Unser
neues Heim am Maat
Meinen Eltern war es 1939 durch die Wohnungsbauförderung der Nazis
ermöglicht worden, ein Haus in einer Neubausiedlung zu einem Preis
von 19000 Reichsmark zu erwerben. Für die damalige Zeit war das
ein erheblicher Betrag, der von meinen Eltern mit monatlichen Raten
von 80 bis 90 Reichsmark abbezahlt wurde.
Unsere
Familie leider ohne Vater im Jahre 1942. Von links nach
rechts: Trude, Ernst, ich, Cilli und unsere Mutter.
Die Siedlung war so angelegt, daß zwei Reihen von jeweils 15 Häusern
rechtwinklig zueinander standen. Da, wo die beiden Hausreihen aufeinandertrafen,
befand sich unser Haus. Mutter hatte großen Wert darauf gelegt,
genau dieses Haus zu bekommen, weil es den meisten Wohnraum und somit
mehr Zimmer als die Nachbarhäuser besaß, denn schließlich
waren wir eine sechsköpfige Familie. Mutter, die in Neuwerk-Bettrath
geboren und groß geworden war und während der ersten Ehejahre
in München-Gladbach in der Hagelkreuzstraße, also in der
Stadt, gewohnt hatte, zog also wieder in ihre heimatliche Umgebung,
nach Neuwerk, zurück. Zwar waren die Honschaften Bettrath und Damm
streng voneinander getrennt, aber sie zog wieder nach Neuwerk. Mein
Vater, der aus Hannover stammte und dessen Familie in Viersen wohnte,
zog aber sicherlich in eine für ihn fremde Welt.
Mutter
und ich 1942 beim Besuch in Bettrath, wo meine Großeltern lebten.
So sah mein Vater vor dem Krieg aus. Nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit
arbeitete er seit 1934 im Wehrbezirkskommando von München-Gladbach.
Er war stolz darauf, als Angestellter mit Schlips und Kragen ins Büro
gehen zu können, und erledigte seine Aufgaben mit äußerster
Gewissenhaftigkeit.
Die Nachbarn zur Rechten und zur Linken waren fast ausnahmslos Arbeiter:
Weber oder Schlosser, die in den naheliegenden Fabriken arbeiteten.
Hinter den Häusern befanden sich kleine Gärten, die aber groß
genug waren, um den Bewohnern einen Wintervorrat an Gemüse, Kartoffeln
und Obst zu sichern. Die meisten hielten Schweine, Kaninchen oder Hühner
in einem Stall, der unmittelbar hinter dem Hof lag. Leider hatten wir
keinen derartigen Stall, so daß mir viele Möglichkeiten zum
Versteckspiel oder zur Tierhaltung fehlten. Die meisten Wohnungen bestanden
aus Küche, Wohnraum, Schlafzimmer und einer Toilette, die sich
außerhalb der Wohnung befand.
Auf unserer Toilette hing ein Holzbrettchen mit dem herrlichen Spruch:
»Der Mensch braucht ein Plätzchen, der sei noch so klein,
von dem er kann sagen: Sieh her, das ist mein. Hier leb
ich, hier lieb ich, hier ruhe ich aus. Hier ist meine Heimat,
hier bin ich zu Haus.« Leider ist dieser schöne Wandspruch
verlorengegangen. Zu gerne hätte ich ihn als Andenken aufbewahrt.
Das Haus unserer Familie am Maat in Neuwerk-Markt, Teil einer Reihenhaussiedlung
aus den dreißiger Jahren.
In der oberen Etage unseres Hauses wohnte bis 1945 Vaters Mutter. Später
war die Wohnung vermietet und erleichterte durch die Mieteinnahmen die
Abbezahlung des Hauses. Großmutter wurde 92 Jahre alt. Im hohen
Alter war sie recht eigen, fand für viele Dinge nicht mehr das
richtige Wort und nannte sie nur noch »Kirche«. Sie konnte
sehr böse werden, wenn man sie nicht verstand und ihr den falschen
Gegenstand brachte. »Gib mir die Kirche, gib mir die Kirche«,
wütete sie dann verzweifelt. Großmutter hatte einen Kanarienvogel.
Ob der Vogel männlich oder weiblich war, ist mir verborgen geblieben.
Auf jeden Fall mußte Cilly den Vogelkäfig mit einem Tuch
bedecken, wenn Großmutter sich auszog.
Im
Keller unseres Hauses befanden sich die Waschküche und ein Vorratsraum
mit einer riesigen Kartoffelkiste, in die im Herbst fünf bis sieben
Zentner Kartoffeln eingelagert wurden. Auf Holzregalen standen viele
Einmachgläser mit Obst und Gemüse. Unsere Mutter verarbeitete
es und kochte es im Laufe des Sommers ein. Zwei große Tonfässer,
abgedeckt mit einem Leinentuch und einem Holzdeckel und beschwert von
zwei großen Steinen, waren voll mit eingelegten Bohnen und Sauerkraut.
