[Magdeburg/Elbe
Eilsleben und Wanzleben in der
Magdeburger Börde, Sachsen-Anhalt;
1947]
Annemarie
Sondermann
Die
Weihnachtsgans im Rucksack
Hunger!
Ja, er tut weh! Wir hatten ihn kennengelernt im Winter 1946/47
als Ostflüchtlinge im bombenzerstörten Magdeburg. Wir, das
waren wir fünf Geschwister im Alter von 11 bis 18 Jahren und unsere
Mutter. Nein, eigentlich wir fünf alleine, denn unserer Mutter
hatte all das Leid des Krieges das Gemüt krank gemacht. Auch die
Kälte dieses Winters war schrecklich gewesen: eisige Temperaturen
noch bis in den März hinein, dabei kaum etwas zum Heizen, Stromsperren.
Die Kälte hat es leicht, in einen Hungrigen hineinzukriechen.
Also, solch einen Winter wollten wir nicht noch einmal erleben.
Wir stoppelten, soweit es unsere Schulzeit erlaubte, im Sommer 1947
alles, was wir auf den Feldern finden konnten. Das große Los aber
zog unser ältester Bruder: Ernteeinsatz bei Bauer Arendt in Eilsleben
in der Börde. Satt und richtig rund kam er nach Hause zurück,
und das Beste für uns alle: Zu Weihnachten sollte er noch ein besonderes
Deputat für die ganze Familie bekommen. Dieses Wort
hatte ich noch nie gehört, aber seitdem nicht vergessen.
Wir
fünf Geschwister mit unserer Mutter 1948 in Magdeburg. Ich bin
das Mädchen mit dem Haarkranz.
Es
war zwei Tage vor Weihnachten. Ich war dazu auserkoren worden, das Deputat
in Eilsleben abzuholen. Die rührende Bäuerin packte meinen
Rucksack voll: Kartoffeln, selbstausgepreßtes Rapsöl, eine
Blut- und eine Leberwurst, Streuselkuchen ich weiß es noch
genau und als Clou eine Gans, eine Weihnachtsgans für unsere
Familie. Komm, da hast du noch einen Rotkohl, der gehört
doch zu einem Gänsebraten dazu!
Ich war selig.
Vielleicht sollte ich dir zur Sicherheit eine Deputatsbescheinigung
mitgeben.
Wozu das?
Sicher ist sicher, meinte sie.
Der Zug zurück nach Magdeburg war voll. Die Menschen standen dichtgedrängt,
auch auf den Trittbrettern, fast alle mit Rucksäcken. Viele hatten
versucht, für Weihnachten noch irgendeine Habseligkeit gegen etwas
Eßbares auf dem Land einzutauschen.
Beim Halt
in Wanzleben hörten wir plötzlich laute Rufe:
Alle aussteigen! R a z z i a !
Blauuniformierte Volkspolizisten trieben uns als Kolonne in den Wartesaal.
Die Tür wurde hinter uns abgeschlossen, die Fenster waren nicht
zu öffnen.
Unheimliche Stille zunächst. Keiner empörte sich. Die Menschen
waren durch Krieg und Nachkriegszeit Unbilden, auch Schikanen gewohnt.
Rechts hinten wurde eine Tür zu einem Nebenraum geöffnet,
die zwei ersten von uns hineinbeordert, nach einer Weile die nächsten
und so fort. Allmählich sickerte durch: Sie nehmen uns alles!
Was dann begann? Kein Aufschrei, keine Empörung: Warum? Was machen
sie mit unseren Sachen?
Es begann das große Fressen. Würste, Speck, auch einfach
trockenes Brot, alles wurde hineingestopft. Wenigstens sich selbst einmal
sattessen, bevor sie uns alles wegnehmen. Eingeprägt hat sich mir
besonders das Bild, wie zwei Männer aus einer großen Blechdose
Salzheringe, immer einen nach dem anderen, am Schwanz ergriffen und
kopfunter in ihrem Mund verschwinden ließen. Salzheringe, wie
sie früher waren, in richtiger Salzlake!
Und ich? Ich hockte einfach todunglücklich in einer Ecke. Zu essen
von meinen Köstlichkeiten, das bekam ich nicht fertig. Die Deputatsbescheinigung,
ach, ich hoffte noch immer. Natürlich habe ich auch gebetet, ich
war ein gläubiges Kind.
