Leseprobe

Unvergessene Weihnachten. Band 2
29 spannende und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen 1922 - 1988

Originalausgabe
192 Seiten mit vielen
Abbildungen
und Ortsregister, Taschenbuch,
Zeitgut Verlag, Berlin. 2005
4,90 EUR, ISBN 3-86614-103-3.



Leseproben aus »Unvergessene Weihnachten. Band 2«

> Annemarie Sondermann - Die Weihnachtsgans im Rucksack
> Joachim Weimar - O Tannenbaum, o Tannenbaum ...
> Astrid Gassen - Der Traum vom Puppenhaus
> Bernadette Schnüttgen - Und es gibt doch ein Christkind!

> Inhaltsverzeichnis





[Magdeburg/Elbe – Eilsleben und Wanzleben in der
Magdeburger Börde, Sachsen-Anhalt;
1947]

Annemarie Sondermann

Die Weihnachtsgans im Rucksack

Hunger! Ja, er tut weh! – Wir hatten ihn kennengelernt im Winter 1946/47 als Ostflüchtlinge im bombenzerstörten Magdeburg. Wir, das waren wir fünf Geschwister im Alter von 11 bis 18 Jahren und unsere Mutter. Nein, eigentlich wir fünf alleine, denn unserer Mutter hatte all das Leid des Krieges das Gemüt krank gemacht. Auch die Kälte dieses Winters war schrecklich gewesen: eisige Temperaturen noch bis in den März hinein, dabei kaum etwas zum Heizen, Stromsperren. Die Kälte hat es leicht, in einen Hungrigen hineinzukriechen. – Also, solch einen Winter wollten wir nicht noch einmal erleben.

Wir stoppelten, soweit es unsere Schulzeit erlaubte, im Sommer 1947 alles, was wir auf den Feldern finden konnten. Das große Los aber zog unser ältester Bruder: Ernteeinsatz bei Bauer Arendt in Eilsleben in der Börde. Satt und richtig rund kam er nach Hause zurück, und das Beste für uns alle: Zu Weihnachten sollte er noch ein besonderes „Deputat“ für die ganze Familie bekommen. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, aber seitdem nicht vergessen.

Wir fünf Geschwister mit unserer Mutter 1948 in Magdeburg. Ich bin das Mädchen mit dem Haarkranz.


Es war zwei Tage vor Weihnachten. Ich war dazu auserkoren worden, das Deputat in Eilsleben abzuholen. Die rührende Bäuerin packte meinen Rucksack voll: Kartoffeln, selbstausgepreßtes Rapsöl, eine Blut- und eine Leberwurst, Streuselkuchen – ich weiß es noch genau – und als Clou eine Gans, eine Weihnachtsgans für unsere Familie. „Komm, da hast du noch einen Rotkohl, der gehört doch zu einem Gänsebraten dazu!“
Ich war selig.
„Vielleicht sollte ich dir zur Sicherheit eine Deputatsbescheinigung mitgeben.“
„Wozu das?“
„Sicher ist sicher“, meinte sie.
Der Zug zurück nach Magdeburg war voll. Die Menschen standen dichtgedrängt, auch auf den Trittbrettern, fast alle mit Rucksäcken. Viele hatten versucht, für Weihnachten noch irgendeine Habseligkeit gegen etwas Eßbares auf dem Land einzutauschen.

Beim Halt in Wanzleben hörten wir plötzlich laute Rufe:
„Alle aussteigen! R a z z i a !“
Blauuniformierte Volkspolizisten trieben uns als Kolonne in den Wartesaal. Die Tür wurde hinter uns abgeschlossen, die Fenster waren nicht zu öffnen.
Unheimliche Stille zunächst. Keiner empörte sich. Die Menschen waren durch Krieg und Nachkriegszeit Unbilden, auch Schikanen gewohnt. Rechts hinten wurde eine Tür zu einem Nebenraum geöffnet, die zwei ersten von uns hineinbeordert, nach einer Weile die nächsten und so fort. Allmählich sickerte durch: „Sie nehmen uns alles!“
Was dann begann? Kein Aufschrei, keine Empörung: Warum? Was machen sie mit unseren Sachen?

