Zwei
Muttertags-Geschichten
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[Ammensen im Hils, Niedersachsen; 1933]

Das Gedicht
Anna Strube

Ich lebte mit meinen Eltern, meinen Geschwistern und meiner Großmutter in einem kleinen Dorf im Hils. Meine Großmutter war damals schon sehr krank. Sie hatte als Kulturfrau – so nannte man die Waldarbeiterinnen – im Wald in ständiger Nässe gearbeitet. Damals gab es weder Hosen für Frauen noch wasserdichte Arbeitskleidung. Als Folge dieser Arbeit war meine Großmutter halb gelähmt. Neben ihrem Bett stand immer ein Gehstock, mit dessen Hilfe sie mühsam ein paar Schritte zu ihrem Sessel gehen konnte.
Aus einem Fenster schaute sie in den Gemüsegarten. In diesem Garten wuchsen Johannis-, Stachel- und Erdbeeren. Wenn wir Kinder heimlich in den Garten schlichen und naschen wollten, wurde oben mit dem Gehstock heftig gegen die Scheiben geklopft und daran erinnert, daß wir Verbotenes im Sinn hatten. Trotzdem liebte ich meine Großmutter sehr. Mit allen unseren Sorgen konnten wir zu ihr kommen. An ihrem Bett ist wohl so manche Träne geflossen, und sie wußte uns immer zu trösten.

Eines Tages kam ich aus der Schule und erzählte ihr, daß wir in der Schule das Theaterstück „Hänsel und Gretel“ einstudierten. Es sollte in der Gastwirtschaft aufgeführt werden. Ich weinte bitterlich, weil meine ältere Schwester eine Hauptrolle erhalten hatte und ich nur ein Gedicht aufsagen durfte.
„Nun weine doch nicht, Kind! Ich weiß ein wunderschönes Gedicht“, tröstete Großmutter. Sie hatte es aus der Zeitung „Land und Garten“.

Nachdem unser Lehrer sein Einverständnis gegeben hatte, verbrachte ich beinahe jede freie Stunde bei der Großmutter und lernte das Gedicht, bis ich es auswendig konnte.

Der große Tag rückte näher, und das gesamte Dorf freute sich schon auf den Sonntag der Aufführung. Da wurde meinen Eltern und uns Geschwistern plötzlich alle Freude genommen: Unsere Großmutter hatte für immer die Augen geschlossen.

Nun wollten meine Schwester und ich auf keinen Fall mehr an der Aufführung teilnehmen, denn die Beerdigung war ebenfalls für diesen Sonntag angesetzt worden. Unser Lehrer war darüber ganz verzweifelt, weil in der Kürze der Zeit niemand mehr die Rolle meiner Schwester lernen konnte. So ließen wir uns doch noch überreden.

Damals gab es noch keine Leichenhalle, die Toten wurden zu Hause aufgebahrt. Mein Vater, der von dem Gedicht wußte, bat mich, es zu Ehren meiner Großmutter bei der Trauerfeier aufzusagen. Aber ich wollte und konnte nicht. Erst abends, bei der Aufführung des Märchens, gelang es ihm, mich zu überreden. Unter Tränen sagte ich es auf:

Leis sinkt der Abenddämmerschein
und deckt des Tages Müh’ und Lasten.
Ringsum ruht alles, nur allein
unsere Mutter kann nicht rasten.
Die nimmermüden Hände regen
zum Schaffen sich von früh bis spät,
sie ist des Hauses stiller Segen
und ihre Arbeit ein Gebet.
Gedankenvoll blickt auf ihr Tun
sie sinnend und bedächtig nieder,
vielleicht sieht sie beim Stricken nun,
vergangene Zeiten, frohe Bilder wieder.
Wie damals im Geschwisterkreise
mit kleiner ungeübter Hand
sie zaghaft noch auf Kinderweise
zum ersten Mal den Faden um die Nadel wand.