Der Saal leerte sich. Ich meine, ich wäre überhaupt die letzte
gewesen, die in den Nebenraum befohlen wurde, zusammen mit einem Mann,
mit Rucksack natürlich wie ich. An drei Vopos erinnere ich mich,
einen für jeden Delinquenten und eine Polizistin, am
Tisch sitzend, die die abgenommenen Gegenstände registrierte. Andere
Uniformierte gingen hin und her, um die beschlagnahmten Weihnachtsmitbringsel
abzutransportieren. Ich zeigte meine Bescheinigung und versuchte zu
erklären. Aber mein Polizist hörte irgendwie nicht
richtig zu. Jetzt merkte ich: Er schaut zu seinem Kollegen und zu meinem
Mitgefangenen. Dort war ein Handgemenge entstanden. Der
Rucksack des Mannes war ganz mit Zucker gefüllt. Natürlich
sollte er ihn hergeben, aber er wehrte sich, überkreuzte die Arme,
der Vopo konnte die Träger nicht abstreifen. Blitzschnell eilte
mein Kontrolleur zu Hilfe. Zu zweit schafften sie es, den sich Wehrenden
auf den Boden zu werfen, seine Arme auseinanderzudrücken, einer
kniete sich auf seine Handgelenke ...
Das alles ging über meine Gemütskräfte. Die Tränen
flossen, ich weinte bitterlich. Und da?
Die Polizistin gab mir einen Wink, ich sollte den Raum verlassen
nicht in Richtung Wartesaal, nein, nach draußen! Den Rucksack
hatte ich noch auf dem Rücken. Ich war die einzige, die bei dieser
Massenrazzia all ihr Schätze behalten konnte.
Der Schluß ist schnell erzählt. Unser Zug war natürlich
längst weg, auch kein anderer fuhr mehr an diesem Tag nach Magdeburg.
Aber vom nächsten Ort, Blumenberg, fünf Kilometer entfernt,
würde noch einer fahren. So schritt ich mit schwerem Rucksack,
aber leichtem Herzen im Stockdunklen den Bahndamm entlang und erreichte
am späten Abend noch meine Geschwister, die sich bereits Sorgen
gemacht hatten.
Natürlich wurde es ein köstliches Weihnachtsessen: Gänsebraten
mit Rotkohl und richtigen Schälkartoffeln!
Ein wenig getrübt wurde der Genuß nur dadurch, daß
unsere Mutter gequält wurde von dem Gedanken, was die anderen hungernden
Flüchtlinge im Haus wohl von uns denken würden, wenn sie den
Bratenduft riechen. Aber wo gibt es auf der Welt vollkommenes Glück?
Aus:
Bittersüße Pom(m)eranzen. Erlebte Geschichten
aus Ost und West, von Annemarie Sondermann, Verlag Mein Buch, Hamburg
2004.
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[Gera,
Thüringen;
1938]
Joachim
Weimar
O Tannenbaum,
o Tannenbaum ...
Dieses
schlichte Volkslied, das zur Weihnachtszeit gespielt und gesungen wird,
hat einst ein Zimmermann aus Goldlauter im Thüringer Wald komponiert.
Mich erinnert besonders dieses Lied an meine Kindheit, die ich bei meinen
Großeltern in Gera verbrachte.
Zum Weihnachtsabend versammelte sich die gesamte Familie in der kleinen,
bescheidenen Wohnung. Zu Weihnachten gehörte natürlich auch
ein mit Kerzen, Naschwerk, Glaskugeln und Lametta festlich geschmückter
Tannenbaum.
Da die gute Stube der großelterlichen Wohnung nicht
gerade geräumig war, wurde der stattliche Baum an die Decke gehängt.
Das entlastete zwar die räumliche Enge, brachte aber andere Probleme
mit sich. Ich erlebte es nie, daß der Weihnachtsbaum so hing,
wie er sollte. Immer waren zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen
erforderlich. Einmal wurde sogar ein in Silberpapier eingewickeltes
Brikett als Ausgleichsgewicht eingesetzt. Ein anderes Mal wurde der
Baum mit dünnen Fäden in eine senkrechte Lage gezurrt, so
daß er im Prinzip eher einem Fesselballon ähnelte, zumal
mein Onkel Rudel über diese Fäden Lametta hängte, um
die Gleichgewichtsbemühungen deutlicher sichtbar zu machen.
Jedenfalls war unser Tannenbaum nicht nur Gegenstand festlicher Andacht,
sondern auch Objekt mancher Frotzelei, was mein Großvater bis
dahin immer gelassen hinnahm. Als sich aber auch noch meine Großmutter
an den Sticheleien beteiligte, war das Maß voll. Nun legte Großvater
ziemlich kategorisch fest: Martha, nächstes Jahr kaufst du
den Weihnachtsbaum!
