Leseprobe

Fritz Thürnau
Und plötzlich kam der Frieden
Eine Kindheit in Kriegs- und Nachkriegsjahren. 1938-1948

Broschiert, 128 Seiten, mit 21 Fotos
Sammlung der Zeitzeugen (26)
ISBN 3-933336-75-9
9,90 EUR


Unser neues Heim am Maat

Meinen Eltern war es 1939 durch die Wohnungsbauförderung der Nazis ermöglicht worden, ein Haus in einer Neubausiedlung zu einem Preis von 19000 Reichsmark zu erwerben. Für die damalige Zeit war das ein erheblicher Betrag, der von meinen Eltern mit monatlichen Raten von 80 bis 90 Reichsmark abbezahlt wurde.



Unsere Familie – leider ohne Vater – im Jahre 1942. Von links nach rechts: Trude, Ernst, ich, Cilli und unsere Mutter.


Die Siedlung war so angelegt, daß zwei Reihen von jeweils 15 Häusern rechtwinklig zueinander standen. Da, wo die beiden Hausreihen aufeinandertrafen, befand sich unser Haus. Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, genau dieses Haus zu bekommen, weil es den meisten Wohnraum und somit mehr Zimmer als die Nachbarhäuser besaß, denn schließlich waren wir eine sechsköpfige Familie. Mutter, die in Neuwerk-Bettrath geboren und groß geworden war und während der ersten Ehejahre in München-Gladbach in der Hagelkreuzstraße, also in der Stadt, gewohnt hatte, zog also wieder in ihre heimatliche Umgebung, nach Neuwerk, zurück. Zwar waren die Honschaften Bettrath und Damm streng voneinander getrennt, aber sie zog wieder nach Neuwerk. Mein Vater, der aus Hannover stammte und dessen Familie in Viersen wohnte, zog aber sicherlich in eine für ihn fremde Welt.

Mutter und ich 1942 beim Besuch in Bettrath, wo meine Großeltern lebten.



So sah mein Vater vor dem Krieg aus. Nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit arbeitete er seit 1934 im Wehrbezirkskommando von München-Gladbach. Er war stolz darauf, als Angestellter mit Schlips und Kragen ins Büro gehen zu können, und erledigte seine Aufgaben mit äußerster Gewissenhaftigkeit.


Die Nachbarn zur Rechten und zur Linken waren fast ausnahmslos Arbeiter: Weber oder Schlosser, die in den naheliegenden Fabriken arbeiteten. Hinter den Häusern befanden sich kleine Gärten, die aber groß genug waren, um den Bewohnern einen Wintervorrat an Gemüse, Kartoffeln und Obst zu sichern. Die meisten hielten Schweine, Kaninchen oder Hühner in einem Stall, der unmittelbar hinter dem Hof lag. Leider hatten wir keinen derartigen Stall, so daß mir viele Möglichkeiten zum Versteckspiel oder zur Tierhaltung fehlten. Die meisten Wohnungen bestanden aus Küche, Wohnraum, Schlafzimmer und einer Toilette, die sich außerhalb der Wohnung befand.

Auf unserer Toilette hing ein Holzbrettchen mit dem herrlichen Spruch: »Der Mensch braucht ein Plätzchen, der sei noch so klein, von dem er kann sagen: ›Sieh her, das ist mein. Hier leb’ ich, hier lieb’ ich, hier ruhe ich aus. Hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Haus.‹« Leider ist dieser schöne Wandspruch verlorengegangen. Zu gerne hätte ich ihn als Andenken aufbewahrt.


Das Haus unserer Familie am Maat in Neuwerk-Markt, Teil einer Reihenhaussiedlung aus den dreißiger Jahren.


In der oberen Etage unseres Hauses wohnte bis 1945 Vaters Mutter. Später war die Wohnung vermietet und erleichterte durch die Mieteinnahmen die Abbezahlung des Hauses. Großmutter wurde 92 Jahre alt. Im hohen Alter war sie recht eigen, fand für viele Dinge nicht mehr das richtige Wort und nannte sie nur noch »Kirche«. Sie konnte sehr böse werden, wenn man sie nicht verstand und ihr den falschen Gegenstand brachte. »Gib mir die Kirche, gib mir die Kirche«, wütete sie dann verzweifelt. Großmutter hatte einen Kanarienvogel. Ob der Vogel männlich oder weiblich war, ist mir verborgen geblieben. Auf jeden Fall mußte Cilly den Vogelkäfig mit einem Tuch bedecken, wenn Großmutter sich auszog.

Im Keller unseres Hauses befanden sich die Waschküche und ein Vorratsraum mit einer riesigen Kartoffelkiste, in die im Herbst fünf bis sieben Zentner Kartoffeln eingelagert wurden. Auf Holzregalen standen viele Einmachgläser mit Obst und Gemüse. Unsere Mutter verarbeitete es und kochte es im Laufe des Sommers ein. Zwei große Tonfässer, abgedeckt mit einem Leinentuch und einem Holzdeckel und beschwert von zwei großen Steinen, waren voll mit eingelegten Bohnen und Sauerkraut. Dieser Vorrat reichte für die Familie oft bis ins Frühjahr. Im Keller war noch ein weiterer Raum, der im Krieg als Luftschutzraum diente.