Und Jahre kommen und vergehen,
schnell rauscht der Lebensstrom vorbei;
das Alte muß dem Neuen weichen
und gibt den Weg der Jugend frei.
Nun trägt mit ruhevoller Würde
unsere Mutter fort und fort
des Lebenssorgen schwere Bürde,
bis sie einst ausruhen darf am stillen Ort.

Man erzählte mir später, daß an diesem Abend nicht nur meine Tränen geflossen sind.


Aus dem Buch Zwischen Kaiser und Hitler
Kindheit in Deutschland 1914-1933

47 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
368 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, Chronologie. Ungekürztes Taschenbuch
Reihe Zeitgut Band 15,
ISBN: 978-3-86614-113-1, EURO 9,90

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[Ortelsburg, Masuren, Ostpreußen;1937]

Muttertag
Hildegard Strauß

Jeden Morgen gehe ich auf meinem Schulweg an dem großen Modegeschäft mit den schönen Kleidern und Mänteln vorbei. Seit Wochen liegt ganz vorne im Schaufenster ein wunderschöner blauer Chiffonschal mit weißen Tupfen. Es muß der gleiche sein, den Olga Tschechowa - sie war damals eine große Filmschauspielerin - in ihrem letzten Film trug.
In fünf Wochen ist Muttertag. Mutter ist sehr krank und kann nicht mehr aufstehen, aber mit ihren schönen schwarzen Haaren und den großen blauen Augen würde sie mit diesem Schal wunderschön aussehen, wie Olga Tschechowa!

Ich bin zehn Jahre alt. Günter, mein älterer Bruder, hat sicher schon ein tolles Geschenk. Im Gegensatz zu mir spart er immer fleißig. Doch auf diesen Schal ist er bestimmt nicht gekommen. Mein Geschenk würde ganz bestimmt das schönste sein.

1,80 RM kostet der Schal. Mein Taschengeld beträgt 20 Pfennig pro Woche. Das ergibt in den fünf Wochen bis zum Muttertag eine Mark. 40 Pfennig habe ich noch. Dann fehlen mir immer noch 40 Pfennig.
Jeden Morgen auf dem Schulweg werfe ich einen Blick ins Schaufenster. Ob er noch da ist?

Nur noch eine Woche, dann ist Muttertag, und mir fehlen immer noch 40 Pfennig! Wenigstens Blumen brauche ich nicht zu kaufen, die Tränenden Herzen und der Goldlack blühen schon im Garten. Wie komme ich nur zu den 40 Pfennigen?

Ich könnte natürlich eine Eins im Diktat schreiben, dann bekäme ich vielleicht 10 Pfennig, aber auch nur vielleicht! Eigentlich ist die Anstrengung viel zu groß für 10 Pfennig! Aber ich könnte die Briefe für unseren Hausbesitzer zur Post bringen. Manchmal gibt er mir 10 Pfennig dafür, aber auch nur manchmal!

Nur noch zwei Tage bis zum Muttertag. Der Schal liegt nach wie vor im Schaufenster und mir fehlen die 40 Pfennig immer noch. In meinem Nachttisch müßten eigentlich noch 20 Pfennig liegen, die ich als Schmerzensgeld für meine Halsschmerzen bekommen habe. Ich muß gleich mal nachsehen.

Es ist der letzte Tag vor Muttertag. Ich stehe vor dem Schaufenster. Meine Hand ist feucht und ganz fest um das kleine Portemonnaie gepreßt. Darin sind 1,60 RM.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und gehe in den Laden hinein. "Ich hätte gerne den blauen Schal mit den weißen Punkten, aber ich habe nur 1,60 RM. Könnte ich den Rest abzahlen?" frage ich forsch.

Die Blicke, die zwischen den beiden Verkäufern hin- und hergehen, lassen mich schon viel weniger forsch dastehen. "Ich brauche ihn ganz dringend", sage ich nun schon viel bescheidener. Mein Herz klopft bis zum Hals. Wenn sie nun nein sagen? Was mache ich dann?
"Wann würdest du denn den Rest bezahlen?" fragt der eine Verkäufer. "In der nächsten Woche könnte ich den Rest von meinem Taschengeld bezahlen, ich bekomme 20 Pfennig pro Woche", antworte ich schnell und schon wieder viel lauter.