Es begann – das große Fressen. Würste, Speck, auch einfach trockenes Brot, alles wurde hineingestopft. Wenigstens sich selbst einmal sattessen, bevor sie uns alles wegnehmen. Eingeprägt hat sich mir besonders das Bild, wie zwei Männer aus einer großen Blechdose Salzheringe, immer einen nach dem anderen, am Schwanz ergriffen und kopfunter in ihrem Mund verschwinden ließen. Salzheringe, wie sie früher waren, in richtiger Salzlake!

Und ich? Ich hockte einfach todunglücklich in einer Ecke. Zu essen von meinen Köstlichkeiten, das bekam ich nicht fertig. Die Deputatsbescheinigung, ach, ich hoffte noch immer. Natürlich habe ich auch gebetet, ich war ein gläubiges Kind.

Der Saal leerte sich. Ich meine, ich wäre überhaupt die letzte gewesen, die in den Nebenraum befohlen wurde, zusammen mit einem Mann, mit Rucksack natürlich wie ich. An drei Vopos erinnere ich mich, einen für jeden „Delinquenten“ und eine Polizistin, am Tisch sitzend, die die abgenommenen Gegenstände registrierte. Andere Uniformierte gingen hin und her, um die beschlagnahmten Weihnachtsmitbringsel abzutransportieren. Ich zeigte meine Bescheinigung und versuchte zu erklären. Aber „mein“ Polizist hörte irgendwie nicht richtig zu. Jetzt merkte ich: Er schaut zu seinem Kollegen und zu meinem „Mitgefangenen“. Dort war ein Handgemenge entstanden. Der Rucksack des Mannes war ganz mit Zucker gefüllt. Natürlich sollte er ihn hergeben, aber er wehrte sich, überkreuzte die Arme, der Vopo konnte die Träger nicht abstreifen. Blitzschnell eilte mein Kontrolleur zu Hilfe. Zu zweit schafften sie es, den sich Wehrenden auf den Boden zu werfen, seine Arme auseinanderzudrücken, einer kniete sich auf seine Handgelenke ...

Das alles ging über meine Gemütskräfte. Die Tränen flossen, ich weinte bitterlich. – Und da?
Die Polizistin gab mir einen Wink, ich sollte den Raum verlassen – nicht in Richtung Wartesaal, nein, nach draußen! Den Rucksack hatte ich noch auf dem Rücken. Ich war die einzige, die bei dieser Massenrazzia all ihr Schätze behalten konnte.

Der Schluß ist schnell erzählt. Unser Zug war natürlich längst weg, auch kein anderer fuhr mehr an diesem Tag nach Magdeburg. Aber vom nächsten Ort, Blumenberg, fünf Kilometer entfernt, würde noch einer fahren. So schritt ich mit schwerem Rucksack, aber leichtem Herzen im Stockdunklen den Bahndamm entlang und erreichte am späten Abend noch meine Geschwister, die sich bereits Sorgen gemacht hatten.

Natürlich wurde es ein köstliches Weihnachtsessen: Gänsebraten mit Rotkohl und richtigen Schälkartoffeln!
Ein wenig getrübt wurde der Genuß nur dadurch, daß unsere Mutter gequält wurde von dem Gedanken, was die anderen hungernden Flüchtlinge im Haus wohl von uns denken würden, wenn sie den Bratenduft riechen. Aber wo gibt es auf der Welt vollkommenes Glück?

Aus: „Bittersüße Pom(m)eranzen“. Erlebte Geschichten aus Ost und West, von Annemarie Sondermann, Verlag Mein Buch, Hamburg 2004.

