Leseprobe

Schlüssel-Kinder
Kindheit in Deutschland 1950-1960

46 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
336 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, Klappenbroschur.
Reihe Zeitgut Band 6,
ISBN 978-3-933336-05-7,
Euro 12,90

auch als Taschenbuch
ISBN 979-3-86614-156-8, Euro 9,90

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Brettach bei Öhringen, Baden-Württemberg;Anfang der 50er Jahre

Winterabend
Hanne Bujk

In meiner Kinderzeit machte der Winter seinem Namen noch alle Ehre. Soweit ich mich erinnern kann, gab es beinahe jedes Jahr Schnee, Berge von Schnee. Dann war jede Menge Spaß angesagt. Wir wohnten unten, im winterlich verschneiten, engen Tal, umgeben von Bergen. Morgens ging es mit dem Schlitten zur Schule hinauf, mittags in rasanter Fahrt zu Tale, einer nach dem anderen. Einfach herrlich!

Als Kind vom Lande lernte ich natürlich auch die rauhen Seiten eines harten Winters kennen, aber die schönen überwogen. Zu unser aller Vergnügen blieb der Schnee meist lange liegen. Für uns Kinder hatte das den Vorteil, daß unsere Eltern jetzt endlich einmal Zeit für uns hatten. Zeit, um sich in die gute Stube zu setzen, was sonst nur an Feiertagen und bei besonderen Anlässen üblich war. In diesem Raum stand ein Ungetüm eines gußeisernen Ofens, der wohlige Wärme ausstrahlte. War die Familie um das gute Stück versammelt, fühlten wir uns auf wunderbare Weise geborgen.

Zu meinen schönsten Erinnerungen gehören jene Abende, an denen bei uns „Vorsitz“ abgehalten wurde. Das war ein alter Brauch, bei dem sich die Nachbarschaft zum gemütlichen Beisammensein im rustikalen Wohnzimmer einfand. Wie aufregend für uns Kinder, wenn es schon wieder an die Tür klopfte. Wer bat jetzt noch um Einlaß?

Die Spannung war riesengroß!
Mucksmäuschenstill saßen wir mit unseren Puppen in einer Ecke und lauschten aufmerksam den Gesprächen der Erwachsenen. Wir staunten sehr, was sie sich alles zu erzählen hatten! Natürlich wurden immer wieder alte Geschichten hervorgeholt, die wir schon viele Male gehört hatten. Wir Kinder warteten voller Ungeduld auf die Gruselgeschichten, die dabei nie fehlen durften. Ja, die hatten es in sich! Wenn der eine oder andere behauptete, das Geschilderte selbst erlebt zu haben, sollte man es ihm nun glauben oder nicht?

Der eine Nachbar meinte, nachts auf dem Nachhauseweg – der Weg führte durch den Wald – würde jedesmal eine zottelige Gestalt, ähnlich einem Hund, neben ihm herlaufen. Ein stummer Begleiter, der, vor dem Haus angekommen, wie vom Erdboden verschwunden sei.

Der Ofen samt Ofenrohr knisterte und glühte, und beim Erzählen der Schauergeschichten beschlich uns das bange Gefühl, gleich könne die Tür aufgehen und das leibhaftige Gespenst hereinkommen. Die Unterhaltung steigerte sich oft ins Uferlose. War es an der Zeit, nach Hause zu gehen, dann traute sich mancher Besucher nicht so recht hinaus in die finstere Winternacht.

Waren alle Nachbarn gegangen, hieß es für uns Kinder, jetzt schnell ins Bett zu steigen. Unsere Herzen klopften wild. Ob dort in der kalten, dunklen Kammer das Gespenst schon auf uns wartete?


Von Bärbel Böhme sind folgende Geschichten in Band 6 der Reihe Zeitgut erschienen: "Ein besonderer Tag" (18. März 1951) und "Eine fantastische Geschichte" (1950-1952).
Folgende Geschichte ist jedoch aus Band 2 der Reihe Zeitgut

Elbingerode, Harz; Winter 1948

Winter im Harz
Bärbel Böhme

Es schneit und schneit – nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit, aber Voraussetzung für die beliebte Rodelschlange. Was eine Rodelschlange ist? Kein Reptil aus dem Zoo, sondern der Wunsch vieler Kinder für den winterlichen Schulausflug im Jahre 1948.

Endlich ist es soweit. Wir, das sind elfjährige Mädchen und Jungen der Grundschule, treffen uns früh am Morgen beim Bauern. Die Pferde, zwei starke Kaltblüter, werden aus dem warmen Stall geführt. Freudiges Wiehern begrüßt uns. Sie werden vor den großen Schlitten gespannt und dahinter, an einem langen Seil, alle unsere kleinen Schlitten befestigt. Unsere Rodelschlange ist fertig, und es geht los.

Rechts und links der Straße türmen sich Schneeberge, die der Schneepflug zusammengeschoben hat. Die Sonne scheint, und auf den schneebedeckten Bäumen, die unter der Last fast zusammenbrechen, glitzert es wie lauter Diamanten.

Alle Kinder sitzen auf ihren Schlitten, auf die vor der Abfahrt noch eine Decke gebunden wurde. Die Pferde freuen sich über die Bewegung und traben munter vorwärts. Der Schnee stiebt bei jedem Hufschlag, die Glöckchen am Geschirr klingeln fröhlich. Die Fahrt geht von Elbingerode über Königshütte nach Tanne.
Bald heißt es aber: Alle absteigen! Die Pferde sollen es leichter haben, denn es geht jetzt bergauf, und wir Kinder müssen uns auch bewegen, sonst droht uns eine Erkältung. Nicht alle haben Lederschuhe, und gefütterte Winterstiefel besitzt niemand von uns. Die Igelitschuhe, die manche Kinder anhaben, sind durch die Kälte knochenhart geworden und lassen die Füße erstarren. Auch die selbstgestrickten Handschuhe sind inzwischen pitschnaß.

Wachsam, beinahe ein bißchen ängstlich, laufen die Kinder neben ihren Schlitten her, denn der größte Spaß für den Kutscher ist es, die Pferde plötzlich zu einem Zwischenspurt anzutreiben. Wie schnell sind sie ein paar hundert Meter weit weg, und wer nicht blitzschnell auf seinen Schlitten gesprungen ist, hat das Nachsehen und muß hinterherlaufen. Da fallen dann schon mal ein paar Tränen, wenn man allein in der weiten Schneelandschaft steht und die Schlittenglocken immer leiser werden.

Natürlich wird kein Kind allein zurückgelassen, und die Lehrerin kommt trösten.
Zur Rast beteiligen sich alle an einer zünftigen Schneeballschlacht – das sicherste Mittel, um wieder warm zu werden. Die Pferde bekommen ihre Futterbeutel mit Hafer und Strohhäcksel umgehängt, und für uns werden die Vesperbrote aus dem großen Schlitten geholt. Aus Thermoskannen gibt es heißen Tee, und ein großer Schneemann zeigt später allen Vorbeikommenden, daß hier einfallsreiche kleine Baumeister gewirkt haben.

Bald geht es zurück in Richtung Heimat. Die Pferde scheinen den Stall zu riechen und schlagen ein tolles Tempo an. Da windet sich die Rodelschlange richtig um die Kurven. Nur gut, daß es fast kein Auto gibt. So erreichen wir unbeschadet den Heimatort Elbingerode. Der Gesprächsstoff über diesen Tag reicht für mehrere Schulwochen