Buchvorstellung und Leseproben

 

Also packten wir es an
Deutschland 1945-1949

Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
384 Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister, Chronologie, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 21,
Zeitgut Verlag, Berlin.

EUR 12,90 ISBN: 3-86614-121-1

Kurzbeschreibung


Leseproben: »Also packten wir es an«

Elisabeth Dörffel: Kinder suchen ihre Eltern
Lucie Spogat: Die falsche Marzipantorte
Anneliese Albrecht: Kahnsuppe


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[Berlin,
1946–1949]

Elisabeth Dörffel hilft im Januar 1946 bei der DEFA-Produktion "Augenzeuge" mit. Der "Augenzeuge" war eine aktuelle Wochenschau, die sich unter anderem der Menschen annahm, die ihre Angehörigen suchten. Ihre Aufgabe war die Durchführung der Suchaktion, in der Kindern ihre Eltern suchten oder Eltern ihre Kinder.

Kinder suchen ihre Eltern (Auszug)
von Elisabeth Dörffel

Einmal besuchten wir den Zoologischen Garten in Berlin. Eine lange Schlange von Kindern strömte, begleitet von Pflegeeltern oder Kinderheimpflegerinnen, durch das Haupttor. Wir hatten sie eingeladen, um hier die Außenaufnahmen für unsere Bilderreihe „Kinder suchen ihre Eltern“ zu machen. Für viele Kinder war es der erste Besuch in einem Zoo, und oft erschallte lautes Lachen zwischen den Aufnahmen. Die Kinder waren entspannter, gelöster als im Atelier. Den 13-Jährigen Werner Kolmer, der auf der Flucht aus Danzig seine Mutter und vier Geschwister verloren hatte, nahmen wir als ersten auf. Faul lümmelten im Hintergrund die Löwen im Gras herum, während Werner mit einem Schildchen mit seinem Namen vor der Brust gefilmt wurde. Hoffentlich sieht ihn seine Mutter bald irgendwo im Kino, dies war mein größter Wunsch bei jedem gefilmten Kind.

Bubi Vollandt vor der Kamera im Berliner Zoo. Links im Bild stehe ich. Unten im Bild das Motto für den Vorspann des Augenzeugen.

Das nächste Motiv sind schwarze Schafe. Ein kleiner Dreijähriger wird hier vor die Linse genommen. Ganz ängstlich blickt er in die Kamera, noch ängstlicher horcht er auf das Surren der Kamera, aber als das Mutterschaf mit einem lauten „Määh“ die vielen Kinder begrüßt, muß er doch lächeln. Klein Helga krault dem Pony den Kopf und ist nicht zu bewegen, in die Kamera zu sehen. So lasse ich den Hampelmann zappeln, den ich um meinen Hals hängen habe, und schon muß sie lächeln.

(...)

Wieder einmal wurde gefilmt und Kinder im „Augenzeugen“ gezeigt. Diesmal waren auch die Brüder Reinhard und Adam Kreb dabei. Sie erzählten ihre Erlebnisse. Im Winter 1944/45 waren sie auf dem Treck und verloren erst ihren Vater und eine ältere Schwester aus den Augen, wenig später auch die Mutter und die drei Schwestern. Nach einer abenteuerlichen Flucht mit einem deutschen Soldaten kamen die beiden Jungen im Frühjahr 1945 nach Teltow. Von dort wurden sie von einem Amerikaner mit nach Berlin genommen und in einem Kinderheim abgegeben.

Ein Bekannter von Herrn Kreb sah die Kinder in der Wochenschau und meldete die freudige Nachricht den Eltern, die inzwischen in Bayern eine neue Heimat gefunden hatten. Der Vater fuhr sofort nach Berlin und kam zu mir ins Büro. Schnell wurden die Unterlagen und die Karteikarte mit Bildchen herausgesucht, und wir fuhren gemeinsam ins Kinderheim. Es war das Johannisstift in West-Berlin, wo der Vater überglücklich seine Kinder in die Arme schließen konnte. Gerade war ein Reporter von der „Picture Post“ aus London in Berlin, der dieses Wiedersehen fotografierte, und so erschienen am 7. Juni 1947 Bilder und Artikel in dieser Zeitschrift. Auch der „Observer“ aus Amerika machte am 8. November 1946 Fotos und Reportagen für seine Zeitung.


