B u c h v o r s t e l l u n g u n d L e s e p r o b e n

Wo morgens der Hahn kräht
Unvergessene Dorfgeschichten
Band 1: 1914–1945
Band 2: 1945–1968

jeder Band 192 Seiten,
viele Abbildungen, Ortsregister.
ISBN 3-86614-118-1 (Bd. 1)
ISBN 3-86614-119-X (Bd. 2)

je 6,90 Euro,
Zeitgut Verlag, Berlin, 2006,
Auswahl-Taschenbuch.


Hier hören Sie den
Hahn krähen,
Kühe muhen und
Schafe blöken.

Band 1

1914-1945

Band 2

1945-1968

Kurzbeschreibung

Auf Wanderschaft zur Sommerweide
Dorfgeschichten 1914–1968

Ein Sonntag im Jahr 1925: Ein ganz besonderer Tag für alle Dorfbewohner. Die harte Arbeitswoche ist vorüber und die Familien nutzen die Zeit für ein bisschen Müßiggang. Es sind Kleinigkeiten, die den Sonntag zum Festtag machen: Das Plaudern mit Bekannten nach der Heiligen Messe, Weißbrot zum Frühstück, mit dem Vater Spazierengehen, Himbeersaft zum Pudding, ein Mittagsschläfchen machen.

Authentischen Erinnerungen aus vergangener Zeit, machen diese Sammlung von Dorfgeschichten aus ganz Deutschland so spannend. Aus über 1.000 Zeitzeugen-Erinnerungen des Zeitgut-Archivs sind 55 ausgewählt worden und liegen nun als zweibändige Taschenbuch-Ausgabe vor. Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erinnern sich an die Zeit von 1912 bis 1968 und bringen ein halbes Jahrhundert Geschichte in greifbare Nähe.

Das Leben auf dem Land ist durch harte Arbeit auf Feld und Hof geprägt. Sehnsüchtig wird die nächste Kirmes erwartet, die einmal im Jahr, meist im September, stattfindet. Jung und alt haben dort die Gelegenheit, zu feiern, es wird zum Tanz geladen – froh und ausgelassen, vergisst man für eine Zeit das anstrengende Alltagsleben.

Währen der Kriegszeit werden viele Stadtkinder in ländliche Umgebungen geschickt. „Das also ist das Land, das Feld. Es riecht nach Kuhstall“, erinnert sich der 9jährige Harry an seine Ankunft im thüringischen Eichsfeld. Für den Jungen aus Berlin ist das Landleben aufregend. Er erlebt seine erste Kutschfahrt, hilft bei der Runkelrübenernte mit und genießt das reichhaltige Frühstück: in Würfel geschnittenes Graubrot, das mit Malzkaffee, frischer Milch und Zucker serviert und „Bröckchen“ genannt wird.

In den 50er Jahren kommen dann die ersten elektrischen Weidezäune in Mode. Doch wozu teuere Batterien kaufen, wenn der Strom gleich aus der Melkkammer nebenan fließen kann? Der Bauer macht sich ans Werk und bastelt flink aus isolierten Haken, dünnen Drähten und ein paar Holzpfählen einen elektrischen Weidezaun. „Rosa, laß die Küah raus, dr Zau isch fertig!“, ruft er stolz. Schon erreicht die erste Kuh den Zaun, berührt ihn und fällt wie vom Blitz getroffen um. Dass nicht auch der Bauer, der die kostbaren Kühe retten will, fast sein Leben lässt, hat er seiner Frau zu verdanken.

Über ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte ist in den zwei Bänden „Wo morgens der Hahn kräht“ zu finden. Die Erinnerungen sind interessant für diejenigen, „die diese Zeit miterlebt haben, und ihre Kinder und Enkel, die mehr erfahren wollen, als in den üblichen Geschichtsbüchern zu lesen ist.“ (Westfälische Rundschau)


Leseproben: »Wo morgens der Hahn kräht«

Band 1: Margot Linke: Das Huhn "Tuck-Tuck"
Band 1:
Harry Banaszak: Plötzlich habe ich zwei Schwestern (Auszug)
Band 2: Hildegard Kupko: Saure Gurken vom Feld
Band 2: Georg Hörmann: Der elektrische Weidezaun
Band 2: Bärbel Böhme: Ein tierischer Hochzeitstag


