Leseprobe

Erika Summ
Schäfers Tochter
Die Geschichte der Frontschwester Erika Summ. 1921 - 1945

Broschiert, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
Sammlung der Zeitzeugen (55)
ISBN 3-86614-108-4
12,80 EUR

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Kindheit auf dem Lande
Hohenloher Land
Lernschwester
Das Lazarett

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Kindheit auf dem Lande

In meiner frühen Kindheit spielte ich oft mit den Nachbarskindern. Eines von ihnen war Martha »Martl« Schober. Ihre Eltern besaßen Kühe und zwei schöne Pferde mit langen Schweifen und schönen Mähnen. Die Pferde hatten im Sommer wegen der Fliegen bunte Ohrenschützer auf, das sehe ich noch sehr lebhaft vor mir.

Bei Schobers hielten wir uns gerne neben dem Garten auf, in dem rings um den Zaun Dahlien in herrlichen Farben blühten. Oben in der Ecke stand eine Türkische Kirsche, oder Maraskakirsche, mit großen, gelben Früchten. Wenn sie reif waren, mussten wir aufpassen, dass uns die beiden Schwestern von Martl beim Stibitzen nicht erwischten. Von den Kirschen sollte ja für den Winter etwas eingekocht werden. Rosa und Karoline, so hießen die beiden Geschwister, waren älter und größer als wir. Manchmal verscheuchten sie uns. So spielten wir eben am »Gänsebuckele« weiter, bis die beiden zum Melken in den Stall gerufen wurden. Dann war die Luft wieder rein. Wenn es im Herbst kühler wurde, zogen wir uns mit den anderen zurück, ins Haus oder auch in den Stall und halfen dort beim Füttern.

Das alte Bauernhaus der Schobers barg viele Geheimnisse. In der Küche stand ein wuchtiger Backofen, daneben der tiefe Backtrog, in dem der Teig für das Schwarzbrot geknetet wurde. Dazu kam der große Herd mit riesigen Töpfen darauf, die einfach in die Feuerringe über der Glut eingehängt wurden. Täglich musste die Holzkiste aufgefüllt werden, wo wir Kinder schon bald helfen konnten. Zur Belohnung erhielten wir ein Glas Milch und ein Stück Brot mit Himbeermarmelade. Der große Eisenofen für die Stube wurde vom Schlafzimmer aus geheizt. Der knackte und bullerte so schön und gemütlich. Im Ofen summten die Bettflaschen für die Mädchen und die Eltern.

Vater Schober vor Haus und Scheune in Stachenhausen, meine beste Freundin Martha in der Mitte zwischen ihren Schwestern Karoline und Rosa, 1926.


Wenn unsere Mutter uns weder sah noch hörte, waren Karl und ich meist in einem Stall bei den Nachbarn. Frida konnte da noch nicht mit. Wir zwei Großen um die fünf mussten immer wieder auf die Dreijährige aufpassen, bis Mutter die Ziegen gemolken hatte. Wenn Vater von der Weide kam, sollte das Abendessen fertig sein, denn er war ja fast den ganzen Tag mit seiner Herde unterwegs. Dann wurden noch die Hunde gefüttert, wobei wir schon sehr früh mit an die Hütte durften. Bald fanden wir heraus, welchen Hund wir streicheln durften und bei welchem lieber etwas Abstand angebracht war.

Mein Vater Johann Ohr. Im Winter trugen die Schäfer einen Vollbart wegen der Kälte, um 1929.


In und um unser Haus konnten wir vieles entdecken. Unter der Treppe befand sich ein kleiner Gänsestall, daneben ging es in einen Keller, der sehr dunkel war. Ganz hinten waren die Mostfässer und die Kartoffeln, dann kamen die Krautständer und eine Brothenge mit selbst gebackenen Brotlaiben. Auch wir hatten einen Backofen in der Küche, aber er war kleiner als der bei Schobers.

Das mit dem Backofen war im Winter prima. Mein Bett stand im Schlafzimmer hinter der Küche gewissermaßen an der Backofenwand – da konnte ich den Rücken und die Füße herrlich wärmen. Im Sommer war es dann zu warm und Mutter rückte das Bettchen etwas weg.

Unser Haus in Stachenhausen im Hohenloher Land. Mutter mit mir (links) und meinen beiden Geschwistern, Karl und Frida, 1929.