Erstes Wiedersehen. Vater Johannes Kreb mit seinen beiden Söhnen Reinhard und Adam im Berliner Johannesstift.

Vater Kreb schrieb mir damals in seinem Dankesbrief:
Es tut mir furchtbar leid, daß ich keine Zeit mehr hatte, Sie zu besuchen und Abschied zu nehmen. Ich hatte es sehr eilig, werde aber an Sie denken, solange ich lebe. Für Ihre Mühe bin ich Ihnen unendlich viel Dank schuldig, denn nun bin ich wieder ein glücklicher Mensch, seit ich alle meine Kinder bei mir habe. Meine Frau ist auch ganz anders geworden. Als wir durch das Haustor traten, stimmten wir, die Jungen und ich, das Lied an: ,In der Heimat, in der Heimat ...’ Mit Freudentränen kamen alle herausgestürmt, dann wurde das Wiedersehen gefeiert.

Dieses Wiederfinden war eines der ergreifendsten und schönsten Erlebnisse für mich.


[Neuruppin, Ostprignitz, Brandenburg;
1945]

Die falsche Marzipantorte
von Lucie Spogat

Mein jüngster Bruder war im Dezember 1945 endlich aus amerikanischer Gefangenschaft nach Hause gekommen. Er hatte den grausamen Krieg überlebt. Das war ein Anlaß zum Feiern. Eine Feier, aber womit?

Was es auf Lebensmittelkarten zu kaufen gab, reichte nicht zum Sattwerden, geschweige zu einer Feier. Wir wollten aber wenigstens einmal richtig zusammen Kaffee trinken und Kuchen dazu essen. Ich war 18 Jahre alt und hatte einen Heißhunger darauf. Richtigen Bohnenkaffee gab es schon lange nicht mehr, bloß Muckefuck.

„Für einen Kuchen müßten wir eben sparen! Das sind wir unserem Jüngsten schon schuldig“, sagte unsere Mutter.
Das war Mutters Wort. Und was sie sich vornahm, das wurde auch durchgesetzt.

„Nun hängt sie uns den Brotkorb noch höher“, meuterte ich insgeheim. Damit ein Kuchen gebacken werden konnte, mußten die Zutaten vom Munde abgespart werden.*)

Meine große Schwester unterbreitete uns nach dem Motto „Not macht erfinderisch“ ein prima neues Rezept für eine falsche Marzipantorte.
Man nehme:
500 gr Kartoffelbrei,
200 gr Grieß,
150 gr Haferflocken,
1 Eßlöffel Öl, besser noch 125 gr Margarine,
300 gr Zucker oder eine entsprechende Menge Süßstoff,
ein Backpulver oder Natron,
Marzipan- oder Mandelaroma (ab uns zu gab es das
noch).

Alle Zutaten, so riet meine Schwester, seien mit etwas Wasser zu binden, und der Kuchen mußte bei mittlerer Hitze 45 Minuten im Ofen gebacken werden. Anschließend sollte man den restlichen Kartoffelbrei süßen, mit Aroma abschmecken, dann dieses „Marzipan“ über den Tortenboden streichen und mit zuvor gerösteten groben Haferflocken garnieren.

Die Torte nach diesem Rezept wurde tatsächlich Wirklichkeit! Sie sah lecker aus. Uns lief förmlich das Wasser im Munde zusammen. In Erwartung des bevorstehenden Schmauses fing der Magen an zu knurren.

Es war soweit, die Feier konnte steigen. Sogar die besten Tassen standen auf dem Tisch, in der Mitte leuchtend und duftend die Heimkehrertorte . Wir alle waren in ausgezeichneter Festtagsstimmung. Doch plötzlich klopfte es laut an unsere Fensterscheibe. Draußen stand Onkel Paul mit seiner Tochter Erika.

