Kindheit
auf dem Lande
Hohenloher Land
Lernschwester
Das Lazarett
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Kindheit
auf dem Lande
In meiner frühen Kindheit spielte ich oft mit den Nachbarskindern.
Eines von ihnen war Martha »Martl« Schober. Ihre Eltern
besaßen Kühe und zwei schöne Pferde mit langen Schweifen
und schönen Mähnen. Die Pferde hatten im Sommer wegen der
Fliegen bunte Ohrenschützer auf, das sehe ich noch sehr lebhaft
vor mir.
Bei Schobers hielten wir uns gerne neben dem Garten auf, in dem rings
um den Zaun Dahlien in herrlichen Farben blühten. Oben in der Ecke
stand eine Türkische Kirsche, oder Maraskakirsche, mit großen,
gelben Früchten. Wenn sie reif waren, mussten wir aufpassen, dass
uns die beiden Schwestern von Martl beim Stibitzen nicht erwischten.
Von den Kirschen sollte ja für den Winter etwas eingekocht werden.
Rosa und Karoline, so hießen die beiden Geschwister, waren älter
und größer als wir. Manchmal verscheuchten sie uns. So spielten
wir eben am »Gänsebuckele« weiter, bis die beiden zum
Melken in den Stall gerufen wurden. Dann war die Luft wieder rein. Wenn
es im Herbst kühler wurde, zogen wir uns mit den anderen zurück,
ins Haus oder auch in den Stall und halfen dort beim Füttern.
Das alte Bauernhaus der Schobers barg viele Geheimnisse. In der Küche
stand ein wuchtiger Backofen, daneben der tiefe Backtrog, in dem der
Teig für das Schwarzbrot geknetet wurde. Dazu kam der große
Herd mit riesigen Töpfen darauf, die einfach in die Feuerringe
über der Glut eingehängt wurden. Täglich musste die Holzkiste
aufgefüllt werden, wo wir Kinder schon bald helfen konnten. Zur
Belohnung erhielten wir ein Glas Milch und ein Stück Brot mit Himbeermarmelade.
Der große Eisenofen für die Stube wurde vom Schlafzimmer
aus geheizt. Der knackte und bullerte so schön und gemütlich.
Im Ofen summten die Bettflaschen für die Mädchen und die Eltern.
Vater
Schober vor Haus und Scheune in Stachenhausen, meine beste Freundin
Martha in der Mitte zwischen ihren Schwestern Karoline und Rosa, 1926.
Wenn unsere Mutter uns weder sah noch hörte, waren Karl und ich
meist in einem Stall bei den Nachbarn. Frida konnte da noch nicht mit.
Wir zwei Großen um die fünf mussten immer wieder auf die
Dreijährige aufpassen, bis Mutter die Ziegen gemolken hatte. Wenn
Vater von der Weide kam, sollte das Abendessen fertig sein, denn er
war ja fast den ganzen Tag mit seiner Herde unterwegs. Dann wurden noch
die Hunde gefüttert, wobei wir schon sehr früh mit an die
Hütte durften. Bald fanden wir heraus, welchen Hund wir streicheln
durften und bei welchem lieber etwas Abstand angebracht war.
Mein
Vater Johann Ohr. Im Winter trugen die Schäfer einen Vollbart wegen
der Kälte, um 1929.
In und um unser Haus konnten wir vieles entdecken. Unter der Treppe
befand sich ein kleiner Gänsestall, daneben ging es in einen Keller,
der sehr dunkel war. Ganz hinten waren die Mostfässer und die Kartoffeln,
dann kamen die Krautständer und eine Brothenge mit selbst gebackenen
Brotlaiben. Auch wir hatten einen Backofen in der Küche, aber er
war kleiner als der bei Schobers.
Das mit dem Backofen war im Winter prima. Mein Bett stand im Schlafzimmer
hinter der Küche gewissermaßen an der Backofenwand
da konnte ich den Rücken und die Füße herrlich wärmen.
Im Sommer war es dann zu warm und Mutter rückte das Bettchen etwas
weg.
Unser
Haus in Stachenhausen im Hohenloher Land. Mutter mit mir (links) und
meinen beiden Geschwistern, Karl und Frida, 1929.
Ein weiterer Ofen stand zwischen der Stube und dem Schlafzimmer. Hinter
diesem durften sich auch kleine Lämmer wärmen, wenn die Muttertiere
krank waren oder zu wenig Milch gaben. Dann wurde mit der Flasche zugefüttert.