Ein weiterer Ofen stand zwischen der Stube und dem Schlafzimmer. Hinter diesem durften sich auch kleine Lämmer wärmen, wenn die Muttertiere krank waren oder zu wenig Milch gaben. Dann wurde mit der Flasche zugefüttert. Uns Kindern gefiel es, wenn so ein Lämmchen in der Stube herumwackelte. Leider war das meist nur für ein paar Tage, bis sie einer anderen Mutter untergeschoben werden konnten.

Zur Stube hin hatte der Eisenofen zwei Etagen. In der unteren konnte man kochen und auch Weißbrot oder Gugelhupf backen. Oben summten angenehm die Kupferbettflaschen oder ein Wassertopf. Ich spürte beim Hereinkommen allein schon durch das Summen die Wärme.

Eine warme Stube brauchte mein Vater, wenn er durchgefroren nach Hause kam. Oft brachte er auch die Hunde mit ins Haus, bis ihr Fell trocken war. Meist hatten wir langhaarige Schäferhunde. Die sahen zottig aus und waren recht widerstandsfähig. In der härtesten Winterzeit blieben die Schafe im Stall und wurden mit Heu gefüttert. Das kam vor allem im Januar vor, oft auch noch im Februar, wenn der Schnee hoch lag und strenger Frost herrschte. Dann konnten die Schafe den Schnee nicht beiseite scharren, um an das Gras zu gelangen.

Mein Vater und unsere Cousine Thea Pröger aus Dresden nach der Schafschur in Cröffelbach, 1936.


In diesen Monaten musste unsere Mutter auch im Stall sehr viel mithelfen: Sie stockte das Heu auf und breitete immer wieder frische Streu aus. Das konnten aber auch bald wir Kinder mit unseren Freunden übernehmen.


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Hohenloher Land

Stachenhausen liegt in einer sanften Mulde auf der Hohenloher Ebene. Von mehreren Seiten drückt Quellwasser herein, durch das Dorf murmeln zwei Bäche. Darin fanden wir Kinder vieles zum Spielen, zum Beispiel bunte Scherben von zerschlagenen Schüsseln oder Krügen aus Keramik oder Porzellan. Manches wurde damals im Bach entsorgt; einer floss direkt hinter unserer Scheune vorbei. Rechts und links der Wasserläufe lagen die Bauernhäuser mit ihren großen Ställen und dem vielen Ackergerät auf den Höfen. Mitten im Dorf stand auch ein großer Brunnen, an dem die Pferde getränkt wurden.

In der Dorfmitte von Stachenhausen wurden die Pferde getränkt. Von hier trugen meine Eltern 1921 das Wasser den Berg zu uns herauf. Die Tröge standen noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg.


An einem der Bäche stand eine kleine Transformatorenstation. Wenn Herr Pfeifer, der Pumpenwärter, dort hineinging, konnten wir Kinder das große Schwungrad mit dem breiten Riemen von der Tür aus sehen – das war ein großes Wunderding für uns. Wer offene Augen hatte, konnte auch damals vieles sehen und beobachten. Solch große Augen hatte ich wohl schon als kleines Mädchen. Für uns Kinder war es einfach schön, dort aufzuwachsen.

Stachenhausen bei Künzelsau zwischen den beiden Weltkriegen. Das Gebäude mit dem Walmdach in der Mitte ist unser Schulhaus.


Wenn die Schafe im Winter Wasser brauchten, zog Vater mit seiner Herde hinunter zum Bach. Er schlug, wenn alles zugefroren war, einige Löcher ins Eis und tränkte seine Tiere. Die Hunde waren immer dabei. Hatten die Schafe genug Wasser getrunken, ging es wieder heimwärts zur Futterkrippe. Dabei hieß es für den Schäfer gut aufzupassen, damit kein Dauerlauf einsetzte, denn jedes Tier wollte zuerst an der Krippe sein. Die Futterraufen befanden sich außen an den Stallwänden. Auch in der Mitte stand eine, die den hungrigen Mäulern von zwei Seiten Platz bot. Dann folgte ein Drängen und Puffen und Stoßen und Boxen, bis jedes Schaf seine Portion Heu ergattert hatte und satt war. Nach einer Stunde hörte man nur noch leises Wiederkäuen. Viele Tiere lagen dann zufrieden in der zuvor erneuerten Streu. Die Schafe brauchten auch Salz, und so hatte Vater im Hof lange Tröge aufgestellt, in die einmal wöchentlich Viehsalz eingestreut wurde.

