Leseproben
aus »Kriegsbriefe aus Duisburg«
Vorwort
8. Juli 1942, Hotel Bristol, Berlin W8, Unter
den Linden 65
7. September 1942
2.
bis 13. Januar 1943
9. April bis 1. Mai 1943
11. und 19. Februar 1945
25. Februar 1945, Brief und ein Aufsatz
von Ursel
zum
kompletten Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Erlebnisse der deutschen Zivilbevölkerung während des
Zweiten Weltkrieges haben erst in den letzten Jahren mit Gipfel
zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes eine gebührende
Beachtung gefunden. Dies hängt mit sehr unterschiedlichen Faktoren
zusammen.
Zum einen ist es das gewaltige Übergewicht der Leiden der von den
Deutschen unterdrückten Völker, insbesondere der Ausrottung
der europäischen Juden im Holocaust. Weiterhin können hier
wie dort erst allmählich die schlimmen, oft quälenden Erinnerungen
zugelassen werden. Der stark motivierende Alltag des Wiederaufbaus eines
zertrümmerten Landes einschließlich einer doppelten Staatenbildung,
das Zusammenführen oder Neugründen von Familien und die Versuche
einer beruflichen Verwirklichung forderten alle Kräfte und erzwangen
die weitgehende Verdrängung des Vergangenen, das man vielleicht
so genau nicht erkennen wollte. Schließlich war das Erleben des
Krieges innerhalb der deutschen Bevölkerung enorm unterschiedlich:
ob als Soldat an der Front, in der Etappe oder als Zivilist jeweils
als potentieller Täter, Mitläufer oder Regimegegner in unendlich
vielen Schattierungen. Vor allem im Westen bestand jahrelang eine fast
tägliche Bombenbedrohung. Den Osten traf ab Ende 1944 das entsetzliche
Schicksal von Flucht und Vertreibung. Die darauffolgenden politischen
Umstände der Bevölkerung in DDR und BRD waren ausgesprochen
divergent. So ließ der sechzigste Jahrestag des Kriegsendes wie
nie zuvor bei derartigen Gedenktagen in allen Medien die Geschehnisse
des Krieges wiederaufleben und offenbar das Interesse aller Generationen
finden.
Zu unserer eigenen Überraschung fand die Witwe meines 1995 mit
siebzig Jahren verstorbenen Bruders Clemens vor einiger Zeit ein dickes
Bündel Briefe in der Schrift meiner Mutter. Es enthielt ihre vollständigen,
von meinem Bruder wohlverwahrten Briefe, die sie ihm vom Tag seiner
Einberufung im Juli 1942 bis März 1945 geschrieben hatte.
Etliche Briefe meines Bruders sind ebenfalls vorhanden. Sie enthalten
jedoch, als Mitteilungen eines gerade Achtzehnjährigen, der sich
bis auf die letzten Kriegsmonate in einer kasernierten Ausbildung befand,
relativ wenig allgemein Interessierendes. Generell scheinen seine Briefe
auch stärker von der Furcht eines jungen Soldaten und Offiziersanwärters
vor der Zensur bestimmt zu sein.
Von meinem Vater, im Zweiten Weltkrieg Stabsoffizier bei der Marine,
blieben nur wenige Briefe an seinen ältesten Sohn erhalten. Diese
sind zwar auch liebevoll, aber doch immer mit einer gewissen Distanz
von Soldat zu Soldat geschrieben. Sie haben auch deutlich weniger berichtenden
Charakter. Auf deren Wiedergabe wurde bis auf wenige Ausnahmen ebenso
verzichtet wie auf die der Briefe des Adressaten.