In der Waschküche wurde nicht nur die Wäsche gewaschen, sondern sie war auch unser Badezimmer. Samstags machte Vater unten im Keller den Ofen an. Es dauerte dann eine geraume Zeit, bis das Wasser im Kessel kochte und wir in der Zinkbadewanne, die neben dem Ofen stand, baden konnten. Es gab aber nicht immer für jeden von uns frisches Wasser. Zuerst kam ich in die »Bütt«, nach mir dann meine Schwester Trude. Als ich allerdings eines Tages ins Badewasser pinkelte, weigerte sich Trude ganz entschieden, nach mir zu baden, so daß fortan die Reihenfolge geändert wurde.
Ein Badezimmer hatten bis Anfang der sechziger Jahre nicht. Wir wuschen uns in der kleinen Kochküche am Waschbecken mit kaltem Wasser.

Die Keller waren untereinander mit einem Durchschlupf, der zunächst vermauert war, verbunden. Offensichtlich war in der Planung dieser Häuser schon berücksichtigt worden, daß es einmal zu einem Bombenkrieg kommen könnte, und es war eine entsprechende Vorsorge getroffen worden. Im Krieg machten wir die Kellerräume dann untereinander zugänglich. Die schmale Zwischenmauer, die den Durchschlupf versperrte, wurde beseitigt und mit einem Bretterverschlag provisorisch versperrt. Außerdem mußten wir im Keller einen Raum bombensicher herrichten. Die Decke wurde mit Holzbalken abgestützt, und wir richteten Notbetten ein. Unsere Häuser sind nie von Bomben getroffen worden, aber wir haben manche Nacht im Keller verbracht, wenn München-Gladbach bombardiert wurde.
Unter den Nachbarn gab es Abneigungen, Gleichgültigkeiten und auch gute, fast freundschaftliche Beziehungen. So war unsere Mutter lange mit einer Witwe befreundet, deren Mann sehr früh gefallen war. Die Frau kam häufig abends zu uns herüber, um sich mit Mutter auszutauschen und ihren Kummer von der Seele zu reden. So kam es, daß ich in meiner Kindheit mit ihrem Sohn, der etwas älter war als ich, lange Zeit viel unternahm. Wir waren Spielkameraden und auch Schulfreunde. Hin und wieder machten wir auch Schulaufgaben gemeinsam.

Vor unseren Häusern befand sich der Marktplatz. Es war ein nicht sonderlich gepflegter Sandplatz, auf dem wir Fußball spielten und im Winter manchmal Schlittschuh liefen. Zweimal im Jahr diente der Markt auch als Kirmesplatz. Es war kein Markt, auf dem regelmäßig Gemüse verkauft wurde. Gegen Ende des Krieges fanden hier hin und wieder Pferdemusterungen statt, bei denen die Tiere auf ihre Kriegstauglichkeit untersucht wurden. Pferde waren damals für die bäuerliche Wirtschaft sehr wichtig. Mit ihrem Verlust konnte ein Bauer seine Existenz verlieren. Die Felder wurden fast nur mit Pferden, selten auch mit Ochsen bestellt. Was blieb den Bauern anderes übrig, als zu einem Trick zu greifen? Sie rieben ihren Pferden die Beine mit einem Mittel ein, das sie dick wie Elefantenbeine anschwellen ließ. Die meisten Tiere wurden darauf hin kriegsuntauglich geschrieben.

Sehr viel später stand auf dem Marktplatz eine einzige fahrbare Gemüsebude, die, wenn zu späterer Stunde die Gäste von unserer Dorfbierkneipe »Bolten Pitter« kamen, häufig mit der herausklappbaren Ladentheke gegen eine Mauer gestellt wurde.
Alle, die am Maat wohnten, haben über lange Jahre hinweg eine schwierige Zeit erlebt und erfolgreich durchgestanden: die Nazi-Zeit, den Krieg mit den Bombenangriffen und die Nachkriegszeit. Wir lebten lange in Unsicherheit, hatten nicht genügend zu essen und wußten nicht, was uns die Zukunft bringen würde. Es ist bewundernswert, wie die Menschen am Maat zusammen diese Zeiten bewältigt haben. Mit einem Blick nach vorne haben sie privat und auch später beruflich Außerordentliches geleistet und können mit Recht stolz auf ihr Leben zurückblicken.



Ein Blick in unseren »Vorhof«, den in den dreißiger Jahren neugestalteten Marktplatz von Neuwerk. Dort, wo die beiden Häuserreihen im rechten Winkel aufeinanderstoßen, befindet sich das Haus meiner Kindheit. Der Marktplatz war nicht nur nachbarlicher Treffpunkt, sondern auch bei uns Kindern ein beliebter Spielplatz.