„Um Gottes willen, die haben uns gerade noch gefehlt!“, lamentierte unsere Mutter. „Los, den Tisch wieder abräumen – schnell, schnell, für die Torte haben wir tagelang gedarbt, jetzt wollen wir sie auch selber essen und nicht mit Hunz und Kunz teilen.“

Wie der Blitz räumten wir die Tassen wieder zurück in den Schrank. Aber da standen auch schon die Gäste im Flur. Wohin in der Eile mit der Torte?

„Egal, unter die Couch damit“, rief mein Bruder.

„Warum seid ihr nicht schon etwas früher gekommen? Wir sind gerade fertig mit dem Kaffeetrinken“, erklärte meine Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken. „Bei uns gab es Marzipantorte, extra gebacken, weil unser Junge wieder da ist!“

„Du hast vielleicht eine Art, einem das Maul wäßrig zu machen“, bedauerte der Onkel, ehe er unseren Heimkehrer herzlich begrüßte.

Nicht lang darauf, mitten in der angeregten Unterhaltung, rumorte etwas unter der Couch. Was war das?
„Wo ist unsere Katze?“ wollte jemand wissen.
Und Mutter rief aufgeregt: „Verflixt, die Katze!“
Uns durchzuckte es! Wir riefen aufgeregt: „Mulle, Mulle – Mimmi, Mimmi!“
Als Antwort hörten wir ein genießerisches „Miau!“ Es kam unmißverständlich unter der Couch hervor. Wir hörten ein feines Schmatzen und Schnurren.

Dieses verflixte Katzenvieh frißt jetzt unsere schöne Torte! Unsere Torte, auf die wir uns seit Tagen schon gefreut haben, dachten wir.
Wir riefen und lockten unsere Mimmi, aber die ließ sich überhaupt nicht stören. Sie fraß und fraß.

„Dem Vieh müßte man den Hals umdrehen!“, zischte mein Bruder.
„Warum seid ihr bloß alle so schrecklich nervös? Ist was?“, wollte meine Cousine wissen.
„Na, was soll schon sein! Die Katze hat nichts unter der Couch zu suchen“, entgegnete unsere Mutter, und sie hatte alle Mühe, ihre Aufregung zu verbergen.

Über zwei Stunden blieb der Besuch, und wir saßen wie auf Kohlen. Uns schien die Zeit wie eine Ewigkeit. Eine richtige Tortur.

Als der Besuch endlich gegangen war, holten wir den Teller, auf dem die kostbare Torte gewesen war, hervor. Er war ziemlich weit unter die Couch gerutscht. Unsere Mutter jammerte als erste: „Ach herrje, unsere schöne Marzipantorte, alles im Eimer! Du verflixtes Katzenvieh!“

Gab es von der Torte noch etwas zu retten?

Nein, nichts, aber auch wirklich gar nichts! Die Katze hatte alles zermanscht. Ich hätte ihr am liebsten das Fell gegerbt.

Mein Bruder war außer sich und griff nach einem Messer. „Dich muß man schlachten und in die Pfanne hauen.“
Doch unser Vater brachte ihn und uns alle wieder zur Raison: „Die Katze hat keine Schuld. Was auf der Erde oder auf dem Fußboden steht, gehört der Katze, das ist nun mal ein ungeschriebenes Gesetz. Wehe, ihr tut dem Tier etwas zuleide, dann bekommt ihr es mit mir zu tun!“

Natürlich taten wir der Mimmi nichts. Sie kannte es nicht anders. Ihr Futter stand ja immer auf dem Fußboden. Sie hatte sich nun satt und rund gefressen und legte sich auf die Couch, um ihr Verdauungsschläfchen zu halten.

Wenn ich heute nach so vielen Jahren an die falsche Marzipantorte denke, muß ich unwillkürlich schmunzeln.
Und wenn einmal Besuch kommt, passiert es schon, daß eine Marzipantorte, natürlich keine falsche, auf dem Tisch steht. Vor der Katze brauche ich keine Angst zu haben, ich habe keine mehr. Aber damals hatten wir alle so viel Hunger im Bauch!

*) Auf die sogenannte Hungerkarte gab es täglich 220 gr Brot und 300 gr Kartoffeln, dekadenweise – aller 10 Tage – 30 gr Fett, 30 gr Zucker, 30 gr Nährmittel, 30 gr Fleisch, 30 gr Marmelade.


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