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[Gera, Thüringen;
1938]

Joachim Weimar

O Tannenbaum, o Tannenbaum ...

Dieses schlichte Volkslied, das zur Weihnachtszeit gespielt und gesungen wird, hat einst ein Zimmermann aus Goldlauter im Thüringer Wald komponiert. Mich erinnert besonders dieses Lied an meine Kindheit, die ich bei meinen Großeltern in Gera verbrachte.

Zum Weihnachtsabend versammelte sich die gesamte Familie in der kleinen, bescheidenen Wohnung. Zu Weihnachten gehörte natürlich auch ein mit Kerzen, Naschwerk, Glaskugeln und Lametta festlich geschmückter Tannenbaum.

Da die „gute Stube“ der großelterlichen Wohnung nicht gerade geräumig war, wurde der stattliche Baum an die Decke gehängt. Das entlastete zwar die räumliche Enge, brachte aber andere Probleme mit sich. Ich erlebte es nie, daß der Weihnachtsbaum so hing, wie er sollte. Immer waren zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich. Einmal wurde sogar ein in Silberpapier eingewickeltes Brikett als Ausgleichsgewicht eingesetzt. Ein anderes Mal wurde der Baum mit dünnen Fäden in eine senkrechte Lage gezurrt, so daß er im Prinzip eher einem Fesselballon ähnelte, zumal mein Onkel Rudel über diese Fäden Lametta hängte, um die Gleichgewichtsbemühungen deutlicher sichtbar zu machen.

Jedenfalls war unser Tannenbaum nicht nur Gegenstand festlicher Andacht, sondern auch Objekt mancher Frotzelei, was mein Großvater bis dahin immer gelassen hinnahm. Als sich aber auch noch meine Großmutter an den Sticheleien beteiligte, war das Maß voll. Nun legte Großvater ziemlich kategorisch fest: „Martha, nächstes Jahr kaufst du den Weihnachtsbaum!“
Als vor Jahresfrist Großmutter immer wieder den Weihnachtsbaumkauf anmahnte, bekam sie jedesmal zu hören: „Martha, dieses Jahr kaufst du das Bäumchen selber.“
Es war höchste Zeit. Am letzten Tag des Weihnachtsmarktes machte Großmutter sich auf den Weg. Ich mußte sie begleiten, wohl eher als Lastesel denn als Gutachter.

In der Tat: Großmutter hatte einen Weihnachtsbaum von seltener Schönheit ausgewählt. Er war von geometrischer und ästhetischer Symmetrie – und auch nicht billig. Weil der Großmutter noch weitere Besorgungen einfielen, wurde der Baum in der Fahrradaufbewahrung nahe der Einkaufsstraße abgestellt.
Es dämmerte schon, als wir ihn dort wieder abholen wollten. Leider war unser Weihnachtsbaum inzwischen von einem Auto überrollt, das forstwirtschaftliche Prachtstück sozusagen zu Kleinholz gemacht worden. Wir bekamen zwar den Kaufpreis vom Betreiber der Fahrradaufbewahrung ersetzt, aber einen Weihnachtsbaum hatten wir nun nicht mehr.

So blieb uns nichts weiter übrig, als noch einmal auf den Markt zu gehen. Die Weihnachtsbaumhändler waren schon am Zusammenräumen, das Geschäft für dieses Jahr war gelaufen. Doch wir hatten Glück und erstanden noch einen Baum, sogar für den Spottpreis von 25 Pfennigen. Danach sah er auch aus. Der Händler entschuldigte sich fast dafür, daß er uns so einen Krüppel von Baum andrehen mußte. Aber was sollten wir machen?
Diesen oder keinen, so stand die Frage.

Zuhause angekommen mußte ich den Baum erst einmal im Waschhaus abstellen. Großvater erwartete uns mit sichtbarer Spannung und der von Neugier geladenen Frage:
„Wo habt ihr denn den Weihnachtsbaum?“
„Im Waschhaus“, war Großmutters einsilbige und verlegene Antwort.