Der Verkäufer packt sehr langsam den Schal ein, sieht mich ernst an und sagt: "Dann bis zur nächsten Woche."
"Ja", sage ich und sehe ihn genauso ernst an und verspreche: "Bis zur nächsten Woche."

Auf dem Nachhauseweg presse ich das kleine Päckchen ganz fest an mich, als ob es der kostbarste Schatz der Welt wäre. Was wird Mutter wohl dazu sagen?

Es ist soweit. Muttertag. Günter steht schon vor der Schlafzimmertür, als ich mit meinem kleinen Päckchen ankomme. Wir dürfen immer erst zu Mutter, wenn sie von der Krankenschwester gewaschen und gekämmt worden ist. Günter hat einen großen verpackten Gegenstand vor sich zu stehen. Was mag da wohl drin sein?

Ich halte mein kleines Päckchen mit dem Schal auf dem Rücken versteckt. "Was hast du denn?" frage ich ihn neugierig. "Pack' es doch mal aus, Mutter kann es in ihrem Bett sowieso nicht."

Sein triumphierender Blick läßt nichts Gutes ahnen, als er ganz langsam den Packbogen löst. Ich traue meinen Augen nicht! Ein kleiner Tisch, ein Tisch, den man auf das Bett stellen konnte, damit Mutter bequem essen kann. Genau das, was Mutter braucht!
Und ich habe einen sinnlosen, lächerlichen Schal, den sie nie umbinden wird! Die Tränen laufen mir über die dicken Wangen. Dieser Günter!

"Das ist gemein", schreie ich und bin gerade dabei, voller Wut meine kleinen Fäuste in seine Seite zu schieben, als Mutter "Herein!" ruft. Ich drängele mich nicht vor, ich muß erst meine Tränen abwischen, es ist sowieso alles egal. Was ist schon mein Schal gegen seinen Frühstückstisch?

Mutter sieht schön aus wie immer. Wir stehen an ihrem Bett, Günter stellt seinen Tisch darauf und sagt in seiner korrekten Art: "Ich gratuliere dir zum Muttertag."
Mutter streicht mit ihrer kranken Hand über den Tisch. "Der ist schön, nun kann ich endlich bequem essen, ich danke dir."

Ich bin todunglücklich. Wie konnte ich nur auf die Idee mit dem Schal kommen? Vielleicht sollte ich ihn fallen lassen und nur die Tränenden Herzen schenken? Der Günter ist so gemein ...

Nun bin ich dran. Ich lege mein kleines Päckchen auf Mutters Bett und sage: "Liebe Mutti, ich wünsche mir ... nein, ich wünsche dir, daß du bald wieder gesund wirst."
Mein Herz klopft, als sie ganz langsam das Päckchen auspackt. Sie breitet den Schal aus, hebt leicht ihren Kopf und legt ihn um. "Hol mir bitte einen Spiegel", sagt sie.
Ich halte ihr den Spiegel hin, sie zupft hier und da und freut sich: "Ist der schön! Ich habe noch nie einen so schönen Schal besessen. Den werde ich niemals wieder ablegen."

Ich sitze vor ihrem Bett, den Tisch sehe ich nicht mehr. Mutter sieht so schön mit dem Schal aus - wie Olga Tschechowa! Ich bin glücklich.


Die Filmschauspielerin Olga Tschechowa (1897–1980), Nichte des russischen Schriftstellers A. P. Tschechow, kam 1912 nach Deutschland. Sie wirkte in zahlreichen Filmen mit, unter anderem in: „Zwei Frauen“. Die Abbildung zeigt sie, rechts, zusammen mit Irene von Meyendorff auf dem Titelbild des Programmheftes.


Aus dem Buch Heil Hitler, Herr Lehrer!
Kindheit in Deutschland 1933-1939

50 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen. 360 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, gebunden.
Reihe Zeitgut Band 13
ISBN: 978-3-933336-12-5, Euro 12,90

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