Die Misthaufen der großen Bauernhöfe waren riesig und nahmen im Winter oft die Hälfte des Hofs ein. Einmal sagte ich zu einem meiner besten Freunde, er solle doch den Mist hinausfahren, ich wollte zuschauen. Doch der lachte nur, nahm mich auf den Arm und sagte: »Du fährst mit!« Wenige Tage später saß ich auf dem Mistwagen neben Hannes und fuhr mit aufs Feld. Dort wurde der Mist häufchenweise abgeladen, dann ging es in leichtem Trab wieder nach Hause.
Bei Schnee und Eis konnte es passieren, dass sich ein Pferd ein Bein brach. Dann kam der Bauer, dem das Pferd gehörte und der es nicht mehr einspannen konnte, zu unserem Vater. Als Schäfer hatte er ja Hunde, die Futter brauchten.

Pferdefleisch aß man damals nicht, es schmecke nicht, hieß es. Jahrzehnte später habe ich junges Fohlenfleisch einmal bei einer Familie selbst zubereitet, es war köstlich und wir haben es alle mit Genuss gegessen. Im Vergleich zu unseren Hausschweinen ist ein Pferd ja doch ein sauberes Tier.
Das Pferd wurde bei uns geschlachtet. So ein großes Tier zu töten, aufzuhängen und abzuziehen war eine sehr schwere Arbeit. Das Fell wurde anschließend in die Gerberei gebracht. Dann war das viele Fleisch zu verarbeiten, das hauptsächlich an der Luft getrocknet wurde. Noch heute sehe ich vor mir, wie es im Gebälk hing. Das Pferdefett wurde ausgelassen und die Leute holten sich anschließend das Kammfett – das Fett vom Mähnenansatz – ab. Wir verwendeten es als Salbe, wenn eine Wunde bei einem Tier oder auch beim Menschen nicht heilen wollte.

Wenn Schnee lag, konnten wir Kinder herrlich Schlitten fahren. Nach dem langen Toben im Freien kamen wir oft mit Eiszapfen an den Strümpfen und mit patschnassen Schuhen, halb erfroren, nach Hause. So manches Mal haben wir uns eine böse Erkältung zugezogen, die auch Mutters Hausmittel nicht immer kurieren konnte. Dann war Doktor Radtke gefragt.
In unserer Gegend gab es, soweit ich mich erinnern kann, nur zwei Autos: das gelbe Postauto von Künzelsau nach Mergentheim, mit dem wir nach »Küau« und zurück fahren konnten, und das Auto des ehemaligen Militärarztes Doktor Radtke, überall nur Doktor Radikal genannt. Einen Hausbesuch mussten wir bei der Gaststätte »Post« auf der anderen Seite des Dorfes anmelden. Von dort aus machte der Doktor einmal wöchentlich seine Besuche in den umliegenden Häusern und Höfen. Wir Kinder hatten Angst vor ihm, er war ein alter Polterer und klopfte uns hart auf den Po, wenn er uns untersucht hatte. Das mochte ein krankes Kind natürlich nicht.

Mutter verabreichte uns ihre Hausmittel in Form von kleinen weißen Kügelchen. Das Rösle Karle in Belsenberg stellte sie her – dafür war sie auch bei den Apothekern und Ärzten bekannt. Ja, als was? Heute würde man sie vielleicht als Homöopathin, als Heilpraktikerin, bezeichnen. Zuerst gingen wir also zum Rösle, doch bei ernsten Krankheiten schickte sie uns gleich weiter zum Arzt.

Die meisten unserer Kinderkrankheiten konnte sie jedoch mit ihren eigenen Mitteln heilen. Sie war früher selbst einmal Bäuerin und kannte sich auch in Kuh- und Schweinestall aus. Deshalb hatte sie für Mensch und Tier Rat und Hilfe. Frau Karle war klein und zart von Statur, sie hatte einen Kropf und ein zu kurzes Bein, an welchem sie einen Schuh mit einem ganz hohen Absatz trug.

