Leseprobe

Ernst Köckeritz
Zwei Brüder allein

Unsere Flüchtlings-Odyssee 1945-1956

192 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
Broschiert.
Sammlung der Zeitzeugen (25)
ISBN 3-933336-74-0
12,90 EUR

Leserstimmen »


[Ernst Köckeritz befindet sich zusammen mit seinem Bruder Didi in einem Waisenhaus im Thüringer Wald.]

Ich saß an einem Ecktisch und malte. Meine Mutter hatte mich oft gelobt, wenn mir ein Pferd, ein Baum oder ein Haus ganz besonders gut gelungen war, und in der Schule hatte ich im Zeichnen immer eine Eins gehabt. Didi spielte auf dem Fußboden mit der Holzeisenbahn und mit Bauklötzen. Tante Thea kam mit einem fremden Herrn in den Tagesraum und ging mit ihm auf mich zu. Der Mann sah sehr interessiert zu, nahm eine meiner Zeichnungen in die Hand und betrachtete sie aufmerksam. Er nickte, und Tante Thea sagte: »Ernst, komm doch mal mit in mein Zimmer.«

Im Büro angekommen, schloss Tante Thea die Tür und sagte: »Ernst, der Herr hier ist Kunstmaler und hat gesehen, wie wunderschön du malen kannst. Er würde dich gerne adoptieren, wenn du deine Malkunst bei ihm zu Hause vervollkommnen möchtest. Das möchtest du doch, gell?«

Ich stand nur da und sagte nichts. Ich wusste, dass schon mehrere Waisenkinder adoptiert worden waren, aber nun sollte ich an der Reihe sein. Ein Gefühl von Panik stieg in mir hoch, und ich hörte Tante Thea ganz weit weg, wie durch Watte, sagen: »Weißt du, adoptieren, das bedeutet, du bekommst einen neuen Vater und eine neue Mutti und wohnst für immer in einem schönen Haus.«

Der Kunstmaler ging in die Knie, so dass sein Gesicht in gleicher Höhe mit meinem war, legte seine Hände auf meine Schultern und sagte: »Du wirst es gut bei uns haben, es soll dir an nichts fehlen, und malen kannst du, so viel du nur willst.«

Langsam erfasste ich die Situation.

»Na, was meinst du?«, fragte der Kunstmaler. Ganz klar schaute ich ihn an und antwortete fest: »Ja, aber nur, wenn mein Bruder mitkommt.«

Der Mann richtete sich wieder auf und sah Tante Thea an. Die zuckte mit den Schultern und sagte zu mir: »Du kannst wieder zu den anderen gehen.«

Im Weggehen hörte ich, wie der Kunstmaler sagte: »Zwei Kinder auf einmal, das geht leider nicht.«

Ich setzte mich wieder an den Tisch, aber zum Malen hatte ich keine Lust mehr. Didi kam und fragte, was der Mann gewollt habe, aber ich gab keine Antwort. Ich schaute aus dem Fenster zu, wie der fremde Mann wieder wegfuhr.

(...)

Am nächsten Morgen war die ganze Welt weiß. Es musste die ganze Nacht geschneit haben, und es schneite immer noch. Dicke weiße Flocken sanken langsam und lautlos auf die Erde nieder und setzten sich auf die Tannen, auf die Straße und auf das Dach. Thüringen sah aus wie in Watte gepackt.

Das Abräumen der Tische ging heute besonders schnell. Jedes der Kinder holte sich einen Schlitten aus dem Keller und trug ihn nach oben in den Hof. Die ersten Probefahrten wurden sofort auf der abschüssigen Straße vor dem Heim unternommen, aber in dem tiefen, lockeren Schnee liefen die kleinen Schlitten nicht besonders gut.

»Der Wanderweg zur Hohen Warte ist viel steiler, da kriegen wir richtig Tempo drauf!« Aber ganz zur Hohen Warte schafften wir es doch nicht. Einige waren sogar schon wieder auf ihren Schlitten talwärts unterwegs. Keuchend blieb die kleiner gewordene Schar einige hundert Meter höher stehen und sah prüfend zurück. Schon nahmen die ersten Anlauf, warfen sich bäuchlings auf den Schlitten und sausten unter Schneegestöber dorthin, wo sie gerade hergekommen waren. Mit Gejohle taten die Übrigen es ihnen gleich. In den Kurven musste man verteufelt aufpassen und tüchtig mit den Füßen gegensteuern, sonst landete man abseits des Weges im Wald oder gar an einem Baum. Von Mal zu Mal ging es schneller, denn der Schnee wurde durch die Trampelei beim Hochgehen und auch durch die Schlittenkufen immer fester und glatter. Dass es dabei immer noch schneite, störte uns überhaupt nicht.