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Leseprobe aus: Wo morgens der Hahn kräht, Band 1

[am Ortsrand von Gröditz bei Riesa/Elbe,
Sachsen; 1930/31]

Das Huhn „Tuck-Tuck“
von Margot Linke

Unsere Nachbarn hatten hinter dem Haus einen kleinen Hühnerstall mit fünf bis sechs Hühnern und seiner Majestät, dem Hahn. Der Bursche ließ niemanden in die Nähe seiner Frauen. Also mußte ich mit vielen Tricks und gutem Futter seine Gunst erobern. Das gelang mir auch sehr bald. Allerdings jagte er seine Damen weg, sobald ich Leckerbissen für alle brachte. Bei Regenwürmern war der Kampf groß.

Als Küken ausschlüpften, war ich nicht mehr zu bremsen. Frau Beck, die Nachbarin, erlaubte mir, die kleinen gelben Wollknäuel in die Hand zu nehmen und zu streicheln. Ein kleines Küken piepste immer, wenn ich in die Nähe des Hühnerstalles kam. Sehr bald kannte es meine Stimme und begrüßte mich mit „Tuck-Tuck“. Unsere Freundschaft war besiegelt. Es war ein besonders kluges Hühnchen. Auf meinen Ruf hin lief es bald hinter mir drein ins Haus und hüpfte die Treppenstiege hinauf. Kam ich mit dem Puppenwagen angefahren und rief: „Komm, Tuck-Tuck!“, nahm es Anlauf und flatterte in den Wagen. Manchmal setzte ich ihm eine Pudelmütze auf und legte ihm einen Schal um. Es sieht lustig aus, wenn Hühner „feingemacht“ werden. Das wagte ich freilich nur, wenn kein Erwachsener in der Nähe war.

Ein besonders kluges Hühnchen war mein Spielgefährte. Auf dem Osterfoto „Tuck-Tuck“ und ich im Partnerlook.

Mein Vater fotografierte sehr gern. Er suchte sich immer Motive aus, die uns Kinder zusammen mit Blumen und Tieren zeigten. Zum Geburtstag, zu Ostern, zu Weihnachten, zu Hochzeiten und zu anderen Anlässen verschickte er an alle Verwandten und Bekannten seine Karten. Wir Kinder waren nicht begeistert, wenn es hieß: fünf Minuten lächeln und stillhalten! Auf der Osterkarte mußte mein „Tuck-Tuck“ die liebevolle Kükenmutter spielen. Sie sah mir zu, als wollte sie sagen: „Ich bin zu Höherem berufen, als mich mit dem kleinen Volk herumzuärgern.“

Im Herbst suchte ein kleiner Wanderzirkus für sich und seine Tiere ein Winterquartier. Hinter unserem Garten war ein ehemaliger Sportplatz, der dem Zirkus zur Verfügung gestellt wurde. Alle Nachbarn halfen der Zirkusfamilie. Oft wunderte sich meine Mutter: „Wo ist denn schon wieder das Brot geblieben, heute morgen war es doch noch da?“

Aus unserem und den Kellern der Nachbarn holten wir gelbe Rüben und Gemüse, das zur Überwinterung in Sand gelagert wurde. Mein Bruder sägte ein Loch in unseren Gartenzaun, damit wir schnell zu den Tieren gelangen konnten. Wir durften sie füttern, bürsten, mit ihnen spazierengehen und sogar darauf reiten. Ich erzählte dem Herrn Zirkusdirektor, daß ich eine besonders kluge Henne hätte und sie ihm unbedingt zeigen müsse. Voller Stolz führten wir die Kunststücke vor. Wenn ich ihr noch einiges beibrächte, könnte ich im Frühjahr bei ihm auftreten, meinte er. Ich war fest entschlossen, einmal Frau Zirkusdirektorin zu werden.

Der Frühling kam und meine Tuck-Tuck war die Schönste, ja die allerschönste Henne auf der ganzen Welt. Nachbars Tochter rüstete für ihre Hochzeit. Der Bräutigam oder ein Verwandter sollte für die Hochzeitssuppe ein Huhn schlachten. Am nächsten Tag lagen vor unserer Tür „Tuck-Tucks“ Kopf, die Füße und zwei Federn! Das war für mich ungeheuerlich, und ich habe lange getrauert.