Als vor Jahresfrist Großmutter immer wieder den Weihnachtsbaumkauf
anmahnte, bekam sie jedesmal zu hören: Martha, dieses Jahr
kaufst du das Bäumchen selber.
Es war höchste Zeit. Am letzten Tag des Weihnachtsmarktes machte
Großmutter sich auf den Weg. Ich mußte sie begleiten, wohl
eher als Lastesel denn als Gutachter.
In der Tat: Großmutter hatte einen Weihnachtsbaum von seltener
Schönheit ausgewählt. Er war von geometrischer und ästhetischer
Symmetrie und auch nicht billig. Weil der Großmutter noch
weitere Besorgungen einfielen, wurde der Baum in der Fahrradaufbewahrung
nahe der Einkaufsstraße abgestellt.
Es dämmerte schon, als wir ihn dort wieder abholen wollten. Leider
war unser Weihnachtsbaum inzwischen von einem Auto überrollt, das
forstwirtschaftliche Prachtstück sozusagen zu Kleinholz gemacht
worden. Wir bekamen zwar den Kaufpreis vom Betreiber der Fahrradaufbewahrung
ersetzt, aber einen Weihnachtsbaum hatten wir nun nicht mehr.
So blieb uns nichts weiter übrig, als noch einmal auf den Markt
zu gehen. Die Weihnachtsbaumhändler waren schon am Zusammenräumen,
das Geschäft für dieses Jahr war gelaufen. Doch wir hatten
Glück und erstanden noch einen Baum, sogar für den Spottpreis
von 25 Pfennigen. Danach sah er auch aus. Der Händler entschuldigte
sich fast dafür, daß er uns so einen Krüppel von Baum
andrehen mußte. Aber was sollten wir machen?
Diesen oder keinen, so stand die Frage.
Zuhause angekommen mußte ich den Baum erst einmal im Waschhaus
abstellen. Großvater erwartete uns mit sichtbarer Spannung und
der von Neugier geladenen Frage:
Wo habt ihr denn den Weihnachtsbaum?
Im Waschhaus, war Großmutters einsilbige und verlegene
Antwort.
Mit den Worten: Den muß ich sehen, zündete Großvater
die Petroleumlampe an und ging unverzüglich ins Waschhaus. Noch
in der zweiten Etage hörte ich sein schallendes Gelächter,
von Großmutter kommentarlos hingenommen.
Nie wieder habe ich ein so lustiges Weihnachtsfest, wie das nun anstehende,
erlebt. Den ganzen Abend wurden immer wieder neue und skurrilere Vorschläge
zur Richtungskorrektur des Weihnachtsbaumes unterbreitet und praktiziert.
Aber, was wir auch unternahmen, jedes zusätzliche Gewicht löste
zugleich eine Drallbewegung aus. Diesem Tannenbaum fehlte einfach die
festliche Ruhe.
Möglicherweise hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, daß
ich später während meines Ingenieurstudiums sehr schnell die
Gesetze einer Drehbewegung um eine freie Rotationsachse verstanden habe.
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[Berlin-Zehlendorf;
1940, 1942]
Astrid
Gassen
Der
Traum vom Puppenhaus
Jedes Weihnachtsfest war irgendwie das schönste Weihnachtsfest.
Damals jedoch das waren Kindheit und Jugend. Damals, das ist
lange her. Damals hieß: Familie, Freunde, Zuhause, Heimat und
vieles mehr. Damals war der Duft von Weihnachten, von Tannen und Kerzen,
von Plätzchen, Schokolade, Marzipan und Gänsebraten.
Ich schaue auf das Foto und sehe meine Großmutter, bei der ich
aufgewachsen bin. Meine Eltern ließen sich 1939 scheiden, und
ich kam einen Tag nach meinem fünften Geburtstag, am 8. April 1939,
zu meiner Omi, der Mutter meines Vaters. 17 Jahre blieb ich bei ihr,
eine herrliche Zeit.
Ich sehe meinen Papi. Dahinter steht mein Kindermädchen Gretel,
die Größere, genannt Deten, daneben das Hausmädchen
Klara, die ich Pattra nannte, und die uns als erste verließ, um
in den Arbeitsdienst zu gehen. Wir hatten Krieg. Und ich sehe mich,
meine Puppenstube, das Puppenbett, die Spielsachen, unser Zuhause in
Berlin-Zehlendorf. Das zweite Kriegsweihnachten 1940. Jenes Weihnachtsfest
wird das schönste Weihnachtsfest bleiben, weil es Erinnerung ist,
weil es meine Kindheit war.