Dieser Vorrat reichte für die Familie oft bis ins Frühjahr.
Im Keller war noch ein weiterer Raum, der im Krieg als Luftschutzraum
diente.
In der Waschküche wurde nicht nur die Wäsche gewaschen, sondern
sie war auch unser Badezimmer. Samstags machte Vater unten im Keller
den Ofen an. Es dauerte dann eine geraume Zeit, bis das Wasser im Kessel
kochte und wir in der Zinkbadewanne, die neben dem Ofen stand, baden
konnten. Es gab aber nicht immer für jeden von uns frisches Wasser.
Zuerst kam ich in die »Bütt«, nach mir dann meine Schwester
Trude. Als ich allerdings eines Tages ins Badewasser pinkelte, weigerte
sich Trude ganz entschieden, nach mir zu baden, so daß fortan
die Reihenfolge geändert wurde.
Ein Badezimmer hatten bis Anfang der sechziger Jahre nicht. Wir wuschen
uns in der kleinen Kochküche am Waschbecken mit kaltem Wasser.
Die Keller waren untereinander mit einem Durchschlupf, der zunächst
vermauert war, verbunden. Offensichtlich war in der Planung dieser Häuser
schon berücksichtigt worden, daß es einmal zu einem Bombenkrieg
kommen könnte, und es war eine entsprechende Vorsorge getroffen
worden. Im Krieg machten wir die Kellerräume dann untereinander
zugänglich. Die schmale Zwischenmauer, die den Durchschlupf versperrte,
wurde beseitigt und mit einem Bretterverschlag provisorisch versperrt.
Außerdem mußten wir im Keller einen Raum bombensicher herrichten.
Die Decke wurde mit Holzbalken abgestützt, und wir richteten Notbetten
ein. Unsere Häuser sind nie von Bomben getroffen worden, aber wir
haben manche Nacht im Keller verbracht, wenn München-Gladbach bombardiert
wurde.
Unter den Nachbarn gab es Abneigungen, Gleichgültigkeiten und auch
gute, fast freundschaftliche Beziehungen. So war unsere Mutter lange
mit einer Witwe befreundet, deren Mann sehr früh gefallen war.
Die Frau kam häufig abends zu uns herüber, um sich mit Mutter
auszutauschen und ihren Kummer von der Seele zu reden. So kam es, daß
ich in meiner Kindheit mit ihrem Sohn, der etwas älter war als
ich, lange Zeit viel unternahm. Wir waren Spielkameraden und auch Schulfreunde.
Hin und wieder machten wir auch Schulaufgaben gemeinsam.
Vor unseren Häusern befand sich der Marktplatz. Es war ein nicht
sonderlich gepflegter Sandplatz, auf dem wir Fußball spielten
und im Winter manchmal Schlittschuh liefen. Zweimal im Jahr diente der
Markt auch als Kirmesplatz. Es war kein Markt, auf dem regelmäßig
Gemüse verkauft wurde. Gegen Ende des Krieges fanden hier hin und
wieder Pferdemusterungen statt, bei denen die Tiere auf ihre Kriegstauglichkeit
untersucht wurden. Pferde waren damals für die bäuerliche
Wirtschaft sehr wichtig. Mit ihrem Verlust konnte ein Bauer seine Existenz
verlieren. Die Felder wurden fast nur mit Pferden, selten auch mit Ochsen
bestellt. Was blieb den Bauern anderes übrig, als zu einem Trick
zu greifen? Sie rieben ihren Pferden die Beine mit einem Mittel ein,
das sie dick wie Elefantenbeine anschwellen ließ. Die meisten
Tiere wurden darauf hin kriegsuntauglich geschrieben.
Sehr viel später stand auf dem Marktplatz eine einzige fahrbare
Gemüsebude, die, wenn zu späterer Stunde die Gäste von
unserer Dorfbierkneipe »Bolten Pitter« kamen, häufig
mit der herausklappbaren Ladentheke gegen eine Mauer gestellt wurde.
Alle, die am Maat wohnten, haben über lange Jahre hinweg eine schwierige
Zeit erlebt und erfolgreich durchgestanden: die Nazi-Zeit, den Krieg
mit den Bombenangriffen und die Nachkriegszeit. Wir lebten lange in
Unsicherheit, hatten nicht genügend zu essen und wußten nicht,
was uns die Zukunft bringen würde. Es ist bewundernswert, wie die
Menschen am Maat zusammen diese Zeiten bewältigt haben. Mit einem
Blick nach vorne haben sie privat und auch später beruflich Außerordentliches
geleistet und können mit Recht stolz auf ihr Leben zurückblicken.
Ein
Blick in unseren »Vorhof«, den in den dreißiger Jahren
neugestalteten Marktplatz von Neuwerk. Dort, wo die beiden Häuserreihen
im rechten Winkel aufeinanderstoßen, befindet sich das Haus meiner
Kindheit. Der Marktplatz war nicht nur nachbarlicher Treffpunkt, sondern
auch bei uns Kindern ein beliebter Spielplatz.