Dieses Buch enthält also die regelmäßigen Briefe einer
Frau, die in Duisburg mit ihren zwei jüngeren Kindern und ihrer
Mutter lebte, an ihren ältesten Sohn. Durch den lebendigen Stil
der Schreiberin ergibt sich ein anschauliches Bild vom Leben unter Kriegsbedingungen
im Ruhrgebiet. Duisburg war ab 1940 fast täglichen Alarmen und
häufigen Luftangriffen ausgesetzt. Der Alltag war von Bomben, Zerstörung
und Angst, aber auch vom Überlebenswillen der verbliebenen Zivilbevölkerung
bestimmt. Die Briefe meiner Mutter könnten als eine Art Kriegstagebuch
aus dem Ruhrgebiet gelten. Vielleicht lag eine gewisse Privilegierung
unserer Familie darin, daß sich unser Wohnhaus in einem Vorort
Duisburgs mit aufgelockerter Bauweise befand und daß durch die
zivile Stellung meines Vaters an einer Werft bei Bombenschäden
relativ rasch kundige Helfer zur Verfügung standen.
Die Briefe lassen erkennen, wie groß die Sehnsucht nach einem
normalen Leben war, in dem man sich mit Freunden oder Verwandten trifft,
mit denen man bei einem guten Essen und einem Glas Wein ein offenes
Gespräch führen kann. Es wird unbeabsichtigt deutlich, wie
auch diese kleine Welt von der sie umgebenden NS- Ideologie infiltriert
war und wie zugleich versucht wurde, sich davon zu distanzieren. Auch
wenn die häufige Briefzensur der Offenheit Schranken auferlegte,
scheute sich meine Mutter nicht, ihrer Wesensart entsprechend gelegentlich
unverblümt ihre Meinung auszudrücken. Verbrecherische Tatsachen,
die ihr durch Fronturlauber aus Rußland bekannt geworden waren,
wie zum Beispiel Judenerschießungen, finden in den Briefen verständlicherweise
keine Erwähnung. Sie wurden von ihr mit sehr unterschiedlichem
Echo mündlich weitergegeben. (...)
Meine Eltern hatten 1922 in der Inflation geheiratet. Der älteste
Sohn, Clemens, genannt Bubu, der Adressat dieser Briefe,
wurde 1924 geboren. Er wurde mit Notabitur im Juli 1942 als Reserveoffiziersanwärter
für das Marinenachrichtenwesen eingezogen. Seine Ausbildung erfolgte
in Holland, Flensburg, Wilhelmshaven und Glückstadt. Ab 1944 war
er in Kiel bzw. Gotenhaven auf einem Kreuzer eingesetzt. Bei Kriegsende
geriet er in Schleswig Holstein in englische Gefangenschaft und kam
im Herbst 1945 nach Hause.
Ich selbst, Werner, genannt Tia, wurde als zweiter Sohn
1928 geboren und war als Schüler von Januar 1944 bis Ende März
1945 als Luftwaffenhelfer zunächst in Duisburg-Meidrich, dann in
Kamp-Lintfort, an der Rheinbrücke Duisburg-Hochfeld und schließlich
in Sterkrade bei der Flak eingesetzt. Ich wurde aber schon Ende März
1945 entlassen. (...)
Werner
als neuer Luftwaffenhelfer, Januar 1944.
8. Juli
1942, Hotel Bristol,
Berlin W8, Unter den Linden 65
Mein lieber
Junge,
heute endlich erfahren wir Deine Anschrift durch Anruf bei Omi und können
Dir viele liebe Grüße senden. Du kannst Dir sicher denken,
wie oft und intensiv wir an Dich und Dein Erleben gedacht haben. Zwei
Briefe hat Omi uns nachgesandt, sind noch nicht da. Den letzten las
sie mir rasch vor. Danach scheinst Du Dich ja recht wohl zu fühlen.