Die Jahre vergingen, den kleinen Hühnerstall gab es nicht mehr. Beide Söhne hatten sich im Nachbardorf eine Hühnerfarm gekauft. Als der Krieg begann, gab Mutter Beck alles auf und zog allein in das Anwesen. Mit aller Kraft wollte sie den Söhnen, die jetzt Soldaten waren, die Existenz erhalten. Ein Sohn fiel in Rußland, der zweite war vermißt. Frau Beck hoffte lange, daß der verschollene Sohn wiederkommen würde. Ihre drei Töchter fuhren täglich mit dem Fahrrad zur Mutter. Sie wurde still und stiller. Als keine Aussicht auf eine Heimkehr mehr bestand, starb sie.

Aus: „Zwischen Kaiser und Hitler“. ZEITGUT Band 15.


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Leseprobe aus: Wo morgens der Hahn kräht, Band 1

[Berlin – Kaltohmfeld nahe Worbis, Eichsfeld, Thüringen;
März 1940–Herbst 1943]

Plötzlich habe ich zwei Schwestern (Auszug)
von Harry Banaszak

[Der kleine Harry aus Berlin wird im März 1940 im Zuge der Kinder-Landverschickungen, aufs Dorf ins thüringische Eichsfeld geschickt. Harry ist gerade bei seiner neuen Familie angekommen … ]

Onkel Erich und ich betreten das Haus durch einen kleinen Vorbau mit ein paar Stufen zur Diele, von hier führt eine gerade Holztreppe zu den oberen Räumen. Gleich vor der Treppe rechts ist die Küche. In der Küche steht eine Eckbank, davor der große Tisch, ein paar Stühle und der Küchenschrank. Es ist eine große Wohnküche. Im Küchenherd brennt Feuer, Wasser kocht in einem Topf, neben dem Herd steht die große Kiste mit dem Feuerholz und eine Bank mit zwei Zinkeimern voll Wasser. Brunnenwasser. Von der Küche führt eine Tür ins Nebenzimmer. Überall sind Leute. Sie sitzen, stehen, schauen mich an. Onkel Erich sagt: „Das ist jetzt unser Junge, er heißt Harry.“

Zwei Mädchen, eines mit langen blonden Zöpfen, das andere mit einer Schleife im Haar, kommen auf mich zu und sagen: „Ich bin die Anni“ und „ich bin die Irma.“

Sie lachen mich an. Und plötzlich habe ich zwei Schwestern. Ich spüre das genau. Die Frau mit dem Kopftuch ist die Mutter, für mich Tante Lina.



Das sind Anni und Irma, sie sind von nun an meine beiden Schwestern.

Tante Lina sagt nun zu mir: „Anni wird auch neun Jahre alt, so wie du, und Irma kommt im nächsten Jahr zur Schule, sie ist fünf.“ Sie zeigt auf die anderen: „Das sind Großvater Karl und Albert. Otto ist gerade draußen und versorgt die Pferde und Carl – noch ein Bruder von Onkel Erich – füttert die Schweine und die Kühe. Frieda, die Schwägerin, die Frau vom jüngsten Bruder Paul ist in ihrer Stube. Paul ist an der Front.“

Jetzt weiß ich Bescheid. Ich bin von einer großen Familie aufgenommen worden. Am meisten gefällt mir, daß ich zwei Schwestern habe. Tante Lina hat mich zur Begrüßung in den Arm genommen, das überrascht mich. Ich kenne nur Küßchengeben auf die Wange, ob bei der Begrüßung oder beim Abschied, und das gute Händchen geben und den Diener machen. Ich merke gerade, daß ich zum Dienermachen noch gar keine Gelegenheit hatte. Trotzdem sind alle auch so sehr freundlich zu mir.
Zum Schlafen geht es ab nach oben. Im Schlafzimmer, mit einem Fenster zum Hof, stehen zwei Ehebetten, ein Schrank, zwei Nachtschränke.