Uns Kindern gefiel es, wenn so ein Lämmchen in der Stube herumwackelte.
Leider war das meist nur für ein paar Tage, bis sie einer anderen
Mutter untergeschoben werden konnten.
Zur Stube hin hatte der Eisenofen zwei Etagen. In der unteren konnte
man kochen und auch Weißbrot oder Gugelhupf backen. Oben summten
angenehm die Kupferbettflaschen oder ein Wassertopf. Ich spürte
beim Hereinkommen allein schon durch das Summen die Wärme.
Eine warme Stube brauchte mein Vater, wenn er durchgefroren nach Hause
kam. Oft brachte er auch die Hunde mit ins Haus, bis ihr Fell trocken
war. Meist hatten wir langhaarige Schäferhunde. Die sahen zottig
aus und waren recht widerstandsfähig. In der härtesten Winterzeit
blieben die Schafe im Stall und wurden mit Heu gefüttert. Das kam
vor allem im Januar vor, oft auch noch im Februar, wenn der Schnee hoch
lag und strenger Frost herrschte. Dann konnten die Schafe den Schnee
nicht beiseite scharren, um an das Gras zu gelangen.
Mein
Vater und unsere Cousine Thea Pröger aus Dresden nach der Schafschur
in Cröffelbach, 1936.
In diesen Monaten musste unsere Mutter auch im Stall sehr viel mithelfen:
Sie stockte das Heu auf und breitete immer wieder frische Streu aus.
Das konnten aber auch bald wir Kinder mit unseren Freunden übernehmen.
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Hohenloher
Land
Stachenhausen liegt in einer sanften Mulde auf der Hohenloher Ebene.
Von mehreren Seiten drückt Quellwasser herein, durch das Dorf murmeln
zwei Bäche. Darin fanden wir Kinder vieles zum Spielen, zum Beispiel
bunte Scherben von zerschlagenen Schüsseln oder Krügen aus
Keramik oder Porzellan. Manches wurde damals im Bach entsorgt; einer
floss direkt hinter unserer Scheune vorbei. Rechts und links der Wasserläufe
lagen die Bauernhäuser mit ihren großen Ställen und
dem vielen Ackergerät auf den Höfen. Mitten im Dorf stand
auch ein großer Brunnen, an dem die Pferde getränkt wurden.
In der
Dorfmitte von Stachenhausen wurden die Pferde getränkt. Von hier
trugen meine Eltern 1921 das Wasser den Berg zu uns herauf. Die Tröge
standen noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg.
An einem der Bäche stand eine kleine Transformatorenstation. Wenn
Herr Pfeifer, der Pumpenwärter, dort hineinging, konnten wir Kinder
das große Schwungrad mit dem breiten Riemen von der Tür aus
sehen das war ein großes Wunderding für uns. Wer offene
Augen hatte, konnte auch damals vieles sehen und beobachten. Solch große
Augen hatte ich wohl schon als kleines Mädchen. Für uns Kinder
war es einfach schön, dort aufzuwachsen.
Stachenhausen
bei Künzelsau zwischen den beiden Weltkriegen. Das Gebäude
mit dem Walmdach in der Mitte ist unser Schulhaus.
Wenn die Schafe im Winter Wasser brauchten, zog Vater mit seiner Herde
hinunter zum Bach. Er schlug, wenn alles zugefroren war, einige Löcher
ins Eis und tränkte seine Tiere. Die Hunde waren immer dabei. Hatten
die Schafe genug Wasser getrunken, ging es wieder heimwärts zur
Futterkrippe. Dabei hieß es für den Schäfer gut aufzupassen,
damit kein Dauerlauf einsetzte, denn jedes Tier wollte zuerst an der
Krippe sein. Die Futterraufen befanden sich außen an den Stallwänden.
Auch in der Mitte stand eine, die den hungrigen Mäulern von zwei
Seiten Platz bot. Dann folgte ein Drängen und Puffen und Stoßen
und Boxen, bis jedes Schaf seine Portion Heu ergattert hatte und satt
war. Nach einer Stunde hörte man nur noch leises Wiederkäuen.
Viele Tiere lagen dann zufrieden in der zuvor erneuerten Streu. Die
Schafe brauchten auch Salz, und so hatte Vater im Hof lange Tröge
aufgestellt, in die einmal wöchentlich Viehsalz eingestreut wurde.
