Leseprobe

Kindheit unterm Kirschenbaum
Gertrud Schauber
Alltag im Alten Land an der Elbe 1940-1958

Broschiert, 86 Seiten,
mit Fotos.
Sammlung der Zeitzeugen (36),
Zeitgut Verlag, Berlin.
9,90 EUR, ISBN 3-933336-85-6.

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Leseproben aus »Kindheit unterm Kirschenbaum«

Kindheit unterm Kirschenbaum
Geburtstage und andere Feste
Hochzeitsfeiern
Sturmfluten
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Kindheit unterm Kirschenbaum

Das Alte Land wurde in Hamburg auch das »Kirschenland« genannt. Das klingt sehr verlockend. Aber als Kind auf einem dortigen Bauernhof aufzuwachsen, hat auch seine Schattenseiten. Zum Beispiel die Kirschen, so verlockend und süß sie auch schmecken!

Für die Kirschenernte auf hohen Holzleitern musste man schwindelfrei sein. Die Kiepen wurden mit einem Haken an die Leiter gehängt, um sich zum Pflücken oben auf der Leiter frei bewegen zu können.
Das Holzgatter am Boden versperrte den Tieren den Weg zum Nachbargrundstück, das sonst durch Gräben begrenzt war.


Das fanden auch die vielen Vögel, vor allem die Stare – die »Spreen«, wie sie bei uns auf Plattdeutsch heißen. Schon als Kinder mussten wir Spreen »hüten«. Morgens ab sechs Uhr liefen wir im Hof unermüdlich die langen Kirschbaumreihen entlang, bewaffnet mit einer Holzknarre, die wir beim Anflug der Vögel heftig drehten, zusätzlich verscheuchten wir sie mit lauten Rufen. Auch Windräder in den Bäumen dienten als Abschreckung. Sie drehten sich und gaben ein schepperndes Geräusch von sich – aber an dieses gleichmäßige Geräusch gewöhnten sich die Vögel schnell, das jagte ihnen bald keine Angst mehr ein.

Dieses Spreenhüten dauerte die ganze Kirschenzeit, jeden Tag bis Sonnenuntergang, etwa sechs Wochen, Sonn- und Feiertage inklusive.

Fischerhaus auf dem Deich


Als wir schon größer waren, durften – oder mussten? – wir Kirschen pflücken. Lange Leitern standen überall an den Bäumen, damit wir an die hohen Äste gelangten. Und sauber mussten wir pflücken. Keine Kirsche durften wir vergessen! Wir pflückten in Kiepen, Weidenkörbe, die nach oben breiter wurden. Am oben angebrachten Henkel befand sich ein Aufhänger aus Metall, mit dem wir den Korb an die Leiter hängten.

Zum Kirschenpflücken kamen auch manche Werftarbeiter aus dem nahen Hamburg, die sich dafür Urlaub nahmen – oder sie kamen am Wochenende, um sich ein paar Mark dazuzuverdienen. Jeder pflückte im Akkord. Die vollen Kiepen wurden gewogen und die gepflückte Menge aufgeschrieben. Das war eine gerechte Sache und auch wir Kinder bekamen dafür unser Geld.

Aber ich war ja ein eher ängstliches Kind und hatte so manches Mal Angst auf der hohen schwankenden Leiter! Oft mussten wir uns weit zur Seite beugen, um alle Zweige zu erreichen. Ich denke daran heute noch mit sehr gemischten Gefühlen.

Das Bild war ein Geschenk für unsere Eltern zu Weihnachten 1951


Später gab es, vor allem in den Apfelplantagen, nur noch niedrige Stämme – da war das Pflücken ein Kinderspiel!
Kinder wollen immer ihr Recht einfordern. Das ist überlebenswichtig und von der Natur so angelegt. Auch in Tierfilmen können wir sehen, wie ein junges Kälbchen oder Rehkitz zu seiner Mutter läuft, vehement an ihr Euter stupst und damit »sagt«, dass es trinken will.

