Leseprobe

Rinnebach, Wolfgang
Die Laube
Ein lebendiges Zeitdokument. 1939–1962

192 Seiten, mit vielen Fotos.Broschiert.
Sammlung der Zeitzeugen (47)
ISBN 3-933336-96-1
12,90 Euro.


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Am Brunnen vor der Laube

Das Leben in unserer Laube war, trotz der Vorteile, die uns der Garten bot, oft beschwerlich. Die Laube stand in einer Laubenkolonie, dem Pflanzerverein »Einigkeit« – Reste davon sind noch heute erhalten. Die Wege waren unbefestigt und bis auf den Hauptweg, den Eichhorster Weg, nicht breiter als zwei bis vier Meter. Wir hatten nur Ofenheizung und keine Wasserver- und Abwasserentsorgung. Das Trinkwasser beschafften wir über eine Gartenpumpe. Da es aus einer Schwengelpumpe kam, hielten wir stets einen Wasservorrat in einem Eimer im Hause. Bei Minustemperaturen im Winter mussten wir das Wasser im Pumprohr ablassen, damit es nicht einfror. Bei Bedarf pumpten wir wieder mit kochend heißem Wasser hoch.

Die große Wäsche war immer eine besondere Herausforderung. Jeden Tropfen Wasser mussten wir hochpumpen und anschließend die Wäsche in einem Zinkkessel über offenem Feuer kochen und spülen – auch im Winter bei tiefen Minusgraden. Dann hingen wir die Wäsche draußen im Garten oder auf dem niedrigen Spitzboden über der Laube auf. Einen faszinierenden Anblick boten im Winter die steif gefrorenen Hosen und Hemden, die wir einfach hinstellen konnten: echte Gespensterkleidung. Waschtag war immer ein harter Arbeitstag, an dem wir nur Aufgewärmtes oder Stulle aßen.

Ein Kühlschrank fehlte uns im Winter zumindest nicht. Die Wohnlaube kühlte im Winter bei Frost in der Nacht häufig so stark aus, dass wir das Wasser im Eimer in der Küche am Morgen erst mit einem Hämmerchen aufhacken mussten, bevor wir uns waschen oder die Zähne putzen konnten. Erfrischende Eisstückchen im Wasser sorgten dafür, dass die Müdigkeit rasch verschwand.
Selbst wenn wir heizten, wucherten an den Einfachglasfenstern herrliche Eisblumen. Dann konnten wir nur im linken oberen Drittel des Fensters bis höchstens zur Hälfte nach draußen sehen. Durch das am oberen Rand der Scheibe abtauende Kondenswasser, das hinunterfloss und an der Scheibe unten wieder gefror, bildete sich am Fuße des Rahmens häufig eine Zentimeter dicke Eisschicht, die am unteren Holzrahmen wochenlang nicht abschmolz. Da das Brennholz rar war, haben wir auch nie sehr stark geheizt.

Einer der beiden Räume der Laube wurde als Wohnzimmer bezeichnet, weil darin eine Schlafcouch, ein Bücherschrank und die Nähmaschine standen. Auf Letzterer befand sich ein kleines Radio. Auch einen altertümlichen Kleiderschrank von 1890 hatten wir aus der ausgebombten Wohnung meiner Großeltern in dieses Zimmer gerettet. Außerdem zierte das Wohnzimmer ein braun glänzender, viereckiger Kachelofen, etwa 1,50 Meter hoch. Glühten im Ofen die Briketts, hielt er die Wärme über zwölf Stunden. Mutter schärfte uns immer ein, auf vollständiges Durchglühen der Kohle zu achten und den Ofen nicht vorzeitig zu schließen, da sich sonst tödliche Gase bilden würden.
In diesem Zimmer auf der Couch schlief auch mein älterer Bruder Ralf und hatte damit ein besonderes Privileg: eine eigene Schlafstelle. In dem anderen, dem zweiten Zimmer der Laube stand das Ehebett, in dem wir zu viert schliefen, unsere Mutter und wir drei anderen Kinder. Das Bett hatte mein Vater aus unserem zerbombten Haus in der Sickingenstraße gerettet und notdürftig repariert.