Die Misthaufen der großen Bauernhöfe waren riesig und nahmen
im Winter oft die Hälfte des Hofs ein. Einmal sagte ich zu einem
meiner besten Freunde, er solle doch den Mist hinausfahren, ich wollte
zuschauen. Doch der lachte nur, nahm mich auf den Arm und sagte: »Du
fährst mit!« Wenige Tage später saß ich auf dem
Mistwagen neben Hannes und fuhr mit aufs Feld. Dort wurde der Mist häufchenweise
abgeladen, dann ging es in leichtem Trab wieder nach Hause.
Bei Schnee und Eis konnte es passieren, dass sich ein Pferd ein Bein
brach. Dann kam der Bauer, dem das Pferd gehörte und der es nicht
mehr einspannen konnte, zu unserem Vater. Als Schäfer hatte er
ja Hunde, die Futter brauchten.
Pferdefleisch aß man damals nicht, es schmecke nicht, hieß
es. Jahrzehnte später habe ich junges Fohlenfleisch einmal bei
einer Familie selbst zubereitet, es war köstlich und wir haben
es alle mit Genuss gegessen. Im Vergleich zu unseren Hausschweinen ist
ein Pferd ja doch ein sauberes Tier.
Das Pferd wurde bei uns geschlachtet. So ein großes Tier zu töten,
aufzuhängen und abzuziehen war eine sehr schwere Arbeit. Das Fell
wurde anschließend in die Gerberei gebracht. Dann war das viele
Fleisch zu verarbeiten, das hauptsächlich an der Luft getrocknet
wurde. Noch heute sehe ich vor mir, wie es im Gebälk hing. Das
Pferdefett wurde ausgelassen und die Leute holten sich anschließend
das Kammfett das Fett vom Mähnenansatz ab. Wir verwendeten
es als Salbe, wenn eine Wunde bei einem Tier oder auch beim Menschen
nicht heilen wollte.
Wenn Schnee lag, konnten wir Kinder herrlich Schlitten fahren. Nach
dem langen Toben im Freien kamen wir oft mit Eiszapfen an den Strümpfen
und mit patschnassen Schuhen, halb erfroren, nach Hause. So manches
Mal haben wir uns eine böse Erkältung zugezogen, die auch
Mutters Hausmittel nicht immer kurieren konnte. Dann war Doktor Radtke
gefragt.
In unserer Gegend gab es, soweit ich mich erinnern kann, nur zwei Autos:
das gelbe Postauto von Künzelsau nach Mergentheim, mit dem wir
nach »Küau« und zurück fahren konnten, und das
Auto des ehemaligen Militärarztes Doktor Radtke, überall nur
Doktor Radikal genannt. Einen Hausbesuch mussten wir bei der Gaststätte
»Post« auf der anderen Seite des Dorfes anmelden. Von dort
aus machte der Doktor einmal wöchentlich seine Besuche in den umliegenden
Häusern und Höfen. Wir Kinder hatten Angst vor ihm, er war
ein alter Polterer und klopfte uns hart auf den Po, wenn er uns untersucht
hatte. Das mochte ein krankes Kind natürlich nicht.
Mutter verabreichte uns ihre Hausmittel in Form von kleinen weißen
Kügelchen. Das Rösle Karle in Belsenberg stellte sie her
dafür war sie auch bei den Apothekern und Ärzten bekannt.
Ja, als was? Heute würde man sie vielleicht als Homöopathin,
als Heilpraktikerin, bezeichnen. Zuerst gingen wir also zum Rösle,
doch bei ernsten Krankheiten schickte sie uns gleich weiter zum Arzt.
Die meisten unserer Kinderkrankheiten konnte sie jedoch mit ihren eigenen
Mitteln heilen. Sie war früher selbst einmal Bäuerin und kannte
sich auch in Kuh- und Schweinestall aus. Deshalb hatte sie für
Mensch und Tier Rat und Hilfe. Frau Karle war klein und zart von Statur,
sie hatte einen Kropf und ein zu kurzes Bein, an welchem sie einen Schuh
mit einem ganz hohen Absatz trug.