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Bombenhagel und Bunkernächte

Was ein Krieg war und was Krieg bedeutet, wußte ich damals nicht. Unser Haus wurde umgebaut. Im Keller wurde ein Raum zu einem Luftschutzraum ausgebaut. Balken und Stützbalken sollten die Kellerdecke gegen Bombentreffer absichern. An der Seitenwand waren zweigeschossige Notbetten aufgebaut und standen zusammen mit gefüllten Wasser- und Sandeimern zum Löschen für die Bombennächte bereit.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1944 gab es den dritten Großangriff auf München-Gladbach. Mutter weckte uns, und auf dem Weg in den Keller hörte ich aus dem Volksempfänger die Stimme: »Feindliche Flugzeuge nähern sich dem Raum München-Gladbach.«

Wir hörten die Abwehrkanonen feuern, und als die Eltern feststellten, daß Neuwerk in dieser Nacht nicht Ziel der Angriffe sein würde, gingen wir vor das Haus und konnten die schrecklichen Ereignisse aus der Ferne beobachten. Am Himmel waren die Scheinwerferstrahlen zu sehen, die den Himmel mit ihren Lichtpfeilern nach feindlichen Flugzeugen absuchten. Ein Flugzeug geriet in ein Scheinwerferfadenkreuz und versuchte zu entkommen. Feuerschein loderte über der Stadt.

Bombenexplosionen waren zu hören. Auch die Nachbarn hatten inzwischen ihre Kellerräume verlassen, standen auf der Straße und schauten fasziniert diesem ungeheuerlichen Schauspiel zu.


München-Gladbach, Lüpertzender Straße, Ecke Stepgesstraße, nach dem schweren Bombenangriff vom 31. August 1944. Im Hintergrund links ist das kaum beschädigte »Mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium« zu sehen, das ich ab 1948 besuchte. Unter diesem Namen existiert es noch heute.


In dieser Nacht sind in München-Gladbach 497 Menschen in ihren Kellern verbrannt, erstickt oder ertrunken. Beim ersten Großangriff, am 31. August 1943, waren 359 Menschen sofort gestorben und 54 weitere erlagen einige Tage später ihren Verletzungen. Am 19. September 1943, beim zweiten großen Angriff, gab es 290 Tote, und die weiteren Bombardements vom vom 27./28. Dezember 1944 und 1. Februar 1945 fordert nochmals insgesamt 366 Opfer. Der Stadtkern von München-Gladbach wurde während des Krieges zu 60Prozent zerstört, das benachbarte Rheydt zu 90 Prozent und das kleine Odenkirchen sogar zu 97 Prozent.

Nach dem Krieg bin ich mit Vater auf einem unserer großen, ausgedehnten Sonntagsspaziergänge zum Gladbacher Friedhof gegangen und sah, daß sich die Gräber mit und ohne Beschriftung über viele Friedhofszeilen erstreckten.

Am Tag nach dem nächtlichen Bombenagriff zogen Frauen und Kinder mit Handkarren, die mit ihren wenigen geretteten Habseligkeiten beladen waren, nach Neuwerk. Auch Verwandte der Nachbarsfamilie waren dem nächtlichen Inferno entkommen. Das Grauen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Frauen trugen lange Hosen und Kopftücher. Sie rochen fürchterlich nach Rauch; es war ein strenger, durchdringender Geruch, der ihnen anhaftete. (...)

 

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Inhalt
»Und plötzlich kam der Frieden«

Vorwort und Dankeschön 7

Neuwerk
Der Ort und seine Bewohner 8
Unser neues Heim am Maat 11
Die Nachbarschaft 15
Driet Lüesch 23

Kindergarten
Bei den Ordensschwestern 26

Schulzeit
In der Volksschule 29

Die Juden in München-Gladbach
Die Reichskristallnacht 36

Täglich Krieg
Bombenhagel und Bunkernächte 41
Der Frieden kommt auf Gummisohlen 50

Nachkriegszeit
Neuanfang 55
Ernst’s lange Reise 58
Vater 62
Hunger 64
Ganz Deutschland war unterwegs 67
Währungsreform 69

Das Kinderparadies
Unsere Spiele 71
Spitznamen 78
Napoleon 81

Im Dienst der Kirche
Meßdiener 84
Pastor Mager 87

Familie Reiners
Bettrath 90
Oma und Opa Reiners 94
Warum die Reiners schwarze Haare haben 98
Tante Maria 100
Mutter und Vater 103

Schlaglichter
Bei uns zu Hause 107
Cilli und Trude 108
Unser Radio 110
Spaziergänge mit Vater 111
Bolten Pitter 113
Purzel 114

Schlußbemerkung 118

Neuwerker Platt 119