Leseprobe |
Klaus
Seiler 80 Seiten, mit 10
Fotos, broschiert |
Leseproben aus »Barackenkind« Bevor
es anfängt ... Bevor es anfängt ... Vom vierten bis zum siebten Lebensjahr, von 1947 bis 1951, also wenige Jahre nach dem zweiten großen Krieg, als Flüchtlingsfamilie aus dem Osten in einem Lager zu leben bleibt nicht ohne Spuren. Viele Erinnerungen, Bilder und Szenen sind aufbewahrt wie in einer Blackbox. Diese aufzuschließen und sich das damals Erlebte von der Seele zu schreiben war in den zurückliegenden Jahren ein innerer Zwang. Es sind Kinderbilder: die Realität wahrgenommen und aufgenommen aus der Perspektive eines Kindes. Objektivität ist nicht ihr Maßstab, es sind keine Fotografien. Zu den Bildern kommen heute jedoch Gefühle, die das Kind von einst nur verschwommen wahrnehmen und verhalten zulassen konnte; sie wären damals wohl oft zu überwältigend gewesen. Nach etwa fünfzig Jahren können sie kommen. Zeitverschiebung ... So haben
Schmerz und Trauer, Stade,
Dezember 2003 Angekommen Tausend kleine Schritte noch, wiederum auf der linken Seite. Auf der anderen, im breiten Feldweg gegenüber, steht wie ein Scherenschnitt gegen den Himmel noch lange das eiserne Untergestell einer Flak, mit drehbarem, durchlöchertem Sitz das Karussell der Lagerkinder, zumindest der mutigeren. Linker Hand also, nach leicht abschüssigem, kurzem Weg und von weitem sichtbar, wie riesige Bauklötze in der Landschaft: fünf langgestreckte, parallel gestellte hohe Baracken, »Finnenhäuser«. Was wohl hinter dem Namen steckt? Jetzt Lager für sechshundert Menschen, achthundert hieß es auch zeitweilig. Vorläufiges Ende ihrer Flucht, ihrer Irrfahrten und Irrwege aus Bessarabien, Pommern, Schlesien, Wolhynien, Siebenbürgen, Ost- und Westpreußen und woher auch immer. Über
dem hohen, groben Zementsockel gegen ihn war Dieter T., sechsjährig,
die Entfernung nicht richtig einschätzend, gerannt, hatte sich
den Schädel zertrümmert. Ich höre ihn noch schreien,
sehe ihn sich wehren, als er aus dem Haus getragen und ins Krankenhaus
das Springer Jagdschloß gefahren werden soll, sehe
schließlich den kleinen, weißen Sarg in der Friedhofskapelle
vor mir ... Jedes Schulkind gibt fünf Pfennige für einen Kranz
... Über dem Sockel aus Zement also erhebt sich das riesige Holzhaus,
einstöckig, grünich verblichen zuerst; später
nach der Befreiung von Wanzen erhalten die äußeren
Wände einen rotbraunen Anstrich. Ich habe den Geruch des Vertilgungsmittels
noch immer in der Nase.
»Willibalds« Arche Da steht er: unser Schuppen, aus Lehm geschaffenes Bauwerk, langsam und sorgfältig getrocknet. Das Dach: große Bleche, in Schuttkuhlen gesammelt (die ergiebigste befand sich im Steinkruger Wald), glattgehämmert und -geklopft, von Steinen beschwert. Auch an der Wetterseite klemmen und stecken dem Regen trotzende Bleche. Der Schuppen ist unsere Arche. Mein Vater Willibald ihr Baumeister. Hier wohnt Jolante, unser erstes Schwein. Ich weiß noch, wie wir es beim Bauern R. in Lüdersen aussuchten, das winzige quiekende Wesen im zugeschnürten Sack auf dem Handwagen nach Hause zogen und in den vorbereiteten Stall mit dem lichtdurchlässigen Fenster in Schweine-Augenhöhe setzten. Jolante
ist unser Schwein, genährt, gehegt, gepflegt, gestreichelt, geliebt.
Wir sind zärtliche Freunde. Eltern und Kinder posieren stolz vor ihrem neuen Schuppen. Entrissen So ziehen wir los: der Handwagen, wie immer ein paar geflickte Säcke darauf, zwei große, zwei kleinere Kartoffelhacken ragen über das hintere Schott. Die abgeernteten Kartoffelfelder der Umgebung sind vorher mit dem Rad erkundet worden.