Auch ihr Mann war recht klein. Er hatte im Ersten Weltkrieg eine Kopfverletzung
erlitten und wurde oft grundlos zornig. Solange meine Mutter und ihre
Schwester Rösle, die 1919 Georg Jakob heiratete und 1930 auf den
nahen Eschenhof zog, noch in Belsenberg lebten, arbeitete er an den
Tagen, an denen es ihm gut ging, bei ihnen auf dem Feld. Karles hatten
ihren Hof an Jüngere verkaufen müssen und bewohnten nur noch
ein kleines Ausdinghaus, so heißt der Alterssitz für Bauern.
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Lernschwester
Am 1. Oktober 1940 fuhr ich per Zug von Künzelsau nach Stuttgart
mit gemischten Gefühlen: Was würde wohl auf mich zukommen?
Das Neue begann gleich am Bahnhof. Ich musste in die Straßenbahn
steigen und bis zur Haltestelle Silberburgstraße fahren. Von dort
schleppte ich den schweren Koffer noch einen weiten Weg zu Fuß.
Nun stand ich vor dem Haus. Mein Herz klopfte, ich fasste Mut und klingelte.
Eine ältere Schwester in grauer Kleidung öffnete. Sie hatte
eine weiße Haube mit den Streifen des Roten Kreuzes auf dem Kopf,
trug eine weiße Schürze und am Kleid eine große Rotkreuz-Brosche.
So etwa wirst du einmal aussehen, dachte ich.
Die
Arbeitstracht der Schwesternschülerin. Bei meinem Besuch im Pfarrhaus
in Ruppertshofen 1941 trug ich einen Seitenscheitel, obwohl die Oberin
uns strikt auf Mittelscheitel verpflichten wollte.
Im Haus der Schwesternschaft herrschte reges Treiben, denn an diesem
Tag kamen 20 junge Mädchen an, die alle den Herbstkurs für
die Ausbildung belegt hatten. Eine von ihnen war ich. Noch am selben
Tag wurden wir eingekleidet und auf die verschiedenen Krankenhäuser
verteilt. Jede von uns bekam drei Kleider, sechs Schürzen und vier
Hauben ohne Band, da wir vorläufig nur Schülerinnen
waren.
Die vielen jungen Mädchen zusammen waren wie ein großer Ameisenhaufen.
Diejenigen, die in den Krankenhäusern in Esslingen und Göppingen
beginnen sollten, wurden zuerst eingekleidet, denn sie mussten noch
ein Stück mit der Bahn fahren. Wer in Stuttgart blieb, kam zuletzt
dran. Zu sechst wurden wir für die Städtische Frauenklinik
in der Bismarckstraße 3 eingeteilt.
Nach
bestandenem Examen am 25. März 1942 präsentierten wir uns
vor dem Katharinenhospital in Stuttgart. Ich stehe in der zweitletzten
Reihe rechts außen mit Mittelscheitel!
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Das
Lazarett
Nach langem, hartnäckigem Klopfen öffnete ein verschlafener
Sanitäter die Tür. Er war zunächst sehr misstrauisch
und wollte nicht glauben, dass mitten in der Nacht eine Schwester vor
ihm stand und behauptete, sie sei hier am Ziel und man solle sie hereinlassen.
Nachdem ich schließlich mein Verwendungsbuch hervorgekramt hatte,
ließ er sich überzeugen und gewährte mir Eintritt. Erst
dann fuhren die anderen, die mich vorbeigebracht hatten, weiter. Überall
herrschte Misstrauen und Angst, Partisanen lauerten, und man musste
immer mit allem rechnen. Todmüde legte ich mich auf eine Trage,
die ich hinter einer Zeltplane entdeckt und die mir der Sanitäter
aufgebaut hatte. Er wollte mir noch einen heißen Tee bringen,
aber ich war bereits nach wenigen Sekunden eingeschlafen.
Am nächsten Morgen berichtete er in seinem Rapport, dass über
Nacht ein Neuzugang eingetroffen sei. Er habe eine Schwester aufgenommen,
die noch hinter der Zeltplane schlafe. Keiner wusste Bescheid über
mich. Erst als der Chefarzt und die Oberschwester verständigt wurden,
konnte das Rätsel gelöst werden. Ja, eine Schwester Erika
sei angemeldet, sie sei schon seit einigen Tagen überfällig.
Alle waren nun froh, dass ich angekommen war. Allerdings war ich immer
noch nicht im richtigen Haus. Die Innere Abteilung, bei der ich zunächst
gelandet war, wusste von nichts, denn ich sollte zur Chirurgie und diese
befand sich in einem anderen Gebäude. Dieses lag noch weiter weg.