Auch ihr Mann war recht klein. Er hatte im Ersten Weltkrieg eine Kopfverletzung erlitten und wurde oft grundlos zornig. Solange meine Mutter und ihre Schwester Rösle, die 1919 Georg Jakob heiratete und 1930 auf den nahen Eschenhof zog, noch in Belsenberg lebten, arbeitete er an den Tagen, an denen es ihm gut ging, bei ihnen auf dem Feld. Karles hatten ihren Hof an Jüngere verkaufen müssen und bewohnten nur noch ein kleines Ausdinghaus, so heißt der Alterssitz für Bauern.

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Lernschwester

Am 1. Oktober 1940 fuhr ich per Zug von Künzelsau nach Stuttgart mit gemischten Gefühlen: Was würde wohl auf mich zukommen? Das Neue begann gleich am Bahnhof. Ich musste in die Straßenbahn steigen und bis zur Haltestelle Silberburgstraße fahren. Von dort schleppte ich den schweren Koffer noch einen weiten Weg zu Fuß.

Nun stand ich vor dem Haus. Mein Herz klopfte, ich fasste Mut und klingelte. Eine ältere Schwester in grauer Kleidung öffnete. Sie hatte eine weiße Haube mit den Streifen des Roten Kreuzes auf dem Kopf, trug eine weiße Schürze und am Kleid eine große Rotkreuz-Brosche. So etwa wirst du einmal aussehen, dachte ich.

Die Arbeitstracht der Schwesternschülerin. Bei meinem Besuch im Pfarrhaus in Ruppertshofen 1941 trug ich einen Seitenscheitel, obwohl die Oberin uns strikt auf Mittelscheitel verpflichten wollte.

Im Haus der Schwesternschaft herrschte reges Treiben, denn an diesem Tag kamen 20 junge Mädchen an, die alle den Herbstkurs für die Ausbildung belegt hatten. Eine von ihnen war ich. Noch am selben Tag wurden wir eingekleidet und auf die verschiedenen Krankenhäuser verteilt. Jede von uns bekam drei Kleider, sechs Schürzen und vier Hauben – ohne Band, da wir vorläufig nur Schülerinnen waren.

Die vielen jungen Mädchen zusammen waren wie ein großer Ameisenhaufen. Diejenigen, die in den Krankenhäusern in Esslingen und Göppingen beginnen sollten, wurden zuerst eingekleidet, denn sie mussten noch ein Stück mit der Bahn fahren. Wer in Stuttgart blieb, kam zuletzt dran. Zu sechst wurden wir für die Städtische Frauenklinik in der Bismarckstraße 3 eingeteilt.

Nach bestandenem Examen am 25. März 1942 präsentierten wir uns vor dem Katharinenhospital in Stuttgart. Ich stehe in der zweitletzten Reihe rechts außen – mit Mittelscheitel!

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Das Lazarett

Nach langem, hartnäckigem Klopfen öffnete ein verschlafener Sanitäter die Tür. Er war zunächst sehr misstrauisch und wollte nicht glauben, dass mitten in der Nacht eine Schwester vor ihm stand und behauptete, sie sei hier am Ziel und man solle sie hereinlassen. Nachdem ich schließlich mein Verwendungsbuch hervorgekramt hatte, ließ er sich überzeugen und gewährte mir Eintritt. Erst dann fuhren die anderen, die mich vorbeigebracht hatten, weiter. Überall herrschte Misstrauen und Angst, Partisanen lauerten, und man musste immer mit allem rechnen. Todmüde legte ich mich auf eine Trage, die ich hinter einer Zeltplane entdeckt und die mir der Sanitäter aufgebaut hatte. Er wollte mir noch einen heißen Tee bringen, aber ich war bereits nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

Am nächsten Morgen berichtete er in seinem Rapport, dass über Nacht ein Neuzugang eingetroffen sei. Er habe eine Schwester aufgenommen, die noch hinter der Zeltplane schlafe. Keiner wusste Bescheid über mich. Erst als der Chefarzt und die Oberschwester verständigt wurden, konnte das Rätsel gelöst werden. Ja, eine Schwester Erika sei angemeldet, sie sei schon seit einigen Tagen überfällig. Alle waren nun froh, dass ich angekommen war. Allerdings war ich immer noch nicht im richtigen Haus. Die Innere Abteilung, bei der ich zunächst gelandet war, wusste von nichts, denn ich sollte zur Chirurgie und diese befand sich in einem anderen Gebäude. Dieses lag noch weiter weg. Das machte mir zu diesem Zeitpunkt jedoch nichts aus: Ich war in Shitomir; ich schlief. Der Rest würde sich auch noch klären.