Meine
Schwester und ich im Jahre 1950. Manchmal haben wir am Tag zuvor beim Bauern Kartoffeln gelesen, die Drahtkörbe voll gesammelt und erlebt, wie die aufgestellten Säcke mit jeder Reihe wachsen und wachsen. Pferdegespann, Rufe des Lenkers, Kartoffelpflug ... Die Erde spritzt auf; in weitem Bogen fliegen die Kartoffeln auf den Acker und liegen verstreut und helleuchtend vor einem, man braucht sich nur zu bücken. Leberwurstbrote in der Pause, dicke Stullen, von der Bäuerin im großen Korb mit dem Rad aufs Feld gebracht, und Blechkannen voller »Lindes«-Kaffee. Es riecht wunderbar: die Erde, das Brot, die Leberwurst, der Kaffee ... Wir stärken uns für die Arbeit. Nicht
alle Kartoffeln suchen das Licht, einige bleiben versteckt. Auf die
haben wir es am nächsten Tag abgesehen. Kartoffeln stoppeln. Mühsame
Arbeit, zufälliges Finden, bisweilen allerdings unverhofft ein
ganzes Nest. Manche Felder sind leer wie eine Wüste, und entsprechend
leer ist der Handwagen am Abend. Tanzplatz Um die große Grube mit dem brüchigen Rand, gleich hinter der fünften Baracke, ist ein Zaun gezogen, ein rostiger, zum Teil heruntergetretener Maschendraht. Die Kinder sind gewarnt. Die Gefährlichkeit der Grube ist ihnen eingeschärft worden. Wer in der braunen, schweren Masse versinkt, ist verloren. Die offene Kloake des Lagers. Welchen Weg alles nimmt und wie es schließlich bis hierher in die Kuhle gelangt, unterirdisch, überirdisch, niemand weiß es genau. Im Gedächtnis bleibt die tiefe, stinkende, braune Grube. Eines Tages kommen Bauarbeiter, legen riesige Eisenträger quer über die Grube, verschließen sie mit einer dicken Zementdecke. Die große Platte wird unser Spielplatz. Beim Springen dröhnt und hallt der verschlossene Innenraum mit seinem unheimlichen Inhalt. Platz für Völkerball, »Plumpsack« und andere Kreisspiele. Ich
bin ne kleine Schnecke Jetzt wird
blitzschnell ein Name gerufen, und der oder die Gerufene versucht, an
den übrigen Kindern vorbei in die Mitte des Kreises zu kommen und
die Schnecke aus ihrer Einsamkeit zu erlösen. Es ist mein Lieblingsspiel.
Lust und Traurigkeit singen, rufen, rennen. Das Spiel ist ein Spiegel.
Die Flüchtlingskinder spielen es immer wieder. Sie spielen von
Verlorenheit, von Einsamkeit und Angst. Im Spätsommer
wird die riesige Zementplatte zum Dreschplatz der Erwachsenen. Hier
sausen Dreschflegel und Knüppel auf die gelesenen Ähren nieder,
hier trennt der Wind die Spreu von Weizen und Roggen und Gerste. »Gott ist die Liebe« (...) In der Sonntagsschule singen wir: Gott
ist die Liebe, Wir singen es ununterbrochen, unzählige Male hintereinander, wir hämmern, stanzen es uns ein, steigern uns hinein ... Sonst hätten wir es wohl nicht so recht geglaubt. Wenn der Glaube nachläßt, gibt es Zuckerkuchen, tellerrandvoll, turmhoch, oder Bilder zum Sammeln und Einkleben: Jesus im langen, weißen Gewand aus grobem Nesselstoff wie unser Bettzeug an einem See mit Kindern, Frauen, Jüngern. Das alles stärkt, wird uns gesagt. Gefüllte Kuchenteller, Geschichten und Lieder in der Sonntagsschule. Nachdem fast alles erzählt ist Die Geschichten aus dem Lager sind fast alle erzählt, von der Seele geschrieben. Aus dem privaten, intimen Raum gelangen sie in einen öffentlichen. Viele werden sich an ähnliche Erlebnisse erinnern. Erst im Nachhinein wurde mir erschreckend bewußt, wie beinahe alle Kräfte einer Familie jahrelang allein dem Überleben dienten. Und das galt nicht nur für unsere Familie, sondern für viele andere auch. Das Leben war auf das Elementare reduziert: Essen und Trinken, Säen und Ernten, die Sorge um die Tiere, der Kampf gegen die Kälte, das Sammeln von Vorräten die Sorge um das Alltägliche nahm fast alle Kräfte in Anspruch. Ich staune, wie viele Fähigkeiten und Fertigkeiten meine Eltern besaßen und wiederum nicht nur sie , mit denen sie das Überleben meisterten. Die Jahre im Barackenlager kommen mir im Rückblick vor wie ein Raum ohne Geschichte, ohne Lieder, Bücher und Bilder. Ich kann mich nicht an Bilder erinnern, die an den Wänden hingen, und auch nicht an Lieder, die wir im Kreis der Familie gesungen hätten. Vielleicht war nach der Entwurzelung, nach Flucht und Vertreibung, vielen nicht nach Büchern, Bildern oder Liedern zumute. Falls es dennoch Lieder und Geschichten gegeben hat, so habe ich sie in meiner Erinnerung nicht aufbewahrt, sie bekamen angesichts der anderen Erfahrungen keine Bedeutung. Nach dem Ende der Barackenkindheit geschah ein grundlegender Wandel. Bald nach dem Umzug ins Dorf kaufte mein Vater ein Klavier! Ich werde den Augenblick nicht vergessen: Kaum hatte es in der Wohnstube seinen Platz gefunden, spielte er mit großer Ergriffenheit »Am Brunnen vor dem Tore« und sang dazu alle Strophen auswendig. Die Familie stand um das Klavier herum, mit Tränen in den Augen. Es waren unglaubliche Klänge! Wir hätten nie gedacht, dass es sie bei uns zu Hause geben könnte. Musik und Lieder kehrten ein, eine neue Welt. Wie der Frühling nach einem langen, langen Winter. Oder wie eine Zeitenwende ... Trauern
und Seufzen Inhalt »Barackenkind« Bevor
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