Die
Heimat Riga
Ankunft
in Großdeutschland
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Die
Heimat Riga
Geboren wurde ich als lettischer Staatsbürger deutscher Nationalität
in einer jüdischen Klinik in Riga in Lettland am Sonntag, dem 28.
Oktober 1928, um 2.30 Uhr. Meine Kindheit verbrachte ich in Riga und
am Ostseestrand von Lettland. Von 1936 bis November 1939 besuchte ich
die 13. Deutsche Grundschule in Riga. Ich wuchs wohlbehütet in
einer Großfamilie mit Tanten, Großeltern und Eltern auf
und hatte eine schöne Kindheit.
Meine Familie und fast alle unsere Verwandten wohnten in der so genannten
Moskauer Vorstadt von Riga. Dort lebten wir nicht nur unter Deutschen,
sondern auch mit Letten, Russen, Juden sowie anderen Nationalitäten
in guter Nachbarschaft zusammen. Die verschiedenen Sprachen und Religionen waren
für uns Kinder in dieser Gemeinschaft kein Problem. Meine Familie
erzog meine Schwester und mich christlich. Aber wir nahmen auch an den
Feiertagen anderer Religionen teil, wie auch unsere andersgläubigen
Freunde unsere Feiertage achteten und sich mit uns freuten.
1938
in Riga im Kreis einiger Kinder unserer Großfamilie. Meine Schwester
Dorrit sitzt rechts vorn mit der großen Haarschleife, ich sitze
als Zweiter von links.
Wir Kinder verwendeten im Spiel die Sprache, die wir gerade zur Verständigung
brauchten, mal Deutsch, mal Jiddisch, Lettisch oder Russisch. Außerhalb
unserer Nachbarschaft war unsere Kinderwelt allerdings nicht immer rosig
häufig erlebten wir auf dem Weg zur Schule, in der Innenstadt
oder am Strand der Ostsee Beleidigungen von Mitmenschen anderer Rassen
oder Nationalität. Wenn wir deutsch sprachen, beschimpften
sie uns: »Ihr Juden!«
Warum man uns Juden nannte, habe ich als Kind nicht verstanden, da wir
doch der baltendeutschen Volksgruppe angehörten. Aber ein Fremder
ist und bleibt ein Fremder zumindest in den Augen mancher Einheimischer.
Leider findet man diese Einstellung auch heute noch fast überall
in der Welt.
Alt-Riga, Lärmstraße, vor dem Zweiten Weltkrieg, im Hintergrund
der Pulverturm. Postkartenmotiv.
Bis
zur Gründung der Republik Lettland im Jahr 1918 wurde das Land
in den Jahrhunderten zuvor immer wieder von verschiedenen Nationen besetzt
und verwaltet. Ihre Nachkommen, die im Baltikum blieben, bildten die
Volksgruppen. Eine dieser Volksgruppen waren die Baltendeutschen.
Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 28. September 1939 kam es dann zur
Umsiedlung der Menschen aus dem Baltikum nach Deutschland, die sich
zum Deutschtum bekannten. Auch meine Familie folgte diesem Aufruf, denn
es ging gleichzeitig das Gerücht um, die Russen kämen ins
Baltikum. Die meisten Erwachsenen hatten die Rote Armee schon während
des Ersten Weltkrieges und danach im Baltikum erlebt und zogen es vor,
dem Ruf des Führers von Großdeutschland zu folgen. Wer nicht
»heim ins Reich« kommen wollte, wurde dann auch prompt bald
nach der Besetzung des Baltikums durch die Rote Armee nach Sibirien
verbracht.
1939 entstand das letzte Familienfoto in Riga mit meinen Eltern,
meiner Schwester Dorrit und mir.
Meinen
Eltern ist der Entschluss, mit uns Kindern Lettland zu verlassen und
deutsche Staatsbürger zu werden, sicher nicht leicht gefallen.
Am 7. November 1939 wurden wir zunächst von Riga über
die Ostsee nach Gotenhafen in Deutschland verschifft. Für uns Kinder
war die zweitägige Reise auf dem KdF-Schiff »Potsdam«
ein bleibendes Erlebnis.
Vor dem Zweiten Weltkrieg. Schiffe im Hafen von Riga, rechts der
Dom. Postkartenmotiv.
Die Umsiedlung selbst brachte unserer Familie erhebliche Belastungen.
Wir verloren dadurch nicht nur unsere Heimat, sondern auch der Verbund
unserer Großfamilie wurde zerrissen. Einzelne Familienmitglieder
wurden über ganz Deutschland verstreut, später sogar über
die ganze Welt bis nach Russland, Schweden, Iran, Frankreich, Griechenland,
England und Kanada. Einige flohen aus Deutschland oder überlebten
den Zweiten Weltkrieg nicht.
1938 meine erste BCL-Radiostation in Riga.