„Unser Zimmer mit Vater und Mutter“, erklärt Anni. Sie zieht sich aus, schlüpft ins Nachthemd, Irma ebenfalls, und beide hüpfen in das linke Bett vom Fenster. Ich zögere, warte.
„Na los“, sagt Tante Lina, „hier am Fußende bei den Mädels ist dein Kopfkissen.“

Etwas fremdelnd lege ich mich dann doch mit unter das gemeinsame Federbett zu Anni und Irma. Sie kichern und albern noch ein Weilchen herum, ich aber bin nach diesem aufregenden und erlebnisreichen Tag sofort tief eingeschlafen.

Das Krähen des Hahnes, lautes Kleinviehgegacker, Hundegebell und eine Reihe mir unbekannter Geräusche wecken mich. Die hellsten Sonnenstrahlen, die ich je gesehen habe, scheinen mir ins Gesicht. Die Mädchen sind nicht mehr da. Sie sind schon unten. Ich höre sie in der Küche lachen. Bestimmt frühstücken sie schon. Schnell ziehe ich mich an. Zum Frühstück gibt es Bröckchen. Bröckchen sind in Würfel geschnittenes Graubrot mit Malzkaffee und frischer Milch übergossen und zwei Teelöffel Zucker darüber. Wir essen die Bröckchen aus einer großen Tasse. Holzfeuer prasselt unter der Herdplatte. Das Wasser im Topf kocht immer noch oder schon wieder. Tante Lina schält Kartoffeln. Vom Küchenfenster aus sehe ich den Misthaufen mitten im Hof, dahinter die Scheune mit weitgeöffnetem Scheunentor. Und Hühner, den Hahn, der mich vorhin so fröhlich weckte, eine Gruppe Gänse, ein paar Enten. Alles schnattert und gackert durcheinander.


Tante Alwine und die ganze Ferkelei. Ein Foto aus den 30er Jahren.

„Vater ist mit den Pferden und dem Wagen in Worbis“, sagt Anni, als ich nach Onkel Erich frage. „Vater fährt täglich die Milch von Kaltohmfeld und von Kirchohmfeld zur Molkerei.“
„Und wer macht den Bauernhof ?“ frage ich, denn daß auf dem Feld gearbeitet werden muß, um zu ernten, weiß ich schon aus dem Lesebuch der dritten Klasse.

„Um die Landwirtschaft kümmern sich vorwiegend Mutter und Großvater, Carl, Otto und Albert helfen dabei. Vater arbeitet am Nachmittag nach dem Milchfahren mit den Pferden auf dem Feld“, sagt Anni. „Viel Arbeit für Max und den Braunen. Aber manchmal läßt Großvater auch die beiden Kühe anspannen. Die sind eine gute Hilfe.“

Wir Kinder gehen ins Dorf. Die Mädchen wollen mir die Schule zeigen.

„Das da, das gelbe Fachwerkhaus neben der Kirche ist unsere Schule. Sie ist 1836 gebaut worden und jetzt 104 Jahre alt. Wir haben nur einen Klassenraum und einen Lehrer für alle Schuljahre“, klärt mich Anni auf, und sie sagt: „Aber es macht trotzdem Spaß, ich mag die Schule. Du auch?“

„Das wird schon die dritte Schule sein, die ich seit meiner Einschulung besuche. Meine Lehrer waren immer sehr streng, vorige Woche vor den Osterferien bin in die vierte Klasse gekommen, mit vier Zweien und vier Dreien.“

Mit dieser Antwort sind die Mädchen zufrieden. Über Schule wird nicht mehr gesprochen. Jetzt sind Ferien. (...)


Irma und ich während der Getreideernte 1940.

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Leseprobe aus: Wo morgens der Hahn kräht, Band 2

[Kleinobringen bei Weimar, Thüringen;
Anfang der 50er Jahre / um 1930]

Saure Gurken vom Feld
von Hildegard Kupko

Mein Onkel Adolf war weithin bekannt für seine Lausbübereien. Der „Schwede“ – so wurde er genannt, weil am 2. Februar 1897 geboren und an diesem Tag Gustav Adolf in alten Kalendern stand – war ein typischer Wassermann und ein richtiger Sausewind. Immer zu Scherzen aufgelegt, bei der Arbeit ein Lied auf den Lippen, und pfeifen konnte er schrill ganz aus dem Effeff. Im Ersten Weltkrieg war er bei den Sanitätern gewesen, und nachdem er den ohne Verletzung überstanden hatte, lernte er Dachdecker.