[nach
oben]
Bombenhagel
und Bunkernächte
Was ein Krieg war und was Krieg bedeutet, wußte ich damals nicht.
Unser Haus wurde umgebaut. Im Keller wurde ein Raum zu einem Luftschutzraum
ausgebaut. Balken und Stützbalken sollten die Kellerdecke gegen
Bombentreffer absichern. An der Seitenwand waren zweigeschossige Notbetten
aufgebaut und standen zusammen mit gefüllten Wasser- und Sandeimern
zum Löschen für die Bombennächte bereit.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1944 gab es den dritten Großangriff
auf München-Gladbach. Mutter weckte uns, und auf dem Weg in den
Keller hörte ich aus dem Volksempfänger die Stimme: »Feindliche
Flugzeuge nähern sich dem Raum München-Gladbach.«
Wir hörten die Abwehrkanonen feuern, und als die Eltern feststellten,
daß Neuwerk in dieser Nacht nicht Ziel der Angriffe sein würde,
gingen wir vor das Haus und konnten die schrecklichen Ereignisse aus
der Ferne beobachten. Am Himmel waren die Scheinwerferstrahlen zu sehen,
die den Himmel mit ihren Lichtpfeilern nach feindlichen Flugzeugen absuchten.
Ein Flugzeug geriet in ein Scheinwerferfadenkreuz und versuchte zu entkommen.
Feuerschein loderte über der Stadt.
Bombenexplosionen waren zu hören. Auch die Nachbarn hatten inzwischen
ihre Kellerräume verlassen, standen auf der Straße und schauten
fasziniert diesem ungeheuerlichen Schauspiel zu.
München-Gladbach, Lüpertzender Straße, Ecke Stepgesstraße,
nach dem schweren Bombenangriff vom 31. August 1944. Im Hintergrund
links ist das kaum beschädigte »Mathematisch-naturwissenschaftliche
Gymnasium« zu sehen, das ich ab 1948 besuchte. Unter diesem Namen
existiert es noch heute.
In dieser Nacht sind in München-Gladbach 497 Menschen in ihren
Kellern verbrannt, erstickt oder ertrunken. Beim ersten Großangriff,
am 31. August 1943, waren 359 Menschen sofort gestorben und 54 weitere
erlagen einige Tage später ihren Verletzungen. Am 19. September
1943, beim zweiten großen Angriff, gab es 290 Tote, und die weiteren
Bombardements vom vom 27./28. Dezember 1944 und 1. Februar 1945 fordert
nochmals insgesamt 366 Opfer. Der Stadtkern von München-Gladbach
wurde während des Krieges zu 60Prozent zerstört, das benachbarte
Rheydt zu 90 Prozent und das kleine Odenkirchen sogar zu 97 Prozent.
Nach dem Krieg bin ich mit Vater auf einem unserer großen, ausgedehnten
Sonntagsspaziergänge zum Gladbacher Friedhof gegangen und sah,
daß sich die Gräber mit und ohne Beschriftung über viele
Friedhofszeilen erstreckten.
Am Tag nach dem nächtlichen Bombenagriff zogen Frauen und Kinder
mit Handkarren, die mit ihren wenigen geretteten Habseligkeiten beladen
waren, nach Neuwerk. Auch Verwandte der Nachbarsfamilie waren dem nächtlichen
Inferno entkommen. Das Grauen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die
Frauen trugen lange Hosen und Kopftücher. Sie rochen fürchterlich
nach Rauch; es war ein strenger, durchdringender Geruch, der ihnen anhaftete.
(...)
[nach
oben]
Inhalt »Und plötzlich kam der Frieden«
Vorwort
und Dankeschön 7
Neuwerk
Der Ort und seine Bewohner 8
Unser neues Heim am Maat 11
Die Nachbarschaft 15
Driet Lüesch 23
Kindergarten
Bei den Ordensschwestern 26
Schulzeit
In der Volksschule 29
Die
Juden in München-Gladbach
Die Reichskristallnacht 36
Täglich
Krieg
Bombenhagel und Bunkernächte 41
Der Frieden kommt auf Gummisohlen 50
Nachkriegszeit
Neuanfang 55
Ernsts lange Reise 58
Vater 62
Hunger 64
Ganz Deutschland war unterwegs 67
Währungsreform 69
Das
Kinderparadies
Unsere Spiele 71
Spitznamen 78
Napoleon 81
Im
Dienst der Kirche
Meßdiener 84
Pastor Mager 87
Familie
Reiners
Bettrath 90
Oma und Opa Reiners 94
Warum die Reiners schwarze Haare haben 98
Tante Maria 100
Mutter und Vater 103
Schlaglichter
Bei uns zu Hause 107
Cilli und Trude 108
Unser Radio 110
Spaziergänge mit Vater 111
Bolten Pitter 113
Purzel 114
Schlußbemerkung
118
Neuwerker
Platt 119
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