Das machte mir zu diesem Zeitpunkt jedoch nichts aus: Ich war in Shitomir;
ich schlief. Der Rest würde sich auch noch klären.
Mein Schlaf war sehr unruhig, das monotone Rollen der Räder fehlte
mir. In der Nacht wurde ich wach und wusste zunächst nicht, wo
ich mich befand ich hatte Schwierigkeiten, mich zu orientieren.
Alles war ruhig, Licht konnte ich nicht entdecken. Später bemerkte
ich ein kleines Fenster, durch das fahles Morgenlicht fiel. Danach gingen
Menschen durch den Raum, eine Tür fiel laut ins Schloss. Dann war
wieder Stille. Langsam kam ich zu mir, ich erhob mich und streckte meinen
Kopf hinter der Zeltplane hervor. Ich kannte mich nicht aus, alles war
fremd. So legte ich mich wieder hin und wartete, ob mich jemand holen
würde. Und wieder eine ganze Weile später hörte ich eine
Stimme, die ich kannte. Es war die Stimme des Sanitäters, der mich
hereingelassen hatte.
Schritte kamen auf mich zu, ich richtete mich auf. Der Sanitäter
hatte eine Schwester bei sich. Es war die Oberschwester, sie hieß
Margarete Lapp. Nun wurde ich in ihre Obhut übergeben. Kurz berichtete
ich ihr meine Geschichte. Sie war ganz außer sich, aber froh,
dass mir nichts passiert und dass ich heil angekommen war, wenn auch
verspätet.
Nun brachten Soldaten heißes Wasser in großen roten Kannen
und bereiteten mir ein Bad, denn in dem Raum standen an der Stirnseite
zwei große Badewannen. Was für eine Wohltat, nach dieser
langen und entbehrungsreichen Reise! Da störte es mich auch nicht,
dass ich im so genannten Entlausungsraum badete. Das erfuhr ich allerdings
auch erst später beim Frühstück mit den vielen fremden
Schwestern, die mich neugierig betrachteten.
Das
Lazarett in Shitomir, 1943. Bei der ersten Gartenarbeit im Frühjahr
halfen Schwestern, Verwundete und selbst unser Chef Doktor Welkers mit.
Später
am Vormittag brachte mich ein Panjewagen mit meinem Gepäck in die
Chirurgie ins weiter entfernt liegende B-Lazarett. Auf dieser Fahrt
sah ich unzählige zerschossene Häuser und Ruinen. Die Straße
war breit, aber sehr holperig. Dann tauchte ein großes, noch weitgehend
erhaltenes Gebäude hinter einer hohen und langen Mauer auf, vor
einem Tor standen zwei Wachposten. Hier bog unser Pferd rechts hinein.
Bei einem kleinen Haus hielt der Kutscher an und sagte, dass sich dort
der Oberstabsarzt und der Chefarzt Doktor Döring befänden.
Dann empfing mich Oberschwester Margarete, die ich ja bereits kennen
gelernt hatte, und stellte mich den beiden vor. Nach einem kurzen Gespräch
mit dem Chefarzt ging es in einen großen Bau, es war eine ehemalige
Schule. Ich wurde einer Schwester Lotte und einer Schwester Liselotte
zugeteilt. Sie waren für Operationen und für den großen
Verbandsraum zuständig.
Im Lazarett arbeiteten noch viele weitere Schwestern, die ich erst nach
und nach kennen lernte. Im Haus selbst schliefen aber nur wir drei OP-Schwestern.
Die anderen waren außerhalb untergebracht. Das Esszimmer befand
sich über der Hauptküche. Doch nicht immer konnten alle gemeinsam
essen, das hing vom Arbeitsanfall auf den Stationen ab. Hier gab es
große Krankensäle mit 30 bis 40 Betten, in einem Saal lagen
sogar 98 Patienten. Die beiden Schwestern, die für diesen Saal
verantwortlich waren, kamen den ganzen Tag kaum mehr heraus gerade
einmal zu den Mahlzeiten, aber auch nur, wenn eine andere für sie
einsprang. Das war eine harte Wechselschicht.
Jeweils zwischen zwei Sälen standen große Öfen, die
vom Flur aus geheizt wurden. Das besorgten Hilfskräfte oder auch
Gefangene, die dafür täglich aus einem Lager gebracht wurden.