In der Zeit meiner Kindheit galt noch eine sehr strenge Erziehungsmaxime: »Nur nicht verwöhnen!« Die Eltern waren meist auch so erzogen worden. Gehorsam war oberstes Gebot und mancher freie Wille wurde unterdrückt. So mussten wir uns als Erwachsene oft erst wieder Selbstbewusstsein erwerben.

Wir mussten immer mitarbeiten. Auch die Ferien gehörten vom ersten bis zum letzten Tag der Arbeit. Manchmal haben wir die Stadtkinder beneidet! Aber es war letztlich überall auf dem Land so. Allerdings – wir haben auch viel dabei gelernt, an Handgriffen, an Ausdauer und Durchhaltevermögen, an Hilfsbereitschaft und Solidarität untereinander.



Geburtstage und andere Feste

Geburtstage waren immer ein willkommener Anlass, Verwandte und Freunde einzuladen. Aber vorher musste alles natürlich picobello sauber sein. Zweimal im Jahr fand großer Hausputz statt, eine besondere Rolle spielte der Frühjahrsputz.
Die Männer nahmen schon vorher Reißaus, war doch mit den Frauen an solchen Tagen nicht zu spaßen.

Alles räumten sie nach draußen an die frische Luft, Betten, Matratzen, Teppiche, Kleider, klopften, bürsteten und schüttelten sie aus, legten Schränke neu aus, putzten Silber.
Wände, Fenster, Fußboden, nichts blieb beim großen Hausputz vor ihnen verschont. Abends fielen sie todmüde, aber glücklich ins Bett. Jetzt war das Haus sauber. Jetzt konnten die Gäste eingeladen werden.

1949 vor dem neuen Haus: Unsere Eltern, in der Mitte Oma, Magda und ich anläßlich der Goldenen Hochzeit der Nachbarn Hauschildt. Meine Schwester Magda und ich (rechts vorn) waren nicht geladen, deshalb tragen wir keine festliche Kleidung


Unsere Eltern hatten beide Ende Januar Geburtstag. Dann war das Haus voller Gäste, vor allem zum Geburtstag meiner Mutter: Onkel Willi, Mutters ältester Bruder mit seiner Frau Anita und den vier Kindern, Tante Anni, Mutters jüngere Schwester mit ihrem Mann Hein und den beiden Söhnen.

Zwei Brüder waren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt.
Aus Jork kam Tante Tine, die Witwe von Vaters älteren Halbbruder Heinrich, die seit dem Tod ihres Mannes 1940 für den Rest ihres Lebens nur schwarze Kleidung trug. Wir fanden das als Kinder immer schrecklich. Die ersten Jahre bis 1956, als Tante Helma noch lebte, nahm auch sie gern an solchen Familienfeiern teil.

Es gab reichlich Kaffee und Kuchen mit viel richtiger, »guter« Sahne. Nach dem Krieg haben wir das genossen!
Tante Anni liefen immer Ströme von Schweiß das Gesicht herunter, sie war stets sehr nervös. Zu Beginn des Krieges hatte sie aus Kummer urplötzlich alle Haare verloren. Onkel Hein kam mit zerschossenem Arm aus dem Krieg und konnte ihr nicht viel helfen. So arbeitete sie praktisch allein auf dem kleinen Moorhof und versorgte die zwei kleinen Kinder.

Das war eigentlich überhaupt nichts Spektakuläres. Aber auch später kamen die Neffen und Nichten mit ihren Familien dazu – zu Tante Minna, meiner Mutter, kamen immer alle gern.
Meist begann der Geburtstagstrubel schon am zeitigen Vormittag. Nachbarn kamen, »bewaffnet« mit einer eingewickelten Flasche in der Hand und guten Wünschen für meine Mutter. Der Briefträger, die Putzfrau, der Geschäftspartner, alle schauten herein und nahmen sich Zeit, ihr zu gratulieren und ein langes Leben zu wünschen. So ein volles Haus zu Geburtstagen gab es, glaube ich, nur bei uns, weil jeder bei meiner Mutter ein offenes Ohr für seine Sorgen fand und sie die ihr anvertrauten Geheimnisse auch für sich behielt.