Seine Braut hatte Onkel Adolf aus der Rhön mitgebracht, und sie heirateten Anfang der 20er Jahre. Sieben Kinder schenkte sie ihm, zwei starben als Babys, der Älteste fiel im Zweiten Weltkrieg in Rußland. Ihre Heimat war Kleinobringen, ein Dorf mit 50 Wohnhäusern hinter dem Ettersberg, von Weimar aus gesehen. Auch ich wohnte in meinen ersten sechs Lebensjahren dort, bevor meine Eltern wegen der Arbeit 1926 nach Weimar zogen.

Eines Abends juckte dem Onkel wohl wieder das Fell, er hatte Durst und wollte gern auf Kosten anderer einen trinken. Er ging in die Schenke und erzählte beiläufig, daß er nochmal aufs Krautland müßte, um nach den Gurken zu sehen. Das „Krautland“ war ein uneingezäuntes, von einem Acker begrenztes Stück Land, auf dem die Leute Gemüse anbauten. Es lag an der Rassel, einem kleinen Bächlein vor dem Dorfe.

„Was, heute abend nochmal aufs Krautland – warum denn das?“, fragten die Männer.


„Na, ich mache da ein Experiment, und wenn es gelingt, dann habe ich ausgesorgt. Ihr werdet staunen! Was gilt die Wette? – Eine Flasche Schnaps!“

Das war sein Angebot.

Neugierig wie Schmidt’s Heppe bedrängten sie ihn nun, bis er Einzelheiten von seinem Experiment preisgab. Er habe Gurkenkerne zum Vorkeimen statt mit Wasser mit blankem Gewürzessig angesetzt, die Pflanzen hätten sich gut entwickelt. Nach dem Vereinzeln im Beet habe er sie weiterhin halb mit Essig und halb mit Wasser gegossen. Nun sei es soweit, daß er die ersten größeren Gurken ernten könne, und die wolle er heute abend noch probieren.

Keiner wollte das Ereignis verpassen, es war ja zu großartig, geradezu „nationalpreisverdächtig“!
So machten sich die Kneipenbrüder gemeinsam auf den Weg zum Krautland, Onkel Adolf ging schnell vorneweg und holte von daheim eine Taschenlampe.
Dort angekommen, sichteten sie das Gurkenbeet und ernteten. Die Männer wischten das Erdreich an der Hose ab und verzehrten scheibchenweise die größten Gurken – und herrje, die waren ja sauer, wahrhaftig sauer!

Das Foto zeigt Onkel Adolf und mich Ende der vierziger Jahr auf dem Krautland.

Der „Schwede“ hatte seine Flasche Schnaps gewonnen!
Einige Tage danach kam mein Onkel bei uns in Weimar vorbei und erzählte wie immer das Neueste vom Dorf, auch den Jux mit den sauren Gurken. Mutter und ich haben lauthals gelacht und fragten, wie er das denn angestellt habe.

„Ihr wißt doch“, begann er mit spitzbübisch glitzernden Äuglein, „daß ich im Krieg bei den Sanitätern war. Ich habe mir ein paar Spritzen mit heimgenommen; denn man kann ja nie wissen, ob man die im späteren Leben nicht mal braucht. Und nun fiel mir dieser Spaß ein, zu dem sie mir nützlich sein sollten. Ich zog in zwei Spritzen Essig auf und ging so bewaffnet am Nachmittag aufs Krautland. Von bestimmten Pflanzen spritzte ich die größten Gurken, die, schön durchgezogen, das gelungene Experiment vorgaukelten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie begeistert meine Kumpane von den sauren Gurken waren!“
„Und du hast ihnen später gesagt, wie es sich verhält?“ fragte meine Mutter.
„Ach wo, ich wollte ihnen doch nicht die Freude verderben. Sie wollten zur Kreisleitung und dort die Geschichte erzählen. Am Ende käme für mich, wenn schon nicht der Nationalpreis, so doch ein ,Held der Arbeit' oder aber bestimmt eine saftige Prämie heraus, meinten sie. Wenn es dann an der großen Glocke hängt, ist immer noch Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken“, endete Onkel Adolf.

Wie die Sache ausgegangen ist, habe ich leider nie erfahren, denn die Hereingelegten haben das gewiß nur ungern zugegeben, geschweige denn weitererzählt.