Die Versuchung war für sie groß, Lebensmittel oder Brennstoff
mitzunehmen, obwohl schwerste Strafen darauf standen. Abends wurden
alle genau überprüft, ehe sie ins Lager zurückgingen.
Die Luft in den Sälen war zum Schneiden, eigentlich war es nicht
zum Aushalten. Es roch nach Blut und Eiter. Alles mischte sich mit dem
lauten Wehklagen der Verletzten und Verwundeten; sie hatten Schmerzen,
die oft nicht gelindert werden konnten. Dieses Klagen, Schreien, Rufen
und Jammern überlagerte alles.
Damit musste
jede Schwester allein fertig werden. Die Belastung ging manchmal bis
an die Grenzen dessen, was man ertragen konnte, und doch blieb kaum
Zeit, darüber nachzudenken. Dort lagen so viele blutjunge Menschen,
manche waren noch jünger als wir jüngsten Schwestern, sie
waren verletzt, verstümmelt, zerschunden. Auch viele Familienväter
lagen da, die uns ihre Sorgen und Ängste erzählten, die nicht
aufhörten zu fragen, wann sie denn weiter zurückverlegt würden,
wann es in Richtung Heimat ging. Täglich kamen Fragen, auf die
wir oft keine oder nur ungenügende Antworten wussten. Dennoch konnte
ich mir mein fröhliches Wesen durch den Krieg hindurch retten,
so manchem Verwundeten Mut machen und vielleicht auch ein Lächeln
abringen, trotz großer Schmerzen und großem Leid. (...)
Der Herbst
rückte näher, aber damit auch die Front: Rückzug auf
der ganzen Linie. Aus Frankreich wurden Truppen zur Verstärkung
gebracht. Auch mehr Ärzte und Schwestern sollten uns nun unterstützen.
Für sie war es wie ein Sprung ins kalte Wasser: Harte Arbeit war
angesagt, dazu der beißende Frost. Viele »Etappenhasen«
waren darunter so nannte man diejenigen, die bisher im Hinterland
und von der Front weit entfernt Dienst hatten. Doch schnell mussten
auch sie zupacken und Paris, Nancy oder woher sie auch kamen
vergessen.
Mit dem Näherrücken der Front stieg auch die Zahl der Schwerstverwundeten,
die Arbeit wurde härter, belastender. Immer mehr Patienten unseres
Lazaretts starben. Wir begruben unsere Toten auf dem Friedhof über
dem Fluss Teterew. Dort wurden viele Soldaten bestattet, in langen Reihen
waren schon Gräber ausgehoben. In den Gräben stand Sarg an
Sarg. Unser Wehrmachtspfarrer sprach einige Worte und ein Gebet, meist
waren ein oder zwei Schwestern dabei das waren diejenigen, die
den Verwundeten gepflegt und betreut hatten, die einzigen »Angehörigen«.
Die Abteilung unserer Gefallenen auf dem Friedhof wurde immer größer,
die Kreuze, aus Holz zusammengezimmert, immer mehr. In der Stadt gab
es ja bis zu zehn Lazarette. Auch eine Schwester von uns, Martha Weller,
wurde dort begraben, sie starb an Fleckfieber.
Von einem anderen Lazarett hörten wir, dass die Sanitäter
zwar mit den Toten zum Friedhof am Wald gefahren, aber dort niemals
angekommen waren. Keine Spur fand man von ihnen. Ob sie Opfer eines
Partisanenüberfalls geworden waren? Die Partisanen wurden ja jetzt
immer dreister.
Zum Advent wollten wir bei einer Gärtnerei am Stadtrand etwas Tannengrün
holen von dort bekamen wir sonst Salate und frisches Gemüse
fürs Lazarett. Liselotte und ich marschierten los. Der Weg zog
sich hin, kein Mensch war zu sehen. Plötzlich hörten wir Schüsse,
ganz in der Nähe. Wir drückten uns in einen Hauseingang und
warteten, verhielten uns ganz ruhig. Mit einem Mal herrschte absolute
Stille. Langsam kamen wir aus unserem Versteck hervor und gingen angsterfüllt
weiter, die Gärtnerei konnten wir schon sehen. Nur noch der kleine
Platz am Ende der Straße war zu überqueren. Dann, großes
Entsetzen! Auf dem Platz hatte eine Hinrichtung stattgefunden. Dort
standen Galgen, und wir mussten an den gerade erhängten und erschossenen
Menschen vorbeigehen. Lastwagen standen schon zum Abtransport der Leichen
bereit.