Das »Schlafzimmer«, der schmale Gang zwischen Außenwand und Bett, wurde durch einen Kanonenofen beheizt, dessen Rohr durch die Wand nach außen geführt wurde. Dieser Ofen wurde zwar schnell sehr heiß – wir konnten auf seiner Platte sogar Wasser zum Kochen bringen –, kühlte aber auch ebenso schnell wieder aus, wenn Holz oder Kohle verglüht waren.

Kinderspiele und Tauschhandel

Die Versorgung mit Essen, Brennmaterial und Kleidung blieb das große Problem jener Tage des so genannten Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg. Immer zu Beginn des Winters musste genügend Holz im Schuppen gestapelt sein, damit es gut austrocknen konnte. Diesen Neuanfang, wie er in Zeitanalyen heute oft bezeichnet wird, empfanden viele damals eher als Strafe für die Nazizeit. Andere wollten sich einfach so heil wie möglich in bessere Zeiten retten. Was wir in dieser Zeit machten, lässt sich zusammenfassend mit einem Wort ausdrücken: überleben. Das war viel. Eigentlich war es alles. Dass wir überlebten, ohne schweren psychischen Schaden zu nehmen, ist, so denke ich heute, auch das Verdienst der Religion.

Mit einigen hundert Quadratmetern Gartenfläche, etwa zehn guten Obstbäumen, einigen Hühnern, Kaninchen und zeitweise sogar zwei Gänsen war unsere Zusatzversorgung an Nahrungsmitteln gesichert. Unsere Gänse trugen richtige Namen, auf die sie auch hörten.

Wir Kinder hatten die Aufgabe, sie zu hüten. Laut schnatternd warteten sie hinter der Gartentür darauf, ausgeführt zu werden. Zuerst ging einer von uns den schmalen Zimmermannsweg etwa 50 bis 100 Meter in Richtung Wiese vor und wartete am Ende des Weges. Waren Menschen unterwegs, machte der andere das Tor auf und ließ die Gänse hinaus. Unverzüglich setzten sie sich laut schnatternd in Bewegung und schwebten knapp einen Meter über dem Boden ihrem Ziel entgegen. Die Fußgänger drückten sich dabei ängstlich an die Gartenzäune, denn die Gänse entwickelten eine beachtliche Geschwindigkeit. Passiert ist dabei nie etwas, denn Gänse haben eine ausgezeichnete Navigation. Doch das wussten die Leute offenbar nicht. Unsere Mutter musste sich wegen unseres Spiels hin und wieder Klagen anhören.

Beliebt bei uns Kindern war auch das so genannte Fliegenspiel. Fliegen waren auf dem Laubengelände mit Plumpsklo vor allem im Sommer ungeheuer zahlreich. Heute hätten wir das wohl gar nicht spielen können. Bei dem Fliegenspiel hanelte es sich um eine Art Geschicklichkeitswettbewerb. Jeder Teilnehmer erhielt eine Schüssel mit Wasser; in einer bestimmten Zeit musste man mit der Hand so viele Fliegen fangen wie möglich und diese in die Wasserbehälter schmettern. Am Ende der Spielzeit wurden die schwimmenden Fliegen gezählt. Derjenige, in dessen Behälter die meisten Fliegen schwammen, hatte gewonnen. Mein Rekord: 36 Fliegen für eine Stunde Fangarbeit mit der Hand. Meist spielte ich gegen meine jüngeren Brüder Hartmut und Peter; Ralf beteiligte sich nicht daran, er fand das Spiel unter seiner Würde.

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Autor
Wolfgang Rinnebach, geb. 1935 in Berlin. Schulbesuch in Berlin, Oberschlesien, Oberbayern, Sachsen und in den USA.
1955 Abitur in Berlin. Studium der Volks- und Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin. Abschluss als Diplom-Volkswirt.
1964-1993 in einem internationalen Pharmakonzern in Leitungsfunktionen tätig. Seit 1993 im Ruhestand.