Weihnachten
1940 war ich fünf Jahre alt. Neben mir kniet mein Vater, dahinter
sitzt meine Oma. Dahinter stehen mein Kindermädchen Gretel und
das Hausmädchen Klara.
Wir waren schon im dritten Kriegsjahr, als mein Papi mir versprach,
zum Weihnachtsfest 1942 ein Puppenhaus für mich zu bauen. Nach
der Trennung meiner Eltern lebte ich bei meiner Großmutter in
einem herrlichen alten Haus in der Zehlendorfer Kleiststraße 15,
mein Vater wohnte nebenan in der Nummer 11 in seinem modernen Haus.
Dort befand sich ein für damalige Verhältnisse bombensicherer
Luftschutzkeller, in den wir bei Angriffen auf Berlin gingen, zusammen
mit vielen Nachbarn. Mein Vater fing in diesen Bombennächten mit
dem Bau meines Puppenhauses an. Und nur in diesen, leider immer häufiger
werdenden Bombennächten baute er an meinem Puppenhaus. Er ging
dann in seinen Bastelraum, und mir war natürlich der Zugang verwehrt.
Weihnachten
1942 stand es dann vor dem großen Weihnachtsbaum im Haus meiner
Großmutter. Meine Freude war riesengroß. Damals war ich
sieben Jahre alt.
Ich konnte nicht ahnen, daß ich nur wenig Freude an diesem Puppenhaus
haben würde. Im August 1943 verließen viele Frauen und Kinder
Berlin, so auch meine Großmutter und ich. Wir haben damals Berlin
für immer verlassen. Mein schönes Puppenhaus wird irgendwo
geblieben sein. Als Erinnerung durch beinahe 60 Jahre blieb ein kleines
Foto, dieses Bild Weihnachten 1942 in Berlin.
Weihnachten
1942 bekam ich dieses wunderschöne Puppenhaus geschenkt. Mein Vater
hatte es in den Bombennächten für mich gebaut.
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[Alzen
bei Morsbach, Oberbergischer Kreis,
Nordrhein-Westfalen
1937]
Bernadette
Schnüttgen
Und
es gibt doch ein Christkind!
Die Winter
waren in meiner Kindheit kälter, selten, daß es im Dezember
noch keinen Schnee gegeben hätte. Kam es doch mal vor, dann besuchte
uns St. Nikolaus mit Esel und Knecht Rupprecht zu Fuß. Aber daß
er einmal nicht gekommen oder sogar wegen Krankheit weggeblieben wäre
nein, das gab es nicht. Oft waren die Tage von Nikolaus bis zum
Christfest so lang, länger konnte für mich keine Ewigkeit
dauern. Angefüllt mit bangem Warten, den heimlichen Wünschen
und Hoffen. Jeden Abend flocht ich in mein Nachtgebet den heißen
Wunsch mit ein das Christkind möge mich nur nicht vergessen.
Das Versprechen recht brav und artig zu sein ging dabei
mit Leichtigkeit über die kindlichen Lippen. Wer vom Christkind
vergessen wurde mit dem Kind mußte doch etwas nicht stimmen!
Ich hatte dieses Pech. Mich hatte das Christkind schon zwei Weihnachten
vergessen! Einfach vergessen! Es gab keine Geschenke keinen Tannenbaum
nichts! Wie war das nur möglich? Ich wußte es nicht!
Ich war doch so folgsam gewesen! Ein braveres Mädchen als mich
konnte es gar nicht geben. In meinem kleinen verbitterten Herzen kamen
Zweifel auf. Vielleicht gab es gar kein Christkind? (...)