Zitternd kamen wir in der Gärtnerei an. Ob wir noch Tannenzweige
mitnahmen, kann ich nicht mehr sagen. Das schreckiche Erlebnis traf
uns bis ins Innerste. Wir trauten uns nicht mehr zurück. Zum Glück
kamen wenig später Soldaten mit einem Kübelwagen vorbei, die
uns ins Lazarett brachten.
Jeden Tag ging es turbulenter zu: Schießereien, Verwundete, Transporte,
Tote wir wussten nicht mehr, wo die Front verlief. Auch auf unser
Lazarett fielen einmal Bomben. Im OP zersplitterten Scheiben. Stromausfall.
Mit dem Notstromaggregat konnten wir weiteroperieren.
Bereits seit August wurden wir als Kriegslazarett geführt. Dafür
gab es eine bestimmte Reihenfolge oder Gewichtung: Direkt an der Front
war der so genannte Hauptverbandsplatz, als nächste Station kam
das Feldlazarett, wo die Verbände gewechselt wurden. Dahinter lag
das Kriegslazarett, hier hielten sich die Verwundeten meist zwei bis
drei Tage auf, erst dann ging es weiter zurück. Manche Transporte
wurden gleich weitergeleitet, wenn die Lazarette überfüllt
waren. Nur einzelne Verwundete nahmen wir heraus Notfälle,
die schnell amputiert oder operiert werden mussten.
Dann hörten wir, dass sich einige Lazarette ebenfalls auf dem Rückzug
befanden. Kiew war von den Russen eingenommen worden. Es lag auf der
so genannten »Rollbahn« der Hauptverkehrsstraße
zwischen Kiew, Shitomir und Rowno, auf der die Panzer unentwegt rollten
und dröhnten, nur einige Stunden entfernt von uns.
Wir waren weit überbelegt, bald stündlich überschlugen
sich die Meldungen, keiner wusste etwas Genaues über die aktuelle
Lage. Ein Transport Schwerverwundeter nach dem anderen erreichte uns
und gleichzeitig mussten wir weiter zurückverlegen. Als der letzte
Zug am Bahnhof mit Schwerverletzten beladen wurde, hörten wir schon
Kanonendonner, der Zug sollte schnellstens weg. Die Zeit drängte.
Unsere Sankas aber reichten zum Transport der vielen, vielen Schwerverletzten
nicht aus. Doch sie mussten unbedingt noch mit in diesen Zug. Wie sollten
wir das so schnell schaffen? Wir hatten einfach nicht genügend
Transportmittel.
So stellte sich Chefarzt Doktor Poth an die Hauptstraße, stoppte
alle vorbeifahrenden Lkws und leitete sie ins Lazarett um. Dort wurden
die Verwundeten unserer Häuser mit ihren Matratzen auf die Pritschen
geladen.
[nach
oben]
Inhalt »Schäfers
Tochter«
Vorwort
von Dr. Birgit Panke-Kochinke 7
Einleitung 9
1.
Teil
Kindheit und Jugend im Hohenloher Land
19211940
Meine
Familie 13
Kindheit auf dem Lande 19
Kindergebete 22
Hohenloher Land 24
Lammzeit 29
Schulkind 34
Hirtenleben 39
Ein neuer Anfang: Niedersteinach 43
Konflikte 45
In der neuen Schule 48
Das liebe Vieh 50
Unglück 52
Landalltag 55
Pflichten und Freuden 59
Scheunenbrand 63
Das Gut wird aufgeteilt 67
Landdienst 71
Mädchenkreis 76
Alpenausflug 78
Pfarrköchin in Ruppertshofen 82
Veränderungen 84
Ich will mehr! 89
2.
Teil
Schwesternausbildung, Frontschwester, Heimkehr
19401945
Lernschwester 95
Städtische Frauenklinik Stuttgart 96
Städtische Augenklinik 103
Katharinenhospital 106
Kreiskrankenhaus Marbach am Neckar 108
Fronteinsatz 115
Reise nach Shitomir 117
Das Lazarett 123
Rückzug nach Polen 144
Verlegung nach Ungarn 153
In der Slowakei 158
Der Rückzug geht weiter: Tschechien 164
In amerikanischer Gefangenschaft 172
Rückkehr nach Hause 180
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