Wir Töchter sorgten an diesen Tagen für das leibliche Wohl. Den ganzen Tag belegten wir in der Küche Brötchen mit Schinken, Ei, Käse oder Fisch, schenkten je nach Wunsch Likör oder Korn aus, wuschen Berge von Tellern, Tassen und Gläsern ab und brachten am Ende des Tages wieder alles in Ordnung.

Aber es war auch für uns immer wieder schön zu erleben, wie sehr die Eltern von allen geachtet und geschätzt wurden.
Die Goldene Hochzeit meiner Eltern im Jahr 1981 und auch den 75. Geburtstag der Mutter 1982 feierten wir alle noch im Gasthaus »Rademacher«. Mama tanzte und saß bis um drei Uhr morgens mit Kindern, Enkeln, Neffen und Nichten glücklich und zufrieden in der Runde und sang mit uns schöne Lieder zum Abschluss.

Am 14. September 1982, acht Monate nach ihrem 75. Geburtstag, war ihr irdisches Leben leider zu Ende.

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Hochzeitsfeiern

Hochzeiten waren damals bei den Bauernfamilien nie die alleinige Privatangelegenheit von Braut und Bräutigam, sondern öffentliche Feste, die im ländlichen Zusammenleben eine wichtige Rolle spielten. Das ist im Alten Land zum Teil auch heute noch so.

Vor der eigentlichen Hochzeit gab es für das Brautpaar viel Arbeit. Die neue Wohnung musste eingerichtet werden – nicht umsonst bekamen die Mädchen damals beginnend ab der Konfirmation jährlich zum Geburtstag und zu Weihnachten überwiegend Bettwäsche, Handtücher, Tischdecken oder Besteck für die künftige Aussteuer geschenkt –, die Papiere mussten beim Standesamt eingereicht werden, damit alle rechtzeitig im Schaukasten der Gemeinde vom Hochzeitstermin erfuhren, die Gästeliste aufgestellt und das Gasthaus geordert werden.

Meist gab das Brautpaar in einer Anzeige der örtlichen Tageszeitung den Hochzeitstermin bekannt und hieß Gäste herzlich willkommen. Nun meldeten sich Verwandte, Freunde und Nachbarn als Gäste an, eine stattliche Anzahl. Aber im großen Saal des Gasthauses »Rademacher« war für alle Platz! Und jeder Gast beteiligte sich an den Kosten! Das war eine feine, gerechte Sache.

Ein oder zwei Tage vor der Hochzeit trafen sich alle im Haus der Brauteltern zum traditionellen Polterabend. Freunde, Bekannte und Nachbarn brachten Unmengen an altem Geschirr mit, das sie vor dem Haus der Braut zerschlugen, »polterten«. Die jungen Männer zogen in nur schwer erreichbarer Höhe Wäscheleinen mit aufgehängter Kinderkleidung und stellten einen alten Kinderwagen auf das Hausdach. Auch die neue Wohnung des Brautpaares blieb von Späßen nicht verschont; mit Vorliebe warteten Erbsen in Betten und Polstern auf das junge Paar, störten diverse versteckte Wecker in der Hochzeitsnacht, die dann auch für die Brautleute meist sehr kurz war.

Nach der standesamtlichen Trauung am Vormittag fuhren das Brautpaar und die Gäste nachmittags mit der Kutsche oder mit geschmücktem Auto nach Estebrügge in die Kirche.
Alles war sehr feierlich: aufgeregte Blumenkinder, eine Braut in langem, weißem Brautkleid mit Schleier und oft auch mit langer Schleppe, ein Bräutigam in schwarzem Anzug, manchmal mit Zylinder und weißen Handschuhen. Fast alle Frauen trugen lange Kleider.