Hitlers Hilfskräfte und Dienstmannschaften brachten es fertig,
in 45 Tagen 50.000 Deutschbalten aus Lettland mit ihrem beweglichen
Vermögen nach Deutschland umzusiedeln und über das
ganze Land zu verstreuen. Meine Familie brauchte 45 Jahre, um wiederzufinden,
was die Umsiedlung in 45 Tagen verlorengehen ließ. Manche Verwandte
sind und bleiben für immer verschollen. Heute bestehen nur wenige
Kontakte zu Verwandten aus unserer Großfamilie von einst. Die
Alten sind fern der Heimat verstorben, die Jungen haben neue Wurzeln
geschlagen; ihre Nachkommen haben eine neue Heimat. Durch die Jahre
der Trennung sind Verwandte zu Fremden geworden.
Das gewaltige Vorhaben der Umsiedlung musste damals in nur drei Monaten
abgeschlossen werden. An den Grenzen der drei baltischen Republiken
standen bereits die Verbände der Roten Armee, um die kleinen Nachbarländer
zu besetzen. Wir mussten den Weg über die Ostsee einschlagen. Der
Landweg nach Deutschland war infolge des Krieges der Deutschen gegen
Polen versperrt.
Wie es ein geheimes Zusatzprotokoll zwischen Hitler und Stalin vorsah,
marschierte die UdSSR am 15. Juni 1940 in das Baltikum ein und gliederte
die drei Staaten in die Sowjetunion ein. 100.000 Esten und Letten wurden
gleich nach Sibirien deportiert. Die meisten Deutsch-Balten entgingen
diesem Schicksal durch ihre Umsiedlung.
In unserer angestammten Heimat siedelte die UdSSR konzentriert ab den
vierziger Jahren Bürger aus der Sowjetunion an, deren Nachkommen
heute das Baltikum als ihre Heimat betrachten. In den fünfzig Jahren
Sowjetherrschaft im Baltikum wurde die einheimische Bevölkerung
von den Sowjets unterdrückt und wiederholt strafweise auch weiter
deportiert. Die Überheblichkeit der Russen ging soweit, dass sie
Lettisch als Hundesprache bezeichneten. In den Schulen wurde Russisch
gelehrt und die Amtssprache in Lettland wurde Russisch. Dennoch verstanden
es die Letten, Lettisch als ihre Sprache zu erhalten unter anderem
durch ihre Lieder. Als am 21. August 1991 Lettland nach vielen Jahren
sowjetischer Militärpräsenz seine Unabhängigkeit wieder
erlangte, wurde Lettisch wieder zur Amtssprache.
Ein Problem haben die sowjetischen Umsiedlungen allerdings hinterlassen.
Über 30 Prozent der 2,7 Millionen Einwohner Lettlands sind heute
Russen.
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Ankunft
in Großdeutschland
Am 8. November 1939 um die Mittagszeit betrat ich als 11-Jähriger
an der Seite meines Großvaters, meiner Eltern sowie meiner Schwester
in Gotenhafen den Boden von Großdeutschland. Die Ausschiffung
mit unserem Handgepäck wurde vom Deutschlandlied begleitet. Der
Empfang war überwältigend. Kinder, Frauen und Männer
in bunten Uniformen bereiteten uns einen »großen Bahnhof«.
Sie standen mit Hakenkreuzfahnen am Kai und säumten den Weg zu
den Hafenhallen. Darin standen weiß gedeckte Tische, zu denen
man uns führte. Marschmusik und Lieder erfüllten die Luft.
Alle Ankömmlinge waren begeistert von diesem Empfang
nur mein Opa nicht. Für ihn hatte alles den unangenehmen Beigeschmack
der Verführung. Auf dem Weg zu einer der Hallen sagte er zu mir:
»Ja, Ivar, bald laufen wir alle in solchen bunten Kleidern herum!« Und
das hatte Opa ganz richtig gesehen; schon im Januar 1940 mußte
auch ich die Jungvolkuniform tragen.
Die Uniformierten vom Gotenhafener Empfangskomitee hatten uns mit dem
deutschen Gruß »Heil Hitler« freundlich empfangen
und in eine der geschmückten Hafenhallen geführt. Dort wurde
uns Milchreis mit Zucker serviert. Zum Entsetzen meiner Mutter setzte
Opa zu seiner nächsten spitzen Bemerkung an: »Ach, seht her
es gibt Zuckerbrot! Aber lasst euch nicht täuschen, die
Peitsche folgt bestimmt
« Weiter kam er nicht, da Mutter
ihm schnell das Wort abschnitt. Nach dem Essen wurden wir registriert
und zur Weiterreise nach Pommern eingeteilt.
Mir fielen die ständigen »Heil-Hitler«-Rufe der Uniformierten
auf, deren Sinn ich nicht verstand. »Opa, wann kommt denn der
Hitler, nach dem diese Leute ständig rufen?«, fragte ich.