Wie schön, daß Ihr so gut verpflegt werdet und in der Kantine
solche Herrlichkeiten dazukaufen könnt. Ich gehe auf Deinen lieben
Brief ein, wenn ich ihn in den Händen habe. Was hast Du nun zu
unserer Reise gesagt? Omi schrieb Dir wohl davon. Kaum war Dein Zug
abgefahren, kam Vatis Telegramm. Ich war einfach erschlagen. Da gab
es rasch noch allerlei zu richten, wie Du Dir denken kannst. Samstag,
7 Uhr 44, fuhr ich dann mit dem strahlenden Tia los. Wir gerieten wieder
in son ähnliches Mutter-und-Kind-Abteil wie damals,
vor dem sich außerdem nacheinander drei halblahme, wohlbeleibte
Omas aufbauten, so daß Tia fast immer stehen mußte. 4 Uhr
45 kamen wir dann pünktlich an, gingen zu Fuß zum Bristol,
wo wir Vati schon vorfanden. Wir zählen hier zu den alten Kämpfern
und werden fabelhaft aufmerksam bedient von allen Kellnern. Sonntag
war es besonders heiß. Wir sind durch die Stadt gebummelt. Montag
bin ich dann mit Tia bei herrlichem Wetter durch Potsdam gewallfahrtet.
Er war auch ganz benommen von all dem Schönen. Schloß Sanssouci
kann von innen nicht mehr besichtigt werden. Man hat es wohl ganz ausgeräumt.
Gegen 6 Uhr kamen dann Hollands [Offiziersfreund von W. G. sen.], die
bis Dienstag abend 11 Uhr blieben. Sie wohnten die Nacht auch hier im
Hause. Wir haben sehr viel miteinander gelacht. Sie sind beide besonders
nett und lassen Dich sehr herzlich grüßen. Heute morgen war
ich mit Tia im Mausoleum in Charlottenburg und an der Siegessäule.
Nach Tisch hatte Vati sich freigemacht. Wir haben uns Hochzeit
auf dem Bauernhof angesehen und nachher bei Kranzler am Kurfürstendamm
Orangeade getrunken. Morgen abend fährt Vati nun wieder fort. Wir
starten Freitag morgen.
Clemens
am Tag seiner Einberufung, 3. Juli 1942.
So,
mein lieber Bubu, nun weißt Du doch, was wir in diesen Tagen gemacht
haben. Von Duisburg aus erzähle ich Dir dann immer regelmäßig
und oft. Ich danke Dir schon sehr für Deine lieben Briefe und grüße
Dich sehr herzlich. In Liebe
Deine Mutti
7. September
1942
Nun seid
Ihr wieder in Sorge um uns. Also, um ein halb vier heulten die Sirenen.
Erst dachte man, Rückflüge, leichtes Schießen. Auf einmal
lag die Tonstraßen-Schule in fahlem Licht von Leuchtbomben. Der
Instinkt sagte Tia und mir, jetzt müssen wir runter. Es ging alles
in aller Ruhe. Aber dann ging es los. Einschlag auf Einschlag, schaurig.
Vor allem da sie sehr nahe lagen. Alles wackelte. Nur Ursel zog in aller
Seelenruhe vier Puppen um!!
Café
Kolkmann, Königstraße, nach dem Bombenangriff vom
6./7. September 1942.
Wir sahen
dann gegen fünf Uhr beim Heraufgehen über der Stadt wüsten
Feuerschein. Es hat maßlos gebrannt. Die Tonhalle ist weg. Café
Kolkmann, Heuserstraße, Ludgeristraße und 100 andere Straßen
haben toll gebrannt.
6./7.
September 1942. Tonhalle, König-Heinrich-Platz.
Das schlimmste
waren aber die verdammten Luftminen. Eine ist am Lutherplatz herunter
gekommen. Du ahnst nicht, wie es da aussieht. Am tollsten Kaisers
Kaffeegeschäft und die anliegenden Häuser. Seibts müssen
räumen. Das Haus vorher ist ganz zerstört. Natürlich
sämtliche Scheiben etc. in weitem Umkreis kaputt. Ein furchtbares
Bild. Die Leitungen hingen herunter. Die ganze Mülheimer von Brauer-
bis Prinzenstraße mit Bergen von Schutt bedeckt. Jetzt ist alles
abgesperrt. Tia hat bei Eisolds [Geschäft] geholfen. Bei Eidens
direkt vor der Tür ein sehr tiefer Bombenkrater. Wenn ich mehr
gesehen habe, erzähle ich es Dir weiter. Unser Dach hat ein großes
Loch. Auf dem Speicher lag ein riesiger Bombensplitter. Sonst außer
Kalk und Dreck in allen Zimmern ist alles heil.