Mein Schlaf war sehr unruhig, das monotone Rollen der Räder fehlte mir. In der Nacht wurde ich wach und wusste zunächst nicht, wo ich mich befand – ich hatte Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Alles war ruhig, Licht konnte ich nicht entdecken. Später bemerkte ich ein kleines Fenster, durch das fahles Morgenlicht fiel. Danach gingen Menschen durch den Raum, eine Tür fiel laut ins Schloss. Dann war wieder Stille. Langsam kam ich zu mir, ich erhob mich und streckte meinen Kopf hinter der Zeltplane hervor. Ich kannte mich nicht aus, alles war fremd. So legte ich mich wieder hin und wartete, ob mich jemand holen würde. Und wieder eine ganze Weile später hörte ich eine Stimme, die ich kannte. Es war die Stimme des Sanitäters, der mich hereingelassen hatte.
Schritte kamen auf mich zu, ich richtete mich auf. Der Sanitäter hatte eine Schwester bei sich. Es war die Oberschwester, sie hieß Margarete Lapp. Nun wurde ich in ihre Obhut übergeben. Kurz berichtete ich ihr meine Geschichte. Sie war ganz außer sich, aber froh, dass mir nichts passiert und dass ich heil angekommen war, wenn auch verspätet.

Nun brachten Soldaten heißes Wasser in großen roten Kannen und bereiteten mir ein Bad, denn in dem Raum standen an der Stirnseite zwei große Badewannen. Was für eine Wohltat, nach dieser langen und entbehrungsreichen Reise! Da störte es mich auch nicht, dass ich im so genannten Entlausungsraum badete. Das erfuhr ich allerdings auch erst später beim Frühstück mit den vielen fremden Schwestern, die mich neugierig betrachteten.

Das Lazarett in Shitomir, 1943. Bei der ersten Gartenarbeit im Frühjahr halfen Schwestern, Verwundete und selbst unser Chef Doktor Welkers mit.

Später am Vormittag brachte mich ein Panjewagen mit meinem Gepäck in die Chirurgie ins weiter entfernt liegende B-Lazarett. Auf dieser Fahrt sah ich unzählige zerschossene Häuser und Ruinen. Die Straße war breit, aber sehr holperig. Dann tauchte ein großes, noch weitgehend erhaltenes Gebäude hinter einer hohen und langen Mauer auf, vor einem Tor standen zwei Wachposten. Hier bog unser Pferd rechts hinein. Bei einem kleinen Haus hielt der Kutscher an und sagte, dass sich dort der Oberstabsarzt und der Chefarzt Doktor Döring befänden. Dann empfing mich Oberschwester Margarete, die ich ja bereits kennen gelernt hatte, und stellte mich den beiden vor. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Chefarzt ging es in einen großen Bau, es war eine ehemalige Schule. Ich wurde einer Schwester Lotte und einer Schwester Liselotte zugeteilt. Sie waren für Operationen und für den großen Verbandsraum zuständig.
Im Lazarett arbeiteten noch viele weitere Schwestern, die ich erst nach und nach kennen lernte. Im Haus selbst schliefen aber nur wir drei OP-Schwestern. Die anderen waren außerhalb untergebracht. Das Esszimmer befand sich über der Hauptküche. Doch nicht immer konnten alle gemeinsam essen, das hing vom Arbeitsanfall auf den Stationen ab. Hier gab es große Krankensäle mit 30 bis 40 Betten, in einem Saal lagen sogar 98 Patienten. Die beiden Schwestern, die für diesen Saal verantwortlich waren, kamen den ganzen Tag kaum mehr heraus – gerade einmal zu den Mahlzeiten, aber auch nur, wenn eine andere für sie einsprang. Das war eine harte Wechselschicht.
Jeweils zwischen zwei Sälen standen große Öfen, die vom Flur aus geheizt wurden. Das besorgten Hilfskräfte oder auch Gefangene, die dafür täglich aus einem Lager gebracht wurden. Die Versuchung war für sie groß, Lebensmittel oder Brennstoff mitzunehmen, obwohl schwerste Strafen darauf standen. Abends wurden alle genau überprüft, ehe sie ins Lager zurückgingen. Die Luft in den Sälen war zum Schneiden, eigentlich war es nicht zum Aushalten. Es roch nach Blut und Eiter. Alles mischte sich mit dem lauten Wehklagen der Verletzten und Verwundeten; sie hatten Schmerzen, die oft nicht gelindert werden konnten. Dieses Klagen, Schreien, Rufen und Jammern überlagerte alles.