Bei einer zweiten Geschichte, die sich bereits Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre zugetragen hatte, spielte Onkel Adolf mit offenen Karten. Der Chef schickte ihn zu einem größeren Bauern in Ramsla, etliche Kilometer von Weimar entfernt, dort solle er das Haus mit einem Schieferdach neu eindecken. Wie damals üblich, hatte der Auftraggeber für das Frühstück zu sorgen, was jedoch nach Onkels Meinung bei diesem Bauern viel zu mager ausfiel. Das ärgerte ihn so sehr, daß er beschloß, ihm einen Denkzettel zu verpassen. In der Mittagspause saß Onkel Adolf also in einer Ecke bei seinen Schiefertafeln und kritzelte mit einem großen Nagel immer wieder Striche, Dreiecke und Rhomben in dieselben Kerben, sie sahen aus wie Hieroglyphen. Dann bearbeitete er die Striche mit Spucke, so daß sie nicht mehr weiß, sondern schön alt aussahen. Er nahm dazu die größten, also schwersten Platten.

Als das Dach fast vollständig gedeckt und nur noch die größten, die Eckplatten, übrig waren, sagte er zu dem Bauern: „Ich weeß nich, ich weeß nich, die Platten dort haben alle Zeichen, ich denke schon gar, die haben Steinzeitmenschen gemalt. Gucken Sie sich die nur mal an! Ich gebe Ihnen den guten Rat, die Platten nach Weimar ins Museum für Urgeschichte zu bringen, Sie würden sich gewiß um die Wissenschaft verdient machen.“

Der Bauer besah sich die Schieferplatten gründlich und von allen Seiten – am Ende steht er vielleicht sogar in der Zeitung!
Also spannte er seine zwei Ochsen an den Leiterwagen, die Platten wurden sorgfältig in mehrere Decken gehüllt und los ging’s, den Ettersberg hinauf Richtung Weimar. Im Museum angekommen, wurde die Fuhre untersucht und von Herrn Direktor Müller genauestens begutachtet. Mit lächelnder Miene meinte der abschließend: „Guter Mann, da sind Sie wohl einem echten Spaß auf den Leim gegangen.“
So zitierte der Blamierte wütend den Museumsdirektor, als er meinem Onkel über den Ausgang der Geschichte berichtete.
„Ja, mein Guter“, hat der gesagt, „wenn das Frühstück ein bißchen üppiger ausgefallen wäre, dann hätten Sie sich diesen Weg ersparen können.“

Seinem Nachwuchs gegenüber verstand mein Onkel allerdings weniger Spaß. Denn er selbst hat seine Kinder der Reihe nach vermöbelt, wenn sie dummes Zeug gemacht haben. So war das eben in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts. Im Alter von 89 Jahren starb Onkel Adolf 1986 in einem Altersheim. Seine Streiche aber hatten sich herumgesprochen bis in den letzten Winkel.
Einmal kaufte ich Blumen in Schöndorf, bei der Gärtnerei Speck, die heute noch besteht – ich wollte sie auf unsere Gräber in Kleinobringen pflanzen.
„Wohin wollen Sie denn mit den Blumen?“, fragte Herr Speck, „Sie sind doch keine Hiesige.“
„Nach Kleinobringen will ich.“
„Wen haben Sie denn da?“
„Beck’s Adolf, das ist mein Onkel.“
„Kenn’ ich nicht.“
„Alle nennen ihn den Schweden“, erklärte ich.
Darauf verzog sich Herrn Specks Gesicht zu einem Schmunzeln: „Ach der, den kennt doch jeder hier ...“

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Leseprobe aus: Wo morgens der Hahn kräht, Band 2

[Neuburg/Kammel,
Bayern; 1953]

Der elektrische Weidezaun
von Georg Hörmann

„Büable, morga nachmittag brauscht nit Küah hüata, denn bis dau na han i mein elektrischa Zau fertig“, rief mir mein Onkel, freudig erregt entgegen, als ich mittags, von der Schule kommend, an seinem Bauernhof vorbeilief.