Hochzeit von Hanna und meinem Bruder Claus 1958 in Estebrügge. Cousine Marlies Marquard ging als Blumenmädchen voran. Verdeckt von Braut und Bräutigam folgten meine Schwester Magda und ich als Brautjungfern.


Pastor Skowronnek hielt eine kraftvolle Predigt und Herr Specovius, sein Schwager, spielte wunderbar auf der Orgel. Es war immer sehr festlich und schön.

St. Martini-Kirche in Estebrügge. Dort wurde ich 1953 konfirmiert, meine Geschwister Annemarie und Claus getraut.


Nach der kirchlichen Trauung feierten alle bei »Rademacher«. Ein riesiger, mit Girlanden geschmückter Saal, lange festlich gedeckte Tafeln mit Tischschmuck, feinem Silberbesteck, funkelnden Gläsern und leuchtenden Kerzen erwarteten das Brautpaar und die Gäste.

Bevor das Festmahl aufgetragen wurde, überbrachten die Gäste Glückwünsche an das Brautpaar und die Brauteltern. Anschließend trugen die Kellner unter Musikbegleitung die Suppenterrinen herein und schenkten zunächst allen Gästen Wein ein, die bekannten Sorten, »Niersteiner Domtal«, »Zeller Schwarze Katz« oder »Kröver Nacktarsch«.

Waren die Suppenteller abgeräumt, blieb bis zum eigentlichen Hauptgang des Festessens genügend Zeit für erste »Einlagen«.Traditionell gratulierten nun die Verwandten dem Brautpaar. Geschwister oder Freunde verlasen die selbst gefertigte Hochzeitszeitung.

Nach dem Hauptgang, der in der Regel aus zweierlei Braten, Kartoffeln, Gemüseplatten und verschiedenen Salaten bestand, traten meine Schwester Annemarie und ich zu unserer Einlage nach vorn.

Nachdem wir uns in der Zwischenzeit hinter dem Vorhang mit Blusen, Röcken und Hüten aus Urgroßmutters Zeiten verkleidet hatten, beklagten wir nun die Hochzeit des Treulosen mit einer anderen! Bündel von Liebesbriefen zeigten wir herum, dazu einen beim Küssen verlorenen Zahn und schöne schwarze Locken als Beweis vergangener Liebesschwüre.

Das hat uns immer wieder aufs Neue viel Spaß bereitet. Die Gäste bogen sich vor Lachen und quittierten unseren Auftritt mit viel Applaus. Meist mussten wir zusätzlich noch einige Gedichte vortragen.

War das Festmahl beendet – es gab damals, Anfang der fünfziger Jahre, zum Dessert bereits Eis –, bauten wir die Tische an der Seite auf und die Kapelle bat zum Tanz. Zunächst standen wir alle im Kreis auf der Tanzfläche und sahen dem Brautpaar zu. Auch jetzt fielen uns noch viele Prüfungen und lustige Streiche für das Brautpaar ein; manchmal wurde die Braut sogar entführt. Irgendwann später warf die Braut den Brautstrauß in eine Gruppe junger Mädchen. Wer von ihnen diesen auffing, konnte vielleicht die nächste Braut sein.

Bis zum Morgen tanzten und feierten wir ausgelassen. Auch die älteren Verwandten und Nachbarn wagten ab und zu ein Tänzchen und beteiligten sich an der Polonaise. Gegen Mitternacht wartete im Clubzimmer eine gedeckte Tafel auf uns und wir feierten anschließend gestärkt bis zum Morgen weiter.

Solche Ereignisse prägten in der Vergangenheit auch ein Stück Dorfgeschichte.

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Sturmfluten

Unser Bauernhaus stand in Königreich, heute ein Ortsteil von Jork, direkt hinter dem Estedeich. Nur ein knapper Meter war es vom Fuß des Deiches bis zur Hausfront. Auf dem Deich war früher der Verkehrsweg. Hinter dem Haus lag landeinwärts der Hausplatz, der dann in den Obsthof überging. Der Obsthof war zwei Felder breit, das schmale Stück war 16 Meter breit, das breite 20 Meter.