Ich hockte
auf einer kleinen Fußbank der Mutter zu Füßen, die
in ihrem Krankenstuhl sitzend am Geschehen teilnahm, und las ihr aus
dem Lesebuch eine Weihnachtsgeschichte vor. Aus der Kirchenzeitung oder
aus dem katholischen Heftchen Frau und Mutter, das sie einmal
im Monat bekam, las ich ihr am liebsten vor, denn drinnen war mein Herzenswunsch,
eine Anzeige mit einer Puppe, groß abgebildet und ich versäumte
es nicht, der Mutter diese Spalte immer wieder vorzulesen. Damit wollte
ich ihr ja nur mitteilen, wie wichtig es doch war, zu wissen, daß
es irgendwo einen Versand gab, der 68 cm große Puppen hatte. Ich
legte ihr das Heftchen so auf den Schoß daß sie das
Puppenbild sehen mußte, und schaute solange darauf, bis sie es
mit ihrer rechten gesunden Hand an sich nahm und betrachtete:
Ja mein Mädelchen wenn ich gesund wäre, dann wäre
bestimmt vieles anders. Damit war die Geldsorge gemeint,
die ihre Krankheit kostete. Ein Seufzer kam aus ihrer Brust, den ich
seufzend unterstützte. Mein Hinweis, daß ich kein Schwesterchen
hätte wohl eine Puppenküche, aber keine Puppe, fiel
auf taube Ohren. Einer der Brüder meinte: Hör endlich
auf mit deiner Bettelei! Mit dir, Schwesterchen haben wir genug
an Puppen im Haus.
Der Blöde, er konnte ja gar nicht wissen, wie wichtig eine Puppe
für mich war, er war doch nur ein Junge! Aber die Schleckereien
aus der Puppenküche stibitzten sie mir, ohne Ausnahme, alle vier.
Das Heftchen mit dem Puppenbild wanderte jeden Abend mit ins Bett. Ich
konnte es mir nicht oft genug ansehen: Eine Puppe mit Schlafaugen, Mamastimme
Zöpfen Hut Mantel und einem hübschen Kleidchen
darunter. Sie trug schwarze Lackschuhe. Auch, daß sie an einer
Hand der Puppenmutter, was ich ja denn wohl war laufen konnte,
das alles war doch sehr wichtig! Aber keiner nahm eine Notiz von meiner
Sorge und den heißen Wünschen. Die Brüder verhöhnten
mich sogar wegen meines lauten Betens.
Der Weihnachtsmorgen kam, die Mutter ging an ihrem Stock mit in die
Wohnstube. Ich hatte es wohl wahrgenommen aber ich war so aufgeregt
und wollte mich schnell an ihr vorbeidrängeln. Dabei hielt mich
mein älterer Bruder an meinen Zöpfen fest. Vor lauter Neugierde
hatte ich nicht bemerkt, daß mein erster Weihnachtswunsch in Erfüllung
gegangen war: In der Stube stand ein Tannenbaum mit brennenden Kerzen
und bunten Kugeln geschmückt. Auf dem Tisch lag wieder die schwere
rote Weihnachtsdecke die Porzellanteller waren gefüllt mit
Plätzchen Honig- und Pfefferkuchengebäck. Die rotwangigen
Äpfel waren sicher vom Himmelspersonal extra für uns blankgerieben
worden. An meinem Stuhl hing auf einem Bügel ein grüner Lodenmantel
mit Kapuze und neben meinem Teller lag das Spiel Spitz, paß
auf ...
Gott sei Dank das Christkind hatte uns nicht vergessen! Das waren
meine ersten Gedanken. Die brennenden Kerzen am Baum waren die einzige
Lichtquelle im Raum. Es war in den frühen Morgenstunden und das
Stubenfenster hatte rundum am Holzrahmen entlang Eisblumen angesetzt.
Ich ging ans Fenster, um zu sehen ob im Schnee noch irgendwelche
Spuren sichtbar wären aber nein nichts. Im Garten sah
ich ein Reh das an einem Gemüserest seinen Hunger stillte.
Der Vater
stimmte ein Weihnachtslied an. Die Mutter saß in ihrem Stuhl und
wir stellten uns zum Weihnachtsbaum. Ich hatte meine Freude an dem schön
geschmückten Tannenbaum. Von all den Vorbereitungen hatte ich gar
nichts mitbekommen. So war die Überraschung doppelt groß.
Kräftig sang ich das Lied Oh Tannenbaum mit. Dabei
meinte ich, der Baum hätte gezittert. Daß ich es selbst war,
wußte ich nicht, als ich meine heißersehnte Puppe
wohl etwas versteckt in einem holzgeschnitztem fahrbaren Lehnstuhl
sitzen sah. Mit einem erlösenden Schrei rief ich: Lotte,
meine Lotte! Jetzt habe ich dich endlich!
Alle Sehnsucht einer echten Puppenmutter lagen in diesen Worten. Das
Puppenkind fest in meinen Armen haltend vergaß ich meine
Umwelt, auch die armen und schlechten Jahre. Es hatte mich mit allem
wieder versöhnt. Erst viel später merkte ich, daß die
Eltern und Geschwister mit dem Singen aufgehört hatten und mich
beobachteten. Oh wie war ich glücklich!