Das war mit gerade recht, so konnte ich mit meinen Freunden am Kammelwehr zum Baden gehen. Mein Onkel hatte eine kleine Landwirtschaft, und in den Sommermonaten hütete ich seine Kühe gegen ein willkommenes Trinkgeld öfters auf der Weide.

Es war in den 50er Jahren, als in meiner Heimat die ersten elektrischen Weidezäune aufkamen. Zu einer solchen Anlage gehörten spezielle Batterien, das entsprechende Gerät für die Umwandlung des Batteriestroms in deutliche spürbare Stromschläge, Draht für die Stromleitung um die Wiese und Pfähle oder eiserne Pflöcke mit isolierten Drahthaltern. Natürlich war das alles nicht ganz billig, so daß die Anschaffung für einen sparsamen schwäbischen Bauern mit einigen inneren Widerständen verbunden war.

Mein Onkel, der bekannt für seine Basteleien war, hatte sich bei der BayWa*) die neue Erfindung angeschaut und nach kurzem Überlegen entschlossen, den Elektrozaun selbst nachzubauen. „Dös wär ja no schöner, wenn i dös net nabringa dät“, sagte er zu seiner Frau, „onsra Wiesn isch ja glei henterm Stall, do brauch i doch koi duira Batterie kaufa, wenn i da Strom glei aus der Steckdos von der Melkkammer nemma ka.“

Gesagt, getan! In die Pfähle des alten Stacheldrahtzaunes drehte er vorschriftsmäßig Stifte mit isolierten Haken und zog einen dünnen Draht, diesen um die Stifte wickelnd, von Pfahl zu Pfahl um die Wiese. Für die letzten 20 Meter von der Wiese über den Hof bis zur Melkkammer verwendete er eine isolierte Leitung, weil ja diese, auf dem Boden liegend, sonst den Strom ins Erdreich abgeleitet hätte. Er klemmte die Drahtenden in einen Stecker und drückte ihn in die Steckdose. Der Weidedraht stand unter Strom!

Da er sich schon dachte, daß der Haushaltsstrom etwas stärker sein könnte als der offizielle Batteriestrom, versäumte er nicht, an der Seite zum Nachbargrundstück noch ein Schild mit der Aufschrift
„Vorsicht – Elektrozaun – Lebensgefahr!“
an einen Pfahl zu hängen.

„Rosa, laß die Küah raus, dr Zau isch fertig!“, rief er seiner Frau im Stall zu.

Diese öffnete die Tür und schnell eilten die hungrigen Kühe nach der abendlichen Melkzeit der Wiese zu. Der Bauer schloß die Stangen zum Wieseneingang und blickte stolz und erwartungsvoll auf sein Werk.
Inzwischen erreichte die erste Kuh den Zaun. Sie streckte den Kopf unter dem Elektrodraht zu den saftigen Grasbüscheln der Nachbarwiese und berührte mit dem Nacken den geladenen Draht. Wie vom Blitz getroffen fiel sie um, wobei sich der Draht im Gehörn verfing. Eine zweite Kuh, erstaunt über die im Gras liegende Genossin, schnupperte neugierig an dieser, berührte sie kurz mit ihrem Maul und wurde schlagartig, wild mit den ausgestreckten Beinen zuckend, umgeworfen.

Der Bauer starrte zunächst wie gelähmt auf die Geschehnisse, sprang dann auf die Wiese, um die regungslos am Boden liegenden Kühe vom Zaun wegzuziehen. Er packte den Kopf der zweiten Kuh, der auf dem Bauch der ersten lag, und – stürzte augenblicklich ebenfalls zu Boden, wo er bewußtlos liegenblieb.

Inzwischen war auch seine Frau, die ihrem Mann vergeblich vor dieser Elektrobastelei gewarnt hatte, aus dem Stall gekommen und sah das Unglück. Schnell entschlossen zog sie, die Ursache erkennend, den Stecker der elektrischen Leitung aus der Dose und näherte sich den auf der Wiese liegenden Geschöpfen. Da schlug der Bauer langsam wieder seine Augen auf. Allmählich erholte er sich von seiner Bewußtlosigkeit, blickte um sich und sah das Ergebnis seiner Sparsamkeit: zwei tote Kühe!