Mit den Worten: „Den muß ich sehen“, zündete Großvater die Petroleumlampe an und ging unverzüglich ins Waschhaus. Noch in der zweiten Etage hörte ich sein schallendes Gelächter, von Großmutter kommentarlos hingenommen.


Nie wieder habe ich ein so lustiges Weihnachtsfest, wie das nun anstehende, erlebt. Den ganzen Abend wurden immer wieder neue und skurrilere Vorschläge zur Richtungskorrektur des Weihnachtsbaumes unterbreitet und praktiziert. Aber, was wir auch unternahmen, jedes zusätzliche Gewicht löste zugleich eine Drallbewegung aus. Diesem Tannenbaum fehlte einfach die festliche Ruhe.

Möglicherweise hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, daß ich später während meines Ingenieurstudiums sehr schnell die Gesetze einer Drehbewegung um eine freie Rotationsachse verstanden habe.

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[Berlin-Zehlendorf;
1940, 1942]

Astrid Gassen

Der Traum vom Puppenhaus

Jedes Weihnachtsfest war irgendwie das schönste Weihnachtsfest. Damals jedoch – das waren Kindheit und Jugend. Damals, das ist lange her. Damals hieß: Familie, Freunde, Zuhause, Heimat und vieles mehr. Damals war der Duft von Weihnachten, von Tannen und Kerzen, von Plätzchen, Schokolade, Marzipan und Gänsebraten.

Ich schaue auf das Foto und sehe meine Großmutter, bei der ich aufgewachsen bin. Meine Eltern ließen sich 1939 scheiden, und ich kam einen Tag nach meinem fünften Geburtstag, am 8. April 1939, zu meiner Omi, der Mutter meines Vaters. 17 Jahre blieb ich bei ihr, eine herrliche Zeit.

Ich sehe meinen Papi. Dahinter steht mein Kindermädchen Gretel, die Größere, genannt Deten, daneben das Hausmädchen Klara, die ich Pattra nannte, und die uns als erste verließ, um in den Arbeitsdienst zu gehen. Wir hatten Krieg. Und ich sehe mich, meine Puppenstube, das Puppenbett, die Spielsachen, unser Zuhause in Berlin-Zehlendorf. Das zweite Kriegsweihnachten 1940. Jenes Weihnachtsfest wird das schönste Weihnachtsfest bleiben, weil es Erinnerung ist, weil es meine Kindheit war.

Weihnachten 1940 war ich fünf Jahre alt. Neben mir kniet mein Vater, dahinter sitzt meine Oma. Dahinter stehen mein Kindermädchen Gretel und das Hausmädchen Klara.


Wir waren schon im dritten Kriegsjahr, als mein Papi mir versprach, zum Weihnachtsfest 1942 ein Puppenhaus für mich zu bauen. Nach der Trennung meiner Eltern lebte ich bei meiner Großmutter in einem herrlichen alten Haus in der Zehlendorfer Kleiststraße 15, mein Vater wohnte nebenan in der Nummer 11 in seinem modernen Haus. Dort befand sich ein für damalige Verhältnisse bombensicherer Luftschutzkeller, in den wir bei Angriffen auf Berlin gingen, zusammen mit vielen Nachbarn. Mein Vater fing in diesen Bombennächten mit dem Bau meines Puppenhauses an. Und nur in diesen, leider immer häufiger werdenden Bombennächten baute er an meinem Puppenhaus. Er ging dann in seinen Bastelraum, und mir war natürlich der Zugang verwehrt.

Weihnachten 1942 stand es dann vor dem großen Weihnachtsbaum im Haus meiner Großmutter. Meine Freude war riesengroß. Damals war ich sieben Jahre alt.