Wohnhaus,
Zieglerstraße 21, mit den üblichen Schäden
nach einem Luftangriff.
2. Januar
1943
... Ötte
B. [Freund von Clemens] sei auch in Urlaub, ebenso der junge Schäfer,
wohl aus dem Lazarett. Bei Webers ist der ganze Dachstuhl abgebrannt.
In allen Häusern und Etagen werden Zimmer beschlagnahmt. Ich sehe
sehr schwarz für uns wegen der drei Räume hier unten. Die
Kommission, die hier rumgeht, besteht aus Schauspielern, die ja ohne
Arbeit sind, und kommt von der Wehrmacht. ...
In der Frau-Rath-Goethe-Schule sollen Bombengeschädigte untergebracht
sein. Tia hofft auf eine Ferienverlängerung. ...
6. Januar 1943
Heute morgen
gingen wir mit Tante Emma durch die Stadt. Man ist immer wieder von
neuem entsetzt und entdeckt x ausgebrannte Häuser. Schauderhaft,
sage ich Dir. So sehe ich auf einmal, daß die Commerzbank gebrannt
hat, Dach und erste Etage. Bonses wohnen in der winzigen Küche
ohne Heizung und schlafen im Hotel. ...
8. Januar 1943
... Heute
morgen hatten wir zur reizvollen Abwechslung mal um sechs Uhr Alarm.
In Hamborn sind vier Minen in die Rheinwiesen gefallen. Sie sollen wieder
in Essen gehaust haben. Der zweite Sohn von Zweigerts, der - besonders
passionierter Flieger - von Kreta nach Afrika eingesetzt war, ist vom
Feindflug nicht zurückgekehrt. Sehr traurig. Der zweite Siemes
[Bruder von Klassenkamerad von Werner] ist mit erfrorenen Füßen
auf dem Transport vom Osten, hat Frau Siemes Tia erzählt. Scheußlich.
Erinnerst Du Dich noch, daß vor etwa einem Jahr ein Bekannter
von Vati aus Bochum fiel? Der Sohn überbrachte damals der Mutter
die Nachricht. Dieser Sohn ist jetzt auch gefallen. ...
Im Übrigen ist regelrechter Schulbetrieb wie sonst. Der Direktor
hat eine blöde Ansprache gehalten mit Julfest und so weiter und
die Rede des Führers oder Goebbels als sein Machwerk dahergereicht.
Ziemlich ungeeigneter Mann scheint mir das zu sein. Ich habe das bestimmte
Gefühl, daß er innerlich gar kein Nazi ist.
9. Januar 1943
Tolle Sache
war das gestern abend. Sieben Uhr Alarm. Wir holen jetzt erst schleunigst
unsere Sachen nach unten. Oben rasch fertig. Dann nichts wie runter.
Ein wahrer Regen von Brandbomben ging auf das Kaiserbergviertel nieder.
Bis auf zwei Brände Schweizerstraße und Hohenzollernstraße,
die aber schnell gelöscht wurden, sind alle in die Gärten
gefallen und da ausgebrannt, einer direkt vor unserem Tor, dreie auf
der Straße noch vor Kampfs Bürgersteig. Eine vierte war noch
nicht explodiert, drei vor Kappes Haus und ein Blindgänger, eine
in dem Garten gleich hinter uns ganz nah an der Mauer, unzählige
in den Garten von Kampfs, drei direkt an Stutterheims Haus, bei Mantells
direkt vor dem Erker gleich am Wintergarten und eine direkt vor dem
Hühnerstall. Ein unglaubliches Feuerwerk, kann ich Dir sagen. Heftige
Erschütterungen bei der Zahl und der Nähe. Vor allem dauernd
die Angst, nun werfen sie Kanister und Minen hinterher. So etwas von
Dusel habe ich noch nicht erlebt. Nachher war alles auf der Straße.