Zu seiner Frau aber sagte er: „Rosa, i glaub, meine Gommistiefel, dia du mir zum Namenstag gschenkt hast, hand mir’s Leba grettat.“
Wenn man den Wert einer Kuh in der damaligen Zeit bedenkt – das Fleisch konnte nur noch für einen Spottpreis auf der Freibank verkauft werden – hatte sich das Sprichwort wieder einmal bewahrheitet: „Jeder Sparer hat seinen Zehrer.“ Die Bauernbuben vom Dorf aber dichteten:

Salomon der Weise spricht:
Kühe hüten mag ich nicht!
Darum muß der Starkstrom her,
und gescheh’n ist das Malheur:
Ja, die Kuh lag schon am Boden,
er muß den Metzger Gottfried holen.

Damit war bei meinem Onkel die moderne Technik vorerst gestoppt und ich konnte als Hütebub wieder ein paar Mark verdienen.

Aus: „Schlüssel-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 6.

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Leseprobe aus: Wo morgens der Hahn kräht, Band 2

[Seehausen und Podelwitz bei Leipzig, Sachsen,
damals DDR;
Ende der 60er Jahre]


Ein tierischer Hochzeitstag
von Bärbel Böhme

Gewöhnlich verbringt man seinen Hochzeitstag zu zweit oder mit den Kindern in gemütlicher Runde. Von besonderen Ereignissen wird erzählt und angestoßen auf weitere harmonische Ehejahre. Bei uns verlief ein 17. Dezember - nämlich unser Hochzeitstag - Ende der 60er Jahre ganz anders.
Wie zu DDR-Zeiten auf dem Dorf üblich, hielten viele Einwohner Schweine, Hühner, Kaninchen und andere Haustiere, um den Speisezettel zu bereichern und die Haushaltskasse aufzufüllen. So grunzte auch bei uns eine Jungsau im Stall, die ausgerechnet an diesem Tag Hochzeit machen wollte und sollte. Der Wunschbräutigam, ein stattlicher Zuchteber, wohnte etwa vier Kilometer entfernt im Nachbardorf. Mit viel Mühe verfrachteten wir also die Sau auf einem sogenannten Disco-Hänger, einem kleinen Autoanhänger, der mit Preßplatten aus Pappe rundum verkleidet war. Der Hänger sollte von unserem braven Trabi gezogen werden. Los ging es also über die Verbindungsstraße von Seehausen nach Podelwitz. Ein Schlagloch immer breiter und tiefer als das vorherige, Schneeregen und Dunkelheit. Links am Weg eine lange Hecke und rechts freies Feld. Der Hänger hüpfte brav hinter dem Trabi her. Plötzlich ein Knirschen und Krachen!
Nach dem Aussteigen blickten wir in ein ebenso verdutzt dreinschauendes Schweinegesicht. Die Pappe hatte nicht standgehalten und das Schwein steckte seinen Kopf laut grunzend aus dem klaffenden Loch. Mir wurde übel vor Angst bei der Vorstellung, das Tier könnte sich vollends aus dem Hänger befreien, und wir müßten es auf dem matschigen Feld verfolgen. Eine Horrorvorstellung!
Mein Mann sicherte die Öffnung notdürftig, und nach kurzer Zeit erreichten wir ohne weitere Zwischenfälle den Hof, wo sich der Eber befand. Die Hochzeit fand statt, und unsere Sau wurde in einem geliehenen richtigen Schweinetransportkasten wieder zurückkutschiert.
Das Ergebnis waren zehn quicklebendige, rosige Ferkelchen. Aber das Drama ging weiter: Unsere Sau war eine miserable Mutter. Sie schleuderte ihre Kinder mit der Schnauze durch den Stall und griff jeden, der sich ihr näherte, mit lautem Grunzen an. So wurden die Ferkel in einem großen Korb in den Nachbarstall bugsiert und ihr nur zum Säugen angelegt. Sobald ihrer Meinung nach die Zeremonie beendet war, war artistisches Können gefragt. Mein Mann mußte sich und die Ferkel mit einem Sprung über die Mauer schnell in Sicherheit bringen. Es waren turbulente Wochen, bis die Ferkel selber schnell genug durch ein in die Trennwand gestemmtes Loch vor ihrer Mutter flüchten konnten.

Mit einem "Disco"-Anhänger versehen, diente unser Trabi auch zum Transport der Sau zur Schweinehochzeit.

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