Die Mittagszeit rückte näher. Als wir beim Mopperheim ankamen, waren einige Kinder dabei, den Hof mit Schneeschiebern von der weißen Pracht zu befreien. Die Mädchen hatten einen großen Schneemann und eine wunderschöne Schneefrau gebaut, die links und rechts an der Einfahrt standen. Nach dem Essen hatte es immer noch nicht zu schneien aufgehört. Auf dem Hof lag schon wieder eine Schneedecke. Statt ins Kernbachtal gingen die Jungen zum Schneeschieben auf den Hof und die Mädchen zum Abwaschen in die Küche.

Da kam mir eine tolle Idee. Ich schlug vor, den großen Schneehaufen auszuhöhlen und einen richtigen Eskimo-Igludaraus zu machen. Mit Feuereifer machten wir sechs Jungen uns an die Arbeit. Mit Schneeschiebern und Händen gruben wir uns immer tiefer in den festgeklopften Schneeberg hinein. Bald war der Hohlraum so groß, dass die ganze Belegschaft von Zimmer »Birke« bequem hineinging, ohne sich zu drängeln. Nun musste noch der zu groß gewordene Eingang mit Schnee so lange zugemauert werden, bis nur noch eine Person hindurchpasste. Bald war auf dem Hof niemand mehr zu sehen. Tante Thea schaute irritiert über den leeren Platz: keine Menschenseele. Sie wollte gerade wieder ins Haus gehen, als sie ein gedämpftes »Huuhuu« hörte. Doch woher kam es? Wie eine Indianerin schlich sie an der Wand entlang und um den Schneeberg herum. Als sie dicht am Iglueingang war, sausten die sechs Eskimos hintereinander heraus. »O Gott, wie könnt ihr mich so zu Tode erschrecken!«, japste sie.

Am folgenden Morgen zogen sämtliche Bewohner des Mopperheims gleich nach dem Frühstück mit den Schlitten hinab ins Dorf und weiter zum Kernbachtal. Die Dorfkinder waren schon fleißig dabei, die steilen Hänge zum zugefrorenen Kernbach hinabzurodeln. Es gab verschiedene Rodelbahnen, eine ganz normale, breit und lang gestreckt; eine andere hieß Todesbahn und wurde nur von den Mutigsten befahren; wieder eine andere wurde Hopserbahn genannt, weil in ihrem unteren Teil eine große Delle im Gelände war. Wenn man mit dem Schlitten darübersauste, flog man einige Meter durch die Luft, wie auf einer kleinen Sprungschanze.

Wir zogen unsere Schlitten im Gänsemarsch nach oben. Dort warteten schon ein paar Jungen, die Tante Thea und Tante Hanna zur Hopserbahn schleppten.
Zunächst wollte Tante Hanna hier nicht herunterfahren. Aber Tante Thea stachelte sie lachend an und rief: »Feigling!«

Tante Hanna starrte ihrer Kollegin nach, und als sie sah, dass diese den Hopser gut meisterte, rief sie ihr nach: »Das lass ich nicht auf mir sitzen!«

Schon sauste sie abwärts hinter Tante Thea her, genau auf die Delle zu und mit tollem Schwung hindurch. Mit weit gegrätschten Beinen, den kleinen Schlitten unter sich, sauste Tante Hanna wie ein Geschoss über die untere Kante und flog in hohem Bogen durch die Luft. Die Landung bekam dem Schlitten jedoch gar nicht gut. Er setzte mit der linken Kufe auf, weil er während des Fluges etwas in Schieflage geraten war. Tante Hanna stieß einen Urschrei aus, und der Schlitten krachte in seine Einzelteile auseinander. Zwangsläufig beendete sie die Rodelpartie auf ihren vier Buchstaben. Dank ihrer guten Polsterung war ihr nichts passiert, nur der Schlitten hatte einen Totalschaden.

Die Zahl der Waisen aus Stretense war auf die Hälfte zusammengeschrumpft, weil einige adoptiert worden waren. Christa Pappstein und ihr Bruder waren sogar von ihren Eltern abgeholt worden. Das Rote Kreuz hatte sie durch seinen Suchdienst ausfindig gemacht.

Das Mondlicht fiel durchs Fenster, ich lag auf dem Rücken und schaute an die Zimmerdecke. Eltern hatten wir ja schon lange keine mehr, ging es mir durch den Kopf, auch Oma Ida und Opa Richard waren in Mecklenburg gestorben. Aber Oma und Opa Glietzig – wo die wohl waren?

Didi schlief auch noch nicht. »Die wohnen doch in Glietzig«, sagte er auf meine Frage hin, »das weißt du doch, wo wir öfter mit dem Zug hingefahren sind, zuletzt, als Manni und Helga Zwillingsgeburtstag hatten.«

»Ich glaube, da sind jetzt auch die Russen oder Polen. Die sind bestimmt mit dem Pferdewagen abgehauen. Vielleicht sind sie gar nicht so weit von uns weg – so wie die Eltern von Christa und Peter! Wenn es da, wo sie sind, auch das Rote Kreuz gibt, lassen sie uns vielleicht auch suchen, und wir sehen uns alle eines Tages wieder. Was meinst du, das wäre doch toll?«

Aber mein kleiner Bruder antwortete nicht mehr, er war eingeschlafen.

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