Ich konnte nicht ahnen, daß ich nur wenig Freude an diesem Puppenhaus haben würde. Im August 1943 verließen viele Frauen und Kinder Berlin, so auch meine Großmutter und ich. Wir haben damals Berlin für immer verlassen. Mein schönes Puppenhaus wird irgendwo geblieben sein. Als Erinnerung durch beinahe 60 Jahre blieb ein kleines Foto, dieses Bild Weihnachten 1942 in Berlin.

Weihnachten 1942 bekam ich dieses wunderschöne Puppenhaus geschenkt. Mein Vater hatte es in den Bombennächten für mich gebaut.

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[Alzen bei Morsbach, Oberbergischer Kreis,
Nordrhein-Westfalen
1937]

Bernadette Schnüttgen

Und es gibt doch ein Christkind!

Die Winter waren in meiner Kindheit kälter, selten, daß es im Dezember noch keinen Schnee gegeben hätte. Kam es doch mal vor, dann besuchte uns St. Nikolaus mit Esel und Knecht Rupprecht zu Fuß. Aber daß er einmal nicht gekommen oder sogar wegen Krankheit weggeblieben wäre – nein, das gab es nicht. Oft waren die Tage von Nikolaus bis zum Christfest so lang, länger konnte für mich keine Ewigkeit dauern. Angefüllt mit bangem Warten, den heimlichen Wünschen und Hoffen. Jeden Abend flocht ich in mein Nachtgebet den heißen Wunsch mit ein‚ das Christkind möge mich nur nicht vergessen. Das Versprechen‚ recht brav und artig zu sein‚ ging dabei mit Leichtigkeit über die kindlichen Lippen. Wer vom Christkind vergessen wurde‚ mit dem Kind mußte doch etwas nicht stimmen!

Ich hatte dieses Pech. Mich hatte das Christkind schon zwei Weihnachten vergessen! Einfach vergessen! Es gab keine Geschenke‚ keinen Tannenbaum‚ nichts! Wie war das nur möglich? – Ich wußte es nicht! Ich war doch so folgsam gewesen! Ein braveres Mädchen als mich konnte es gar nicht geben. In meinem kleinen verbitterten Herzen kamen Zweifel auf. Vielleicht gab es gar kein Christkind? (...)

Ich hockte auf einer kleinen Fußbank der Mutter zu Füßen, die in ihrem Krankenstuhl sitzend am Geschehen teilnahm, und las ihr aus dem Lesebuch eine Weihnachtsgeschichte vor. Aus der Kirchenzeitung oder aus dem katholischen Heftchen „Frau und Mutter“, das sie einmal im Monat bekam, las ich ihr am liebsten vor, denn drinnen war mein Herzenswunsch, eine Anzeige mit einer Puppe, groß abgebildet‚ und ich versäumte es nicht, der Mutter diese Spalte immer wieder vorzulesen. Damit wollte ich ihr ja nur mitteilen, wie wichtig es doch war, zu wissen, daß es irgendwo einen Versand gab, der 68 cm große Puppen hatte. Ich legte ihr das Heftchen so auf den Schoß‚ daß sie das Puppenbild sehen mußte, und schaute solange darauf, bis sie es mit ihrer rechten gesunden Hand an sich nahm und betrachtete:
„Ja mein Mädelchen‚ wenn ich gesund wäre, dann wäre bestimmt vieles anders.“ – Damit war die Geldsorge gemeint, die ihre Krankheit kostete. Ein Seufzer kam aus ihrer Brust, den ich seufzend unterstützte. Mein Hinweis, daß ich kein Schwesterchen hätte‚ wohl eine Puppenküche, aber keine Puppe, fiel auf taube Ohren. Einer der Brüder meinte: „Hör endlich auf mit deiner Bettelei! Mit dir, Schwesterchen‚ haben wir genug an Puppen im Haus.“

Der Blöde, er konnte ja gar nicht wissen, wie wichtig eine Puppe für mich war, er war doch nur ein Junge! Aber die Schleckereien aus der Puppenküche stibitzten sie mir, ohne Ausnahme, alle vier.