1949 Unser Bauernhaus in Königreich vom Hof aus gesehen. Quer vor dem Haus verläuft die öffentliche Straße und trennt den Hof vom Haus


Später wurde eine breitere Straße gebaut, die unseren Hof direkt hinter dem Hausplatz durchquerte. Auf der einen Seite der neuen Straße lag also das Bauernhaus, auf der anderen Seite das »neue Haus«, 1936 vom Großvater als Altenteilerhaus gebaut, die Waschküche mit dem sich anschließenden Schweinestall, der große Misthaufen, der Hühnerstall und dann der Obsthof. Gegenüber vom neuen Haus lagen der kleinere Gemüsegarten, der große war im Obsthof, die Obstscheune, die Garage und der Schuppen für Wagen und Werkzeuge.

Die Lage direkt am Deich ist schön, aber manchmal wirkt sie auch bedrohlich. Die Este, einer der drei Flüsse, die das Alte Land unterteilen, fließt direkt hinter dem Deich in Richtung Elbe und steigt und fällt mit den Gezeiten der Nordsee und der Elbe. Zweimal am Tag drückt das Wasser in den Fluss, bei Ebbe fließt es dann wieder ab.

Aber manchmal im Herbst und Winter pressen heftige Stürme so stark gegen die Fließrichtung der Flüsse, dass das Wasser bei Ebbe nicht abfließen kann, sondern stehen bleibt. Dann kommen bei der nächsten Flut von der Nordsee her zusätzliche Wassermassen und lassen die Flüsse bedrohlich ansteigen. Bei der Sturmflut 1956 stieg das Wasser bis 10 Zentimeter unterhalb der Deichkrone. Der Deich hinter unserem Haus ist etwa 4,50 Meter hoch, die Wohnzimmerdecke im Haus war etwa 2,50 Meter hoch. Das Wasser stand also viel höher als die Decke unserer Wohnräume.

Da sorgt man sich dann, ob bei der Deichschau wirklich keine Mauselöcher übersehen worden waren, die den Deich von unten aushöhlen können. Denn ein Deichbruch reisst alles ein, da gibt es kein Entkommen. Die großen Bracks, tiefe Seen, die durch solche Deichbrüche entstanden sind, geben Zeugnis von der Gewalt des Wassers.

Man hat von großen Sturmfluten in der Vergangenheit gehört: die große Julianflut von 1164 zerstörte das eben vom Erzbischof von Bremen ins Leben gerufene Kolonisationswerk der holländischen Siedler. Allerkindleinsflut 1248 und Marcellusflut 1362, bekannt auch als »de grote Mandranke« brachten Tod und Verderben. Tausende kamen um. Die Cäcilienflut von 1412 riß den Hahnöfer Sand vom Festland. Die Allerheiligenflut von 1570 zerstörte vor allem die dritte Meile. Allein im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts gab es zehn große Sturmfluten. Dann kam die große Weihnachtsflut am 14. Dezember1717. Hunderte ertranken an der Unterelbe, vor allem im Hamburger Gebiet. Diese und weitere schwere Sturmfluten der Vergangenheit schwangen stets im Unterbewusstsein mit, wenn der Sturm heftiger wurde und die Konstellation besorgniserregend.

1956 war es gerade noch einmal gut gegangen. Danach wurde an der Estemündung in Cranz eine größere Schleuse gebaut, die einen gefährlichen Zufluß von Elbwasser in die Este stoppen soll. An die Einweihung 1957 durch den damaligen Verkehrsminister Seebohm erinnere ich mich.
1962 studierte ich in Hannover. Am 16. Februar endete das Semester, ich kam am Spätnachmittag für ein freies Wochenende nach Hause. Danach wollte ich ein halbjähriges Gemeindepraktikum in Hildesheim antreten.