SHD [Sicherheits- und Hilfsdienst] sammelte die Blindgänger ein.
Hoffentlich waren die Engländer bei ihrem mittäglichen Einflug
nicht zu enttäuscht von dem Minenentzug und bedenken uns noch mal.
Am Hafen sind Minen heruntergekommen. Am Schnabelhuck ist eine in die
Wiesen gesaust. So nahe haben wir die Gefahr noch nicht gehabt.8)
Ich warte auf Ernst August Sch. [Freund von Vater].
12. Januar 1943
Heute morgen
erhielt ich aus Hamburg einen Anruf. Eine Dame gab folgenden Funkspruch
durch: Deutschlandreise vorläufig verschoben. Näheres folgt.
Greve KorvKapt. Da haben wir uns mal wieder umsonst gefreut. Scheinbar
ist da unten jetzt auch der Teufel los, und Vati kann die Leute nicht
verlassen. Gestern morgen war der Urlauber W. hier. Ich bin froh, da
er erst übermorgen fährt, Post mitgeben zu können. Ob
es nun klappt, daß Vati vor Deiner Kommandierung kommt? Vorläufig
ist ein weiter Begriff. Zum ko. Aber ich bin nun mal - wenn auch
nicht im Strienzschen Sinne! [Schnulzensänger von der tapferen,
kleinen Soldatenfrau] Soldatenfrau und Du bist Soldat. Reden
wir also nicht mehr darüber. Der junge Carstanjen, der damals zu
Deinem Tanztee hier war, ist in russischer Gefangenschaft. Gräulig.
Wille war fünf Tage vermißt, hat sich aber wieder zu seinen
Leuten durchgeschlagen (Kalmückenwüste).
Die Flieger besuchen uns sozusagen jeden Abend sieben, halb acht Uhr.
Gestern kam einer in tosendem Stukaflug heruntergesaust und schlug in
Meidrich auf. Samstag ist in Mülheim direkt vor der Stadthalle
eine Mine in die Ruhr gesaust. Schröders Geschäftshaus in
Essen ist total ausgebrannt. ...
13. Januar 1943
... Weißt
Du, dieser blöde Infanteriedienst ist wohl zeitbedingt und hauptsächlich
durch die Partisanen in Rußland. Man kann aber auch in Frankreich
und anderen Ländern jederzeit mit Überfällen rechnen,
und dann ist es gut, wenn man sich seiner Haut wehren kann. W. erzählte
auch von der Abteilung, daß sie dauernd Infanteriedienst haben.
Wo in Feindesland deutsche Soldaten stehen, haben sie die Aufgabe, ihren
Stützpunkt selbst zu verteidigen. Da nutzt kein Funken mehr. Ebenso
ist es ja bei den Fliegern. ...
Wir hatten heute sechs Uhr früh Alarm. Endlich hörte man mal
wieder schwere Flak. In der Stadt hatten sie selbst nur wenig angerichtet.
In Großenbaum ist eine Mine in den Wald gegangen. Alle Scheiben
kaputt. ...
Furchtbar diese Gesamtoffensive der Russen. ...
9. April
1943
Ich gebe
zu, daß ich eine wirklich treulose Tomate bin. Aber Du hast Dir
sicher schon gedacht, daß ich so einiges zu tun habe, da ich mich
auch, so weit wie eben möglich, Vati widmen möchte in den
paar Wochen, die er nun mal hier ist. Da muß ich denn die Stunden,
die ich sonst zum schriftlichen Plaudern verbrachte, für meine
Hausarbeit nutzen. Wir sprechen bald von nichts anderem mehr, als von
Deinem Kommen. Am glücklichsten ist Ursula. Gestern kam sie spät
aus der Schule. Sie meinte, nach jeder Stunde habe ich mir vorgesagt:
Dienstag kommt der Bubu. Dann könnte ich mich so schrecklich freuen.