Das Heftchen mit dem Puppenbild wanderte jeden Abend mit ins Bett. Ich konnte es mir nicht oft genug ansehen: Eine Puppe mit Schlafaugen, Mamastimme‚ Zöpfen‚ Hut‚ Mantel und einem hübschen Kleidchen darunter. Sie trug schwarze Lackschuhe. Auch, daß sie an einer Hand der Puppenmutter, was ich ja denn wohl war‚ laufen konnte, das alles war doch sehr wichtig! Aber keiner nahm eine Notiz von meiner Sorge und den heißen Wünschen. Die Brüder verhöhnten mich sogar wegen meines lauten Betens.

Der Weihnachtsmorgen kam, die Mutter ging an ihrem Stock mit in die Wohnstube. Ich hatte es wohl wahrgenommen‚ aber ich war so aufgeregt und wollte mich schnell an ihr vorbeidrängeln. Dabei hielt mich mein älterer Bruder an meinen Zöpfen fest. Vor lauter Neugierde hatte ich nicht bemerkt, daß mein erster Weihnachtswunsch in Erfüllung gegangen war: In der Stube stand ein Tannenbaum mit brennenden Kerzen und bunten Kugeln geschmückt. Auf dem Tisch lag wieder die schwere rote Weihnachtsdecke‚ die Porzellanteller waren gefüllt mit Plätzchen‚ Honig- und Pfefferkuchengebäck. Die rotwangigen Äpfel waren sicher vom Himmelspersonal extra für uns blankgerieben worden. An meinem Stuhl hing auf einem Bügel ein grüner Lodenmantel mit Kapuze und neben meinem Teller lag das Spiel „Spitz, paß auf ...“

Gott sei Dank‚ das Christkind hatte uns nicht vergessen! Das waren meine ersten Gedanken. Die brennenden Kerzen am Baum waren die einzige Lichtquelle im Raum. Es war in den frühen Morgenstunden und das Stubenfenster hatte rundum am Holzrahmen entlang Eisblumen angesetzt. Ich ging ans Fenster, um zu sehen‚ ob im Schnee noch irgendwelche Spuren sichtbar wären‚ aber nein‚ nichts. Im Garten sah ich ein Reh‚ das an einem Gemüserest seinen Hunger stillte.

Der Vater stimmte ein Weihnachtslied an. Die Mutter saß in ihrem Stuhl und wir stellten uns zum Weihnachtsbaum. Ich hatte meine Freude an dem schön geschmückten Tannenbaum. Von all den Vorbereitungen hatte ich gar nichts mitbekommen. So war die Überraschung doppelt groß. Kräftig sang ich das Lied „Oh Tannenbaum“ mit. Dabei meinte ich, der Baum hätte gezittert. Daß ich es selbst war, wußte ich nicht, als ich meine heißersehnte Puppe‚ wohl etwas versteckt‚ in einem holzgeschnitztem fahrbaren Lehnstuhl sitzen sah. Mit einem erlösenden Schrei rief ich: „Lotte, meine Lotte! Jetzt habe ich dich endlich!“

Alle Sehnsucht einer echten Puppenmutter lagen in diesen Worten. Das Puppenkind fest in meinen Armen haltend‚ vergaß ich meine Umwelt, auch die armen und schlechten Jahre. Es hatte mich mit allem wieder versöhnt. Erst viel später merkte ich, daß die Eltern und Geschwister mit dem Singen aufgehört hatten und mich beobachteten. Oh wie war ich glücklich!
Freudig ging ich später im neuen Mantel an der Hand des Vaters zur Messe in die Kirche. Wir mußten eine Dreiviertelstunde durch den Schnee stapfen. Nach der Messe gingen wir zur aufgebauten Weihnachtskrippe. Ich hatte nicht vergessen‚ was mir die Mutter gesagt hatte: Nur dort‚ beim Kind in der Krippe, könnte ich mich für alles bedanken. Der Vater ließ mir Zeit‚ damit ich all das Schöne in mir aufnehmen konnte. Jedes Jahr kam eine neue Krippenfigur von den Spenden hinzu. So war der aus schwarzem Holz geschnitzte Knabe neu. Er kniete am Rande der Krippe und hielt die Spardose dafür in seinen Händen. Freudig nickte er jedesmal mit seinem Turban bedeckten Kopf, wenn ein Geldstück in der Dose klimperte.