Damit musste jede Schwester allein fertig werden. Die Belastung ging manchmal bis an die Grenzen dessen, was man ertragen konnte, und doch blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Dort lagen so viele blutjunge Menschen, manche waren noch jünger als wir jüngsten Schwestern, sie waren verletzt, verstümmelt, zerschunden. Auch viele Familienväter lagen da, die uns ihre Sorgen und Ängste erzählten, die nicht aufhörten zu fragen, wann sie denn weiter zurückverlegt würden, wann es in Richtung Heimat ging. Täglich kamen Fragen, auf die wir oft keine oder nur ungenügende Antworten wussten. Dennoch konnte ich mir mein fröhliches Wesen durch den Krieg hindurch retten, so manchem Verwundeten Mut machen und vielleicht auch ein Lächeln abringen, trotz großer Schmerzen und großem Leid. (...)

Der Herbst rückte näher, aber damit auch die Front: Rückzug auf der ganzen Linie. Aus Frankreich wurden Truppen zur Verstärkung gebracht. Auch mehr Ärzte und Schwestern sollten uns nun unterstützen. Für sie war es wie ein Sprung ins kalte Wasser: Harte Arbeit war angesagt, dazu der beißende Frost. Viele »Etappenhasen« waren darunter – so nannte man diejenigen, die bisher im Hinterland und von der Front weit entfernt Dienst hatten. Doch schnell mussten auch sie zupacken und Paris, Nancy – oder woher sie auch kamen – vergessen.
Mit dem Näherrücken der Front stieg auch die Zahl der Schwerstverwundeten, die Arbeit wurde härter, belastender. Immer mehr Patienten unseres Lazaretts starben. Wir begruben unsere Toten auf dem Friedhof über dem Fluss Teterew. Dort wurden viele Soldaten bestattet, in langen Reihen waren schon Gräber ausgehoben. In den Gräben stand Sarg an Sarg. Unser Wehrmachtspfarrer sprach einige Worte und ein Gebet, meist waren ein oder zwei Schwestern dabei – das waren diejenigen, die den Verwundeten gepflegt und betreut hatten, die einzigen »Angehörigen«. Die Abteilung unserer Gefallenen auf dem Friedhof wurde immer größer, die Kreuze, aus Holz zusammengezimmert, immer mehr. In der Stadt gab es ja bis zu zehn Lazarette. Auch eine Schwester von uns, Martha Weller, wurde dort begraben, sie starb an Fleckfieber.

Von einem anderen Lazarett hörten wir, dass die Sanitäter zwar mit den Toten zum Friedhof am Wald gefahren, aber dort niemals angekommen waren. Keine Spur fand man von ihnen. Ob sie Opfer eines Partisanenüberfalls geworden waren? Die Partisanen wurden ja jetzt immer dreister.

Zum Advent wollten wir bei einer Gärtnerei am Stadtrand etwas Tannengrün holen – von dort bekamen wir sonst Salate und frisches Gemüse fürs Lazarett. Liselotte und ich marschierten los. Der Weg zog sich hin, kein Mensch war zu sehen. Plötzlich hörten wir Schüsse, ganz in der Nähe. Wir drückten uns in einen Hauseingang und warteten, verhielten uns ganz ruhig. Mit einem Mal herrschte absolute Stille. Langsam kamen wir aus unserem Versteck hervor und gingen angsterfüllt weiter, die Gärtnerei konnten wir schon sehen. Nur noch der kleine Platz am Ende der Straße war zu überqueren. Dann, großes Entsetzen! Auf dem Platz hatte eine Hinrichtung stattgefunden. Dort standen Galgen, und wir mussten an den gerade erhängten und erschossenen Menschen vorbeigehen. Lastwagen standen schon zum Abtransport der Leichen bereit.