Und als ich in der Turnstunde den Kaiserberg heraufkletterte und beinahe
gar nicht konnte, da habe ich mir das auch gesagt. Und da ging es dann
auf einmal ganz leicht. Gestern haben Omi und ich Küchenzettel
entworfen. Ich glaube, Du wirst Dich ganz wohl fühlen. Wir hatten
gestern abend einen heftigen Angriff hier, große Brände.
Bei Berninghaus ist die Kraftzentrale getroffen. Montag könne sie
aber wieder arbeiten.10 Achte ja auf Essen, wenn Du durchfährst.
Es ist furchtbar dort. Man sieht vom Zug aus schon so einiges. ...
Ostern
1943. Vor dem Haus Zieglerstraße. Von links: Ursel, Clemens, Mutter,
Vater, Werner.
10. April 1943
Vati muß
ja auch gleich nach Ostern weg. Er weiß nur noch nicht, wohin
die Abteilung nun kommt. Wir hatten gestern abend wieder einen schweren
Angriff. Diesmal ist am Merkatorpalast [Kino] unter anderem eine Mine
heruntergegangen und hat dieses letzte Etablissement einschließlich
der Decken usw. zerstört. Wir hörten und spürten viele
Einschläge. Goebbels war in Essen und hat beim Rundgang durch diese
Ruinenstadt gemeint: Da sollten Sie erst mal Warschau sehen. Takt ist
Glückssache.
Ostern
1943 im Wohnzimmer, Zieglerstraße. Von links: Mutter,
Clemens, Ursel, Vater, Omi.
11. April 1943
Die Ankunftszeiten
sind ja nicht eben betörend. Wir hätten vor allem nicht gern,
daß Du hier in den abendlichen Alarm hineinfährst. Der spielt
sich meist so gegen halb eins bis eins ab. Die letzten Nächte bis
auf gestern waren doch sehr erwähnenswert. Vati ist leicht entgeistert
über das, was hier so geboten wird. In der Beziehung, nachdem er
selbst den flüssigen Phosphor vom Himmel fließen sah und
die schweren Einschläge verspürte, da alles an zu wackeln
fing. Eine Flasche Likör bekommst Du als Urlauber, der während
dem 25.04. bis 25.05 volle acht Tage Urlaub hat. Das freut einen denn
ja auch. Vati kommt gerade von einem Vortrag, den er im Marineverein
gehalten hat.
1. Mai 1943
Die Urlaubstage
waren zu schön und sind leider so rasend schnell vergangen. Aber
wir freuen uns rasch wieder auf ein neues Zusammensein. Vati kommt sicher
mal nach Wilhelmshaven, Du eventuell mal nach Rendsburg. Wir treffen
uns in Bremen oder Hamburg und dann kommst Du wieder für einige
Tage als stolzer Fähnrich zu uns. Ich glaube, Du hast Dich recht
wohl gefühlt in deinem ewigen zu Hause. Nett war es ja auch, daß
so viele Freunde und alte Freundinnen auftauchten. ...
Papi ist heute um 7 Uhr 26 abgefahren. Tia säubert mit Opa Schmitz
den Speicher. Eine Höllenarbeit [nach Luftangriff ].11)
Schmitz [rührende Helfer] werden Mittwoch verschickt.
Tine zieht zu ihrem Mann nach Berlin. So schwindet auch die leiseste
Hoffnung auf eventuelle Hilfe. Frau Mantell nimmt die Schwestern B.
auf, außerdem noch eine Familie und zwei Blitzmädchen. Sie
behalten nur ein Wohn- und das Elternschlafzimmer für sich. Tolle
Zeiten sind das. Alle Gemütlichkeit schwindet peu à peu.
13.
Mai 1943. Das zerstörte Dachgeschoß des Duisburger Rathauses.
11. Februar
1945
Unter dem
langsam näherkommenden fernen Grollen des Frontschießens
und bei vielen Alarmen, die anfangs bedrohlich zu werden scheinen und
uns in den Bunker treiben, geht es uns ganz gut. Seit fünf Tagen
haben wir wieder Wasser in der Wohnung. Du ahnst kaum, was das für
eine Erlösung bedeutet. So habe ich mich dann auch gleich an einen
feuchten Putz begeben. ... Wir hausen aber immer noch in der Küche.
Bei dem Wind zieht es doch überall noch durch manche Fugen. ...
Die Essensfrage wird immer problematischer, schon jetzt bei den vorläufigen
Kürzungen. Aber unser Erfindungsgeist hat bisher immer noch ausgereicht.
Man muß nur schrecklich einteilen.
Vati hat in all seiner Arbeit viel Kummer. Jetzt ist in Herne, wohin
er den Kesselbau verlegt hatte, die große Halle ganz zerstört.
In Havelberg sind ungezählte ostpreußische Flüchtlinge,
dazu die miserablen Verbindungen. Er hat keine rechte Hilfe, muß
all die Sachen in Essen, Mönchengladbach usw. selbst erledigen
und verfährt dann immer einen ganzen langen Tag. Die Jabos [Jagdbomber]
sind natürlich auch denkbar unangenehm beim Autofahren. Wenn doch
endlich das Telephon wieder funktionierte. Tia kam gestern nachmittag.
Denk Dir, die LWHs [Luftwaffenhelfer], die nicht ROAs [Reserveoffiziersanwärter]
sind, werden von heute auf morgen als Flakkanoniere eingestellt. Scheußlich,
nicht? Karl hat aus Ungarn geschrieben. Tante Vickys Bruder ist in russischer
Gefangenschaft. Man weiß aber nicht, ob das nun stimmt. Onkel
Ernst Pean hat das Regiment abgegeben. Er war erst bei der Führerreserve
und liegt jetzt als Artillerieoffizier bei einem höheren Stab in
einem Westwallbunker. Von Wilhelm [Vetter in Gefangenschaft] keine weitere
Nachricht. Von Dir habe ich zum Volksopfer [Kleiderspende] nun Deine
ausgewachsenen HJ-Hemden und die Riemen gegeben, dazu Vatis alten Frack
(für den Volkssturm).
1945.
Zerstörte Altstadt von Duisburg mit den ausgebrannten Türmen
von Rathaus, Salvator- und Liebfrauenkirche.
19. Februar 1945
... Hier
in Duisburg direkt ist wenig heruntergekommen. Heute rumste es gewaltig
von Hamborn herüber. Wesel haben sie in diesen Tagen ganz wegradiert.
Schaurig. Dabei war es doch mit Flüchtlingen vom Niederrhein belegt.
Keine Bunker etc. ...
Tante Liese war in großer Sorge um ihren Ältesten, der als
Luftwaffenhelfer in Beuthen [Oberschlesien] stand und von dem sie nun
nichts mehr hört. Die Tochter ist Gott sei Dank bei ihr. Im Osten
spielen sich wohl furchtbare Tragödien ab. ...
Sonst stecke ich in tiefem Alltag. Ich benutze Wasser und Sonne zu einer
peu à peu Wäsche von ca. 30 Bettüchern, die seit September
lagen.
25.
Februar 1945, Brief und ein Aufsatz von Ursel
Lieber
Clemens Oskar,
zu Deinem Geburtstag sende ich Dir die herzlichsten Glückwünsche.
Als Geschenk schicke ich Dir dieses Mal Aufsätzchen. Satzzeichen
kann ich jetzt noch nicht, aber Vati bringt es mir sehr bald bei. Ziehe
den Rotstift gar nicht erst raus. Mein Finger ist jetzt Gott-sei-Dank
wieder gut. Muttis Finger auch. Ich bin sehr stolz, daß ich einen
Bruder habe, welcher schon Leutnant ist. Ein Aufpasser im Bunker läßt
uns immer im Bunker stehen auf der ersten Etage. Er hinkt und deshalb
haben wir in Humpelkumpel genannt. Gestern war er hier. Wir backen jetzt
immer mit Hefe, aber Mutti spart alles für Deinen Urlaub auf. Vati
wird jeden Tag dünner und Tia jeden Tag dicker und hat dabei einen
wahnsinnigen Hunger. Ich mache jetzt immer Kettenaufgaben als Schulaufgaben.
Schreib mir einmal bald wieder. Nun viele Grüße und tausend
Küßchen,
Deine Schwester Ursula
Ein Angriff
auf Duisburg
Wir hatten Mittwoch abend noch Rommé gespielt, und als wir die
Karten gerade fortlegten, da gab es Alarm und der Drahtfunk sagte durch,
daß Kampfverbände im Anflug seien. Dann kriegten wir Vollalarm.
Daraufhin gingen wir zum Bunker. Als wir im Bunker waren, wurde durchgesagt,
daß die Spitze der Kampfverbände den Raum Duisburg erreicht
habe und besonders Vorsicht im Raum Duisburg geboten wäre. Dann
ging es los. Man merkte die Einschläge im Bunker sehr gut. Als
der Angriff vorbei war, gingen zuerst die Männer aus dem Bunker,
um zu sehen, was brannte, und zu löschen. Wir folgten dann auch
bald. Als wir aus dem Bunker traten, dachten wir zuerst, unser Haus
sei am Brennen. Aber als wir näher herzukamen, sahen wir, daß
es das zweite Haus auf der unteren Zieglerstraße war. Als wir
zu Hause ankamen, gab es Vorentwarnung. Mein Vater hatte im ganzen Hause
schon nachgesehen, ob es irgendwo brennen würde. Bei uns brannte
nichts. Bei uns waren nur Sprengbombenschäden, besonders hinten
sehr erheblich. Eßzimmer und Wohnzimmer schienen unbewohnbar.
Nun machten wir zuerst die Küche von Schutt und Dreck frei. Dann
holte ich eine Flasche Wein herauf, und meine Mutter machte ein paar
Butterbrote. So gegen zwei Uhr, als wir gerade beim Essen waren, hörte
mein Vater etwas knistern. Wir dachten, es wäre Regen. Jedoch mein
Vater schaute vorsichtigerweise einmal nach. Da rief er uns zu, Kampfs
Haus stände in hellen Flammen, von unten bis oben. Nun blieb uns
nichts anderes übrig, als da draußen stehenzubleiben und
auf den Funkenregen zu achten. Aber der Funkenregen ging mehr zu Lenzens
herüber. Aber auch Lenzens hatten Glück, denn die Funken erloschen
kurz vor dem Dach. Wenn der Wind sich mehr zu unserem Haus drehte, dann
ging mein Vater auf den Speicher, um zu löschen, wenn sich einige
Funken zu uns herüberverirrten. Als der Brand nachließ, gingen
wir wieder ins Haus und aßen weiter. Dann gingen wir gegen halb
vier zu Bett. Mein Vater stand in der Nacht noch mehrfach auf, um zu
schauen, ob es nirgendwo brennen würde.
2. März 1945
... Im
übrigen können wir alle diese tolle Nähe der Front keineswegs
fassen. Man hört natürlich den Geschützdonner besonders
nachts unheimlich nah. Vati muß auf jeden Fall von hier fort.
Ich werde hier bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß ich dann
lange nichts von Euch dreien höre. Es ist sinnlos, sich jetzt mit
Ursel auf die Landstraße zu begeben. Das Unglück rennt uns
doch nach. Hier haben wir noch Bekannte, die einem beistehen werden.
In der Fremde hilft uns niemand.
Doch vielleicht werden all diese Überlegungen noch überflüssig,
wenn das große Wunder noch einträfe. Warten wir das also
ab. ...
Duisburg-Ruhrort,
Meiderich, Rhein, Homberg am 26. März 1945.
[nach
oben]
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aus Duisburg«
Vorwort
6
Briefe von Juli bis Dezember 1942 12
Briefe von Januar bis Dezember 1943 60
Briefe von Januar bis Dezember 1944 118
Briefe von Januar bis März 1945 159
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