Freudig ging ich später im neuen Mantel an der Hand des Vaters
zur Messe in die Kirche. Wir mußten eine Dreiviertelstunde durch
den Schnee stapfen. Nach der Messe gingen wir zur aufgebauten Weihnachtskrippe.
Ich hatte nicht vergessen was mir die Mutter gesagt hatte: Nur
dort beim Kind in der Krippe, könnte ich mich für alles
bedanken. Der Vater ließ mir Zeit damit ich all das Schöne
in mir aufnehmen konnte. Jedes Jahr kam eine neue Krippenfigur von den
Spenden hinzu. So war der aus schwarzem Holz geschnitzte Knabe neu.
Er kniete am Rande der Krippe und hielt die Spardose dafür in seinen
Händen. Freudig nickte er jedesmal mit seinem Turban bedeckten
Kopf, wenn ein Geldstück in der Dose klimperte.
Der Vater kam an meine Seite und legte seine Hand auf meine Schulter,
als er zu mir sagte: Siehst du und es gibt doch ein Christkind!
Dann gab er mir ein Zehn-Pfennig-Stück in die Hand und deutete
auf den Knaben. Ich steckte das Geld in den dafür vorgesehenen
Schlitz, der Knabe bedankte sich mit einem verbeugenden Kopfnicken.
Ich flüsterte ihm leise ins Ohr: Tschüß
bis Sonntag.
Foto: mit
freundlicher Genehmigung von Reinhard Bürck, www.meine-kleine-puppenwelt.de
Eine
Puppe habe ich auch heute, mit 78 Jahren, noch auf dem Sofa. Meine Enkelin
darf mit ihr spielen, wann immer sie möchte.
Meine Lotte ist nur acht Jahre alt geworden. Im März 1945 ist sie
von einem amerikanischen Panzeroffizier in dessen Gefährt mitgenommen
worden. Ich werde sein Gesicht nie vergessen. Daß eine 17jährige
so herzzerreißend um ein Spielzeug weinen konnte, verstand er
wohl damals nicht.
[nach
oben]
Inhalt »Unvergessene
Weihnachten. Band 2«
Die
Orte unserer Weihnachtsgeschichten 9
Alle Jahre wieder 10
Georg
Hörmann
s Christkindle 12
Charlotte Schyma
Mein sehnlichster Weihnachtswunsch 20
Anneliese Albrecht
Besuch vom Weihnachtsmann 24
Traute Siegmund
Vorweihnachtszeit 26
Bernadette Schnüttgen
Und es gibt doch ein Christkind! 33
Hans-Peter Kutscha
Tröööt! Tröööt! 40
Joachim Weimar
O Tannenbaum, o Tannenbaum ... 45
Astrid Gassen
Der Traum vom Puppenhaus 48
Irmgard Ansel
Der versteckte Weihnachtsbaum 51
Ilse Borchard
Geh leise in der Weihnachtszeit! 60
Ludwig
Eberbach
Zwischen Freund und Feind 65
Friedrich Göhrs
Stille Nacht dreisprachig gesungen 73
Alfred Zenker
Ein Weihnachtswunder 76
Marga Kleebaum
Steinkohle als Weihnachtsgeschenk? 84
Liesel Hünichen
Besuch am Heiligen Abend 88
Kurt Lange
Ein Weihnachtsbaum mein Lebensretter 95
Marianne Christa Mullé
Das weinrote Kleid 100
Annemarie Sondermann
Die Weihnachtsgans im Rucksack 106
Erika Hertel
Flüchtlingskinder-Fütterung 110
Wilhelm Haushofer
Ein Feuerschein 113
Helga Naujoks
Jedes Weihnachten anders 116
Hans Edmund Friedrich
Der Umweg übers Zuchthaus 131
Gerda Weinert
Kein Gärtner ohne Hippe 138
Rolf Zabel
Weihnachtseinkauf in West-Berlin 148
Karin Dersch
Der längste Tag des Jahres 152
Margit Kruse
Mein kleines Badezimmer 159
Bärbel Böhme
Wo bleibt der Weihnachtsmann? 167
Renate Strebel
Der Baum ist schief! 170
Romano C. Failutti
Alle Jahre wieder dieser verflixte Weihnachtsbaumkauf 176
Verfasser
181
Verlagsprogramm
186
zum
Seitenkopf >
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