Meine Schwester Annemarie mit ihrem Mann Henry, mein Bruder Claus mit seiner Frau Hanna wie auch mein Vater waren in Jork bei Cousin Dietrich eingeladen. Meine Mutter und ich freuten uns auf einen ruhigen Abend – wenn nur der Sturm nicht so heftig gewesen wäre. Allmählich wurde es unerträglich, dann fiel der Strom aus. Es war stockdunkel, wir hatten nur ein paar Kerzen im Haus. Wir telefonierten mit Jork – dort hatte man inzwischen keine Zeit zum Feiern. Dietrich war zu dieser Zeit in der Deichrichterkommission und alle Männer waren in ihren guten Anzügen gleich zum Einsatz eingeteilt worden.

Man kann sich einen durchdringend heulenden Sturm hinter dem Deich in absoluter Dunkelheit nicht schrecklich genug vorstellen. Gegen Mitternacht kamen Annemarie und Hanna von Jork mit dem Auto und wir beschlossen, alle zusammen mit den schlafenden kleinen Kindern zur höher gelegenen Geest nach Mienenbüttel zu fahren , wo Annemarie und Henry wohnten. Das liegt etwa 23 Kilometer entfernt und wäre bei einem Deichbruch sicher. Als wir in Buxtehude vor dem Rathaus ankamen, begannen gerade die großen Glocken der St. Petrikirche Sturm zu läuten. Auch hier war es stockdunkel, der Sturm heulte und die Glocken läuteten. Das werde ich nicht vergessen.

Auch in Annemaries Haus auf der Geest gab es kein Licht und wir zündeten Kerzen an und beteten für die Männer, die draußen ihren Dienst taten und für alle, die in Gefahr waren.
Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass der Deich an mehreren Stellen, vor allem in Neuenfelde, gebrochen war, allerdings nicht in unmittelbarer Nähe des Elternhauses. Unsere Männer waren in Sicherheit, aber 315 Menschen sind in jener Nacht ertrunken.

Das Wasser stand 14 Tage in den Kellern und Häusern und konnte nicht abgepumpt werden. Ich habe noch einige Erinnerungsstücke daran, denn meine Bücher und meine Aussteuer waren aus Platzgründen im Keller des neuen Hauses gelagert. Die roten Bänder um Tischdecken und Bettwäsche hinterließen ihre Spuren – die rote Farbe war ausgelaufen. Beim silbernen Essbesteck waren die Klingen der Messer aus den Schäften gegangen. Die Bücher und die Briefmarkensammlung mussten auf dem Boden getrocknet werden – nur meine Lieblingsbücher überlebten gewellt für alle Zeiten diese Tage.

Der Elbdeich wurde nach dieser Flut noch einmal erheblich verbreitert und auf acht bis neun Meter über Normal erhöht. Als ich im Spätsommer 1962 wieder zu einem Besuch nach Hause kam, zeigte mir mein Vater die noch sichtbaren Deichbrüche und den Neuaufbau des Elbdeiches.
Gott sei Dank haben die Deiche im Alten Land seitdem allen Stürmen getrotzt.

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Inhalt
»Kindheit unterm Kirschenbaum«

Das Alte Land 7
Tante Helma 11
Kopfrechnen gut! 15
Die lebenskluge Mutter 19
Schlachtfest 23
Für zehn Pfennig »Hau mi blau bitte« 27
Titorenkow 30
Fliegeralarm und andere Schrecken 33
Die Engländer kommen! 35
Frau Merck und der Hühnermist 36
Das Klavier und Frau Krüger 39
Unser Opel Blitz 42
Kindheit unterm Kirschenbaum 45
Schlitten fahren und andere Vergnügen 49
Melken und frische Butter 53
Magda sprach nur Hochdeutsch 56
Hausierer und andere Gäste 59
Kein Weihnachten ohne Grünkohl 62
Einkaufen bei Tante Mine 66
Onkel Adam war katholisch 68
Geburtstage und andere Feste 70
Skatabend im Winter 73
Hochzeitsfeiern 76
Bei »Lindemann« ist Tanz! 80
Sturmfluten 83

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