereinander heraus. »O Gott, wie könnt
ihr mich so zu Tode erschrecken!«, japste sie.
Am folgenden Morgen zogen sämtliche Bewohner des Mopperheims gleich
nach dem Frühstück mit den Schlitten hinab ins Dorf und weiter
zum Kernbachtal. Die Dorfkinder waren schon fleißig dabei, die
steilen Hänge zum zugefrorenen Kernbach hinabzurodeln. Es gab verschiedene
Rodelbahnen, eine ganz normale, breit und lang gestreckt; eine andere
hieß Todesbahn und wurde nur von den Mutigsten befahren; wieder
eine andere wurde Hopserbahn genannt, weil in ihrem unteren Teil eine
große Delle im Gelände war. Wenn man mit dem Schlitten darübersauste,
flog man einige Meter durch die Luft, wie auf einer kleinen Sprungschanze.
Wir zogen unsere Schlitten im Gänsemarsch nach oben. Dort warteten
schon ein paar Jungen, die Tante Thea und Tante Hanna zur Hopserbahn
schleppten.
Zunächst wollte Tante Hanna hier nicht herunterfahren. Aber Tante
Thea stachelte sie lachend an und rief: »Feigling!«
Tante Hanna starrte ihrer Kollegin nach, und als sie sah, dass diese
den Hopser gut meisterte, rief sie ihr nach: »Das lass ich nicht
auf mir sitzen!«
Schon sauste sie abwärts hinter Tante Thea her, genau auf die Delle
zu und mit tollem Schwung hindurch. Mit weit gegrätschten Beinen,
den kleinen Schlitten unter sich, sauste Tante Hanna wie ein Geschoss
über die untere Kante und flog in hohem Bogen durch die Luft. Die
Landung bekam dem Schlitten jedoch gar nicht gut. Er setzte mit der
linken Kufe auf, weil er während des Fluges etwas in Schieflage
geraten war. Tante Hanna stieß einen Urschrei aus, und der Schlitten
krachte in seine Einzelteile auseinander. Zwangsläufig beendete
sie die Rodelpartie auf ihren vier Buchstaben. Dank ihrer guten Polsterung
war ihr nichts passiert, nur der Schlitten hatte einen Totalschaden.
Die Zahl
der Waisen aus Stretense war auf die Hälfte zusammengeschrumpft,
weil einige adoptiert worden waren. Christa Pappstein und ihr Bruder
waren sogar von ihren Eltern abgeholt worden. Das Rote Kreuz hatte sie
durch seinen Suchdienst ausfindig gemacht.
Das Mondlicht fiel durchs Fenster, ich lag auf dem Rücken und schaute
an die Zimmerdecke. Eltern hatten wir ja schon lange keine mehr, ging
es mir durch den Kopf, auch Oma Ida und Opa Richard waren in Mecklenburg
gestorben. Aber Oma und Opa Glietzig wo die wohl waren?
Didi schlief auch noch nicht. »Die wohnen doch in Glietzig«,
sagte er auf meine Frage hin, »das weißt du doch, wo wir
öfter mit dem Zug hingefahren sind, zuletzt, als Manni und Helga
Zwillingsgeburtstag hatten.«
»Ich glaube, da sind jetzt auch die Russen oder Polen. Die sind
bestimmt mit dem Pferdewagen abgehauen. Vielleicht sind sie gar nicht
so weit von uns weg so wie die Eltern von Christa und Peter!
Wenn es da, wo sie sind, auch das Rote Kreuz gibt, lassen sie uns vielleicht
auch suchen, und wir sehen uns alle eines Tages wieder. Was meinst du,
das wäre doch toll?«
Aber mein kleiner Bruder antwortete nicht mehr, er war eingeschlafen.
[nach
oben]
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