Zitternd kamen wir in der Gärtnerei an. Ob wir noch Tannenzweige mitnahmen, kann ich nicht mehr sagen. Das schreckiche Erlebnis traf uns bis ins Innerste. Wir trauten uns nicht mehr zurück. Zum Glück kamen wenig später Soldaten mit einem Kübelwagen vorbei, die uns ins Lazarett brachten.
Jeden Tag ging es turbulenter zu: Schießereien, Verwundete, Transporte, Tote – wir wussten nicht mehr, wo die Front verlief. Auch auf unser Lazarett fielen einmal Bomben. Im OP zersplitterten Scheiben. Stromausfall. Mit dem Notstromaggregat konnten wir weiteroperieren.

Bereits seit August wurden wir als Kriegslazarett geführt. Dafür gab es eine bestimmte Reihenfolge oder Gewichtung: Direkt an der Front war der so genannte Hauptverbandsplatz, als nächste Station kam das Feldlazarett, wo die Verbände gewechselt wurden. Dahinter lag das Kriegslazarett, hier hielten sich die Verwundeten meist zwei bis drei Tage auf, erst dann ging es weiter zurück. Manche Transporte wurden gleich weitergeleitet, wenn die Lazarette überfüllt waren. Nur einzelne Verwundete nahmen wir heraus – Notfälle, die schnell amputiert oder operiert werden mussten.

Dann hörten wir, dass sich einige Lazarette ebenfalls auf dem Rückzug befanden. Kiew war von den Russen eingenommen worden. Es lag auf der so genannten »Rollbahn« – der Hauptverkehrsstraße zwischen Kiew, Shitomir und Rowno, auf der die Panzer unentwegt rollten und dröhnten, nur einige Stunden entfernt von uns.

Wir waren weit überbelegt, bald stündlich überschlugen sich die Meldungen, keiner wusste etwas Genaues über die aktuelle Lage. Ein Transport Schwerverwundeter nach dem anderen erreichte uns und gleichzeitig mussten wir weiter zurückverlegen. Als der letzte Zug am Bahnhof mit Schwerverletzten beladen wurde, hörten wir schon Kanonendonner, der Zug sollte schnellstens weg. Die Zeit drängte. Unsere Sankas aber reichten zum Transport der vielen, vielen Schwerverletzten nicht aus. Doch sie mussten unbedingt noch mit in diesen Zug. Wie sollten wir das so schnell schaffen? Wir hatten einfach nicht genügend Transportmittel.

So stellte sich Chefarzt Doktor Poth an die Hauptstraße, stoppte alle vorbeifahrenden Lkws und leitete sie ins Lazarett um. Dort wurden die Verwundeten unserer Häuser mit ihren Matratzen auf die Pritschen geladen.

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Inhalt »Schäfers Tochter«

Vorwort von Dr. Birgit Panke-Kochinke 7
Einleitung 9

1. Teil
Kindheit und Jugend im Hohenloher Land
1921–1940 

Meine Familie 13
Kindheit auf dem Lande 19
Kindergebete 22
Hohenloher Land 24
Lammzeit 29
Schulkind 34
Hirtenleben 39
Ein neuer Anfang: Niedersteinach 43
Konflikte 45
In der neuen Schule 48
Das liebe Vieh 50
Unglück 52
Landalltag 55
Pflichten und Freuden 59
Scheunenbrand 63
Das Gut wird aufgeteilt 67
Landdienst 71
Mädchenkreis 76
Alpenausflug 78
Pfarrköchin in Ruppertshofen 82
Veränderungen 84
Ich will mehr! 89

2. Teil
Schwesternausbildung, Frontschwester, Heimkehr
1940–1945

Lernschwester 95
Städtische Frauenklinik Stuttgart 96
Städtische Augenklinik 103
Katharinenhospital 106
Kreiskrankenhaus Marbach am Neckar 108
Fronteinsatz 115
Reise nach Shitomir 117
Das Lazarett 123
Rückzug nach Polen 144
Verlegung nach Ungarn 153
In der Slowakei 158
Der Rückzug geht weiter: Tschechien 164
In amerikanischer Gefangenschaft 172
Rückkehr nach Hause 180