Der Vater kam an meine Seite und legte seine Hand auf meine Schulter, als er zu mir sagte: „Siehst du‚ und es gibt doch ein Christkind!“
Dann gab er mir ein Zehn-Pfennig-Stück in die Hand und deutete auf den Knaben. Ich steckte das Geld in den dafür vorgesehenen Schlitz, der Knabe bedankte sich mit einem verbeugenden Kopfnicken. Ich flüsterte ihm leise ins Ohr: „Tschüß‚ bis Sonntag.“

Foto: mit freundlicher Genehmigung von Reinhard Bürck, www.meine-kleine-puppenwelt.de

Eine Puppe habe ich auch heute, mit 78 Jahren, noch auf dem Sofa. Meine Enkelin darf mit ihr spielen, wann immer sie möchte.
Meine Lotte ist nur acht Jahre alt geworden. Im März 1945 ist sie von einem amerikanischen Panzeroffizier in dessen Gefährt mitgenommen worden. Ich werde sein Gesicht nie vergessen. Daß eine 17jährige so herzzerreißend um ein Spielzeug weinen konnte, verstand er wohl damals nicht.

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Inhalt
»Unvergessene Weihnachten. Band 2«

Die Orte unserer Weihnachtsgeschichten 9
Alle Jahre wieder 10

Georg Hörmann
’s Christkindle 12
Charlotte Schyma
Mein sehnlichster Weihnachtswunsch 20
Anneliese Albrecht
Besuch vom Weihnachtsmann 24
Traute Siegmund
Vorweihnachtszeit 26
Bernadette Schnüttgen
Und es gibt doch ein Christkind! 33
Hans-Peter Kutscha
„Tröööt! Tröööt!“ 40
Joachim Weimar
O Tannenbaum, o Tannenbaum ... 45
Astrid Gassen
Der Traum vom Puppenhaus 48
Irmgard Ansel
Der versteckte Weihnachtsbaum 51
Ilse Borchard
„Geh leise in der Weihnachtszeit!“ 60
Ludwig Eberbach
Zwischen Freund und Feind 65
Friedrich Göhrs
Stille Nacht – dreisprachig gesungen 73
Alfred Zenker
Ein Weihnachtswunder 76
Marga Kleebaum
Steinkohle als Weihnachtsgeschenk? 84
Liesel Hünichen
Besuch am Heiligen Abend 88
Kurt Lange
Ein Weihnachtsbaum – mein Lebensretter 95
Marianne Christa Mullé
Das weinrote Kleid 100
Annemarie Sondermann
Die Weihnachtsgans im Rucksack 106
Erika Hertel
Flüchtlingskinder-Fütterung 110
Wilhelm Haushofer
Ein Feuerschein 113
Helga Naujoks
Jedes Weihnachten anders 116
Hans Edmund Friedrich
Der Umweg über’s Zuchthaus 131
Gerda Weinert
Kein Gärtner ohne Hippe 138
Rolf Zabel
Weihnachtseinkauf in West-Berlin 148
Karin Dersch
Der längste Tag des Jahres 152
Margit Kruse
Mein kleines Badezimmer 159
Bärbel Böhme
Wo bleibt der Weihnachtsmann? 167
Renate Strebel
„Der Baum ist schief!“ 170
Romano C. Failutti
Alle Jahre wieder – dieser verflixte Weihnachtsbaumkauf 176

Verfasser 181

Verlagsprogramm 186


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