Opa lachte und sagte: »Tja, das ist nun auch unser neuer Gruß,
in diesem Land sagt man nicht guten Morgen, nicht guten Tag und auch
nicht gute Nacht! Du hörst, sie grüßen sich mit Heil
Hitler und werfen den rechten Arm hoch. Wenn sie Uniform anhaben, schlagen
sie außerdem noch die Hacken zusammen. Aber du lernst das auch
noch. Ja, hier ist alles anders, als es in Lettland war. Junge, du musst
dich umstellen! Aber lass dich nicht von dem Trubel hier täuschen.«
Mit meinen 11 Jahren verstand ich noch nichts von der Politik und ihren
Machenschaften. Später fand ich heraus, dass Opa richtig gelegen
hatte.
Am späten Nachmittag wurden meine Familie und unsere Verwandten
in die schon im Hafengelände stehenden Eisenbahnzüge verladen,
und hierbei wurde unsere Großfamilie bereits zerrissen. Auch Opa
wurde von uns getrennt. Diese Trennung bezog sich nicht nur auf die
Fahrt mit der Bahn; man brachte uns auch in verschiedene Gegenden und
an verschiedene Orte. Die Reise ins Ungewisse begann erst gegen Mitternacht,
nach Stunden des Wartens im Zug. Nach 20-stündiger Fahrt wurden
meine Eltern, meine Schwester und ich mit unserem Handgepäck in
Kehrberg/Pommern ausgeladen. Wir unternahmen noch bei Nacht, Kälte,
Eis und Schnee einen Fußmarsch von einigen Kilometern bis nach
Nipperwiese.
Mein Opa wurde in Kehrberg untergebracht. Es gelang ihm über das
Bürgermeisteramt aus Kehrberg, mit der Stadtverwaltung in Magdeburg
in Verbindung zu treten und Aufenthalt für Magdeburg zu erhalten.
Denn dort lebte seine Tochter, meine Tante Helga; sie war schon vor
uns mit ihrem Mann, einem Reichsdeutschen aus dem Baltikum, ins Reich
verzogen. Opa habe ich bis 1945 nur noch zweimal kurz gesehen, und er
fehlte mir sehr. Auf alle Fragen, die ich ihm als Kind stellte, wusste
Opa immer eine richtige Antwort.
Er war immer schon parteilos gewesen und blieb es auch in der NS- sowie
später in der DDR-Zeit. Als selbstständiger Unternehmer und
Zeitungsmacher gehörte er auch keiner Gewerkschaft an. Die Entwicklung
in der Welt sah er mit den Augen eines Zeitungsmenschen, also anders
als die meisten Zeitgenossen. Auch nach meiner Rückkehr aus dem
Krieg bekam ich keine Möglichkeit, ihn in der DDR zu besuchen.
Er verstarb am 26. Januar 1960 bei seiner Tochter und ihren Kindern
in Magdeburg im gesegneten Alter von 90 Jahren.
In Nipperwiese wurden wir in ein Einfamilienhaus bei einer Familie mit
drei Kindern und kleiner Landwirtschaft einquartiert. Die Familie war
sehr nett und hilfsbereit, die Leute hatten schon seit Stunden auf uns
gewartet. Wir wurden mitten in der Nacht mit einem bäuerlichen
Abendbrot empfangen. Wir Kinder verstanden uns von der ersten Stunde
an, und auch unter den Erwachsenen entstand eine Freundschaft, die noch
bis lange nach dem Krieg hielt. Leider wurden auch diese Leute 1945
aus ihrer Heimat vertrieben, und das kleine Dörfchen Nipperwiese
kam zu Polen.
Wir hatten es gut getroffen. Die Familie hatte uns das größte
Zimmer in ihrem Haus überlassen und teilte auch ihre Küche
mit uns. Es war eine schöne Zeit, die wir bei ihnen in Pommern
verbrachten. Meinem Vater wurde Arbeit bei der Reichsbahn in Stettin
angewiesen, und er musste dort bleiben; nur seine freien Tage verbrachte
er bei uns in Nipperwiese. Meine Mutter war ständig mit der Frage
nach dem Verbleib der Verwandten beschäftigt sowie mit Einkaufen,
Kochen und Waschen. Wir Kinder, meine Schwester, ich und eine Tochter
unserer Wirtsleute, besuchten die Schule im Dorf, die nur eine Klasse
hatte.
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Inhalt »Der
Junge aus Riga«
Die
Heimat Riga 7
Europakarte mit meiner Odyssee 14
Ankunft in Großdeutschland 15
Dienst im Jungvolk 18
Auf in den Krieg 25
Allein zwischen den Fronten 29
Aufbruch nach Westen 33
»Politisch nicht zuverlässig« 38
Flucht aus der Strafkompanie 44
Überläufer 48
Erneute Flucht 53
Zurück in Deutschland 57
Dokumente 65
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