Leseprobe

Der Junge aus Riega
Ivar Siegfried Hahnberg
Erlebnisse eines deutschen Kindersoldaten
1933 - 1946

Broschiert, 80 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
Sammlung der Zeitzeugen (45)
ISBN 3-933336-94-5
9,80 EUR

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Die Heimat Riga
Ankunft in Großdeutschland
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Die Heimat Riga

Geboren wurde ich als lettischer Staatsbürger deutscher Nationalität in einer jüdischen Klinik in Riga in Lettland am Sonntag, dem 28. Oktober 1928, um 2.30 Uhr. Meine Kindheit verbrachte ich in Riga und am Ostseestrand von Lettland. Von 1936 bis November 1939 besuchte ich die 13. Deutsche Grundschule in Riga. Ich wuchs wohlbehütet in einer Großfamilie mit Tanten, Großeltern und Eltern auf und hatte eine schöne Kindheit.

Meine Familie und fast alle unsere Verwandten wohnten in der so genannten Moskauer Vorstadt von Riga. Dort lebten wir nicht nur unter Deutschen, sondern auch mit Letten, Russen, Juden sowie anderen Nationalitäten in guter Nachbarschaft zusammen. Die verschiedenen Sprachen und Religionen waren für uns Kinder in dieser Gemeinschaft kein Problem. Meine Familie erzog meine Schwester und mich christlich. Aber wir nahmen auch an den Feiertagen anderer Religionen teil, wie auch unsere andersgläubigen Freunde unsere Feiertage achteten und sich mit uns freuten.

1938 in Riga im Kreis einiger Kinder unserer Großfamilie. Meine Schwester Dorrit sitzt rechts vorn mit der großen Haarschleife, ich sitze als Zweiter von links.


Wir Kinder verwendeten im Spiel die Sprache, die wir gerade zur Verständigung brauchten, mal Deutsch, mal Jiddisch, Lettisch oder Russisch. Außerhalb unserer Nachbarschaft war unsere Kinderwelt allerdings nicht immer rosig – häufig erlebten wir auf dem Weg zur Schule, in der Innenstadt oder am Strand der Ostsee Beleidigungen von Mitmenschen anderer Rassen oder Nationalität. Wenn wir deutsch sprachen, beschimpften sie uns: »Ihr Juden!«

Warum man uns Juden nannte, habe ich als Kind nicht verstanden, da wir doch der baltendeutschen Volksgruppe angehörten. Aber ein Fremder ist und bleibt ein Fremder – zumindest in den Augen mancher Einheimischer. Leider findet man diese Einstellung auch heute noch fast überall in der Welt.    

     
   
Alt-Riga, Lärmstraße, vor dem Zweiten Weltkrieg, im Hintergrund der Pulverturm. Postkartenmotiv.


Bis zur Gründung der Republik Lettland im Jahr 1918 wurde das Land in den Jahrhunderten zuvor immer wieder von verschiedenen Nationen besetzt und verwaltet. Ihre Nachkommen, die im Baltikum blieben, bildten die Volksgruppen. Eine dieser Volksgruppen waren die Baltendeutschen.

Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 28. September 1939 kam es dann zur Umsiedlung der Menschen aus dem Baltikum nach Deutschland, die sich zum Deutschtum bekannten. Auch meine Familie folgte diesem Aufruf, denn es ging gleichzeitig das Gerücht um, die Russen kämen ins Baltikum. Die meisten Erwachsenen hatten die Rote Armee schon während des Ersten Weltkrieges und danach im Baltikum erlebt und zogen es vor, dem Ruf des Führers von Großdeutschland zu folgen. Wer nicht »heim ins Reich« kommen wollte, wurde dann auch prompt bald nach der Besetzung des Baltikums durch die Rote Armee nach Sibirien verbracht.



1939 entstand das letzte Familienfoto in Riga mit meinen Eltern, meiner Schwester Dorrit und mir.



Meinen Eltern ist der Entschluss, mit uns Kindern Lettland zu verlassen und deutsche Staatsbürger zu werden, sicher nicht leicht gefallen. Am 7. November 1939 wurden wir zunächst von Riga über die Ostsee nach Gotenhafen in Deutschland verschifft. Für uns Kinder war die zweitägige Reise auf dem KdF-Schiff »Potsdam« ein bleibendes Erlebnis.




Vor dem Zweiten Weltkrieg. Schiffe im Hafen von Riga, rechts der Dom. Postkartenmotiv.


Die Umsiedlung selbst brachte unserer Familie erhebliche Belastungen. Wir verloren dadurch nicht nur unsere Heimat, sondern auch der Verbund unserer Großfamilie wurde zerrissen. Einzelne Familienmitglieder wurden über ganz Deutschland verstreut, später sogar über die ganze Welt bis nach Russland, Schweden, Iran, Frankreich, Griechenland, England und Kanada. Einige flohen aus Deutschland oder überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht.



1938 meine erste BCL-Radiostation in Riga.


Hitlers Hilfskräfte und Dienstmannschaften brachten es fertig, in 45 Tagen 50.000 Deutschbalten aus Lettland mit ihrem beweglichen Vermögen nach Deutschland umzusiedeln – und über das ganze Land zu verstreuen. Meine Familie brauchte 45 Jahre, um wiederzufinden, was die Umsiedlung in 45 Tagen verlorengehen ließ. Manche Verwandte sind und bleiben für immer verschollen. Heute bestehen nur wenige Kontakte zu Verwandten aus unserer Großfamilie von einst. Die Alten sind fern der Heimat verstorben, die Jungen haben neue Wurzeln geschlagen; ihre Nachkommen haben eine neue Heimat. Durch die Jahre der Trennung sind Verwandte zu Fremden geworden. 

Das gewaltige Vorhaben der Umsiedlung musste damals in nur drei Monaten abgeschlossen werden. An den Grenzen der drei baltischen Republiken standen bereits die Verbände der Roten Armee, um die kleinen Nachbarländer zu besetzen. Wir mussten den Weg über die Ostsee einschlagen. Der Landweg nach Deutschland war infolge des Krieges der Deutschen gegen Polen versperrt.

Wie es ein geheimes Zusatzprotokoll zwischen Hitler und Stalin vorsah, marschierte die UdSSR am 15. Juni 1940 in das Baltikum ein und gliederte die drei Staaten in die Sowjetunion ein. 100.000 Esten und Letten wurden gleich nach Sibirien deportiert. Die meisten Deutsch-Balten entgingen diesem Schicksal durch ihre Umsiedlung.

In unserer angestammten Heimat siedelte die UdSSR konzentriert ab den vierziger Jahren Bürger aus der Sowjetunion an, deren Nachkommen heute das Baltikum als ihre Heimat betrachten. In den fünfzig Jahren Sowjetherrschaft im Baltikum wurde die einheimische Bevölkerung von den Sowjets unterdrückt und wiederholt strafweise auch weiter deportiert. Die Überheblichkeit der Russen ging soweit, dass sie Lettisch als Hundesprache bezeichneten. In den Schulen wurde Russisch gelehrt und die Amtssprache in Lettland wurde Russisch. Dennoch verstanden es die Letten, Lettisch als ihre Sprache zu erhalten – unter anderem durch ihre Lieder. Als am 21. August 1991 Lettland nach vielen Jahren sowjetischer Militärpräsenz seine Unabhängigkeit wieder erlangte, wurde Lettisch wieder zur Amtssprache.

Ein Problem haben die sowjetischen Umsiedlungen allerdings hinterlassen. Über 30 Prozent der 2,7 Millionen Einwohner Lettlands sind heute Russen.


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Ankunft in Großdeutschland

Am 8. November 1939 um die Mittagszeit betrat ich als 11-Jähriger an der Seite meines Großvaters, meiner Eltern sowie meiner Schwester in Gotenhafen den Boden von Großdeutschland. Die Ausschiffung mit unserem Handgepäck wurde vom Deutschlandlied begleitet. Der Empfang war überwältigend. Kinder, Frauen und Männer in bunten Uniformen bereiteten uns einen »großen Bahnhof«. Sie standen mit Hakenkreuzfahnen am Kai und säumten den Weg zu den Hafenhallen. Darin standen weiß gedeckte Tische, zu denen man uns führte. Marschmusik und Lieder erfüllten die Luft.

Alle Ankömmlinge waren begeistert von diesem Empfang – nur mein Opa nicht. Für ihn hatte alles den unangenehmen Beigeschmack der Verführung. Auf dem Weg zu einer der Hallen sagte er zu mir: »Ja, Ivar, bald laufen wir alle in solchen bunten Kleidern herum!« Und das hatte Opa ganz richtig gesehen; schon im Januar 1940 mußte auch ich die Jungvolkuniform tragen.

Die Uniformierten vom Gotenhafener Empfangskomitee hatten uns mit dem deutschen Gruß »Heil Hitler« freundlich empfangen und in eine der geschmückten Hafenhallen geführt. Dort wurde uns Milchreis mit Zucker serviert. Zum Entsetzen meiner Mutter setzte Opa zu seiner nächsten spitzen Bemerkung an: »Ach, seht her – es gibt Zuckerbrot! Aber lasst euch nicht täuschen, die Peitsche folgt bestimmt …« Weiter kam er nicht, da Mutter ihm schnell das Wort abschnitt. Nach dem Essen wurden wir registriert und zur Weiterreise nach Pommern eingeteilt.

Mir fielen die ständigen »Heil-Hitler«-Rufe der Uniformierten auf, deren Sinn ich nicht verstand. »Opa, wann kommt denn der Hitler, nach dem diese Leute ständig rufen?«, fragte ich. Opa lachte und sagte: »Tja, das ist nun auch unser neuer Gruß, in diesem Land sagt man nicht guten Morgen, nicht guten Tag und auch nicht gute Nacht! Du hörst, sie grüßen sich mit Heil Hitler und werfen den rechten Arm hoch. Wenn sie Uniform anhaben, schlagen sie außerdem noch die Hacken zusammen. Aber du lernst das auch noch. Ja, hier ist alles anders, als es in Lettland war. Junge, du musst dich umstellen! Aber lass dich nicht von dem Trubel hier täuschen.« Mit meinen 11 Jahren verstand ich noch nichts von der Politik und ihren Machenschaften. Später fand ich heraus, dass Opa richtig gelegen hatte.   
 
Am späten Nachmittag wurden meine Familie und unsere Verwandten in die schon im Hafengelände stehenden Eisenbahnzüge verladen, und hierbei wurde unsere Großfamilie bereits zerrissen. Auch Opa wurde von uns getrennt. Diese Trennung bezog sich nicht nur auf die Fahrt mit der Bahn; man brachte uns auch in verschiedene Gegenden und an verschiedene Orte. Die Reise ins Ungewisse begann erst gegen Mitternacht, nach Stunden des Wartens im Zug. Nach 20-stündiger Fahrt wurden meine Eltern, meine Schwester und ich mit unserem Handgepäck in Kehrberg/Pommern ausgeladen. Wir unternahmen noch bei Nacht, Kälte, Eis und Schnee einen Fußmarsch von einigen Kilometern bis nach Nipperwiese. 

Mein Opa wurde in Kehrberg untergebracht. Es gelang ihm über das Bürgermeisteramt aus Kehrberg, mit der Stadtverwaltung in Magdeburg in Verbindung zu treten und Aufenthalt für Magdeburg zu erhalten. Denn dort lebte seine Tochter, meine Tante Helga; sie war schon vor uns mit ihrem Mann, einem Reichsdeutschen aus dem Baltikum, ins Reich verzogen. Opa habe ich bis 1945 nur noch zweimal kurz gesehen, und er fehlte mir sehr. Auf alle Fragen, die ich ihm als Kind stellte, wusste Opa immer eine richtige Antwort.

Er war immer schon parteilos gewesen und blieb es auch in der NS- sowie später in der DDR-Zeit. Als selbstständiger Unternehmer und Zeitungsmacher gehörte er auch keiner Gewerkschaft an. Die Entwicklung in der Welt sah er mit den Augen eines Zeitungsmenschen, also anders als die meisten Zeitgenossen. Auch nach meiner Rückkehr aus dem Krieg bekam ich keine Möglichkeit, ihn in der DDR zu besuchen. Er verstarb am 26. Januar 1960 bei seiner Tochter und ihren Kindern in Magdeburg im gesegneten Alter von 90 Jahren. 

In Nipperwiese wurden wir in ein Einfamilienhaus bei einer Familie mit drei Kindern und kleiner Landwirtschaft einquartiert. Die Familie war sehr nett und hilfsbereit, die Leute hatten schon seit Stunden auf uns gewartet. Wir wurden mitten in der Nacht mit einem bäuerlichen Abendbrot empfangen. Wir Kinder verstanden uns von der ersten Stunde an, und auch unter den Erwachsenen entstand eine Freundschaft, die noch bis lange nach dem Krieg hielt. Leider wurden auch diese Leute 1945 aus ihrer Heimat vertrieben, und das kleine Dörfchen Nipperwiese kam zu Polen.

Wir hatten es gut getroffen. Die Familie hatte uns das größte Zimmer in ihrem Haus überlassen und teilte auch ihre Küche mit uns. Es war eine schöne Zeit, die wir bei ihnen in Pommern verbrachten. Meinem Vater wurde Arbeit bei der Reichsbahn in Stettin angewiesen, und er musste dort bleiben; nur seine freien Tage verbrachte er bei uns in Nipperwiese. Meine Mutter war ständig mit der Frage nach dem Verbleib der Verwandten beschäftigt sowie mit Einkaufen, Kochen und Waschen. Wir Kinder, meine Schwester, ich und eine Tochter unserer Wirtsleute, besuchten die Schule im Dorf, die nur eine Klasse hatte. 

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Inhalt »Der Junge aus Riga«

Die Heimat Riga 7
Europakarte mit meiner Odyssee 14
Ankunft in Großdeutschland 15
Dienst im Jungvolk 18
Auf in den Krieg 25
Allein zwischen den Fronten 29
Aufbruch nach Westen 33
»Politisch nicht zuverlässig« 38
Flucht aus der Strafkompanie 44
Überläufer 48
Erneute Flucht 53
Zurück in Deutschland